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Die Denknotwendigkeit im Urteil war also bisher in keiner Weise als eine solche des Sollens, sondern nur als eine des Nicht-anders-Könnens aufzuweisen. Damit aber erwächst eine neue Schwierigkeit, die abermals den kaum noch sichergestellten objektiven Charakter der Urteilsnotwendigkeit zu vernichten droht. Denn gewiss muss es für den ersten Blick Befremden erregen, dass wir, wie im vorausgehenden geschah, die zeitlose formale Wahrheit und damit doch alle Wahrheit überhaupt nirgendanderswo zu begründen wussten als in dem, was irgend ein beliebiges Ichbewusstsein gerade nicht anders zu denken vermag. Damit scheint ja die Denknotwendigkeit nur aus dem subjektiven und historisch zufälligen Unvermögen des empirischen Einzelbewusstseins, gewisse Vorstellungsverbindungen in anderer als der ihm geläufigen Weise zu verbinden, abgeleitet worden zu sein, also vielleicht eine psychologische, gewiss aber keine erkenntniskritische Legitimation zu besitzen.
Hier ist nun der Ort, an welchem die logisch-transzendentale Erörterung sich einem Gesichtspunkte zuwenden muss, der, so wenig er ihr in der Sache selbst gefehlt hat, was ja schon daraus hervorgeht, dass wir auch hier nur an Kant werden anzuknüpfen brauchen, doch in seinem ausdrücklich anzuerkennenden Charakter in der Erkenntniskritik bisher nicht akkreditiert ist: ich meine den sozialen Gesichtspunkt, der unmittelbar über das Einzelbewusstsein hinausführt. Es darf nicht länger übersehen werden, dass auch der soziale Charakter des menschlichen Seins einen Zusammenhang mit der Transzendentalphilosophie hat, das heisst, ebenso in einem transzendentalen Grund seiner Möglichkeit nach für ein Ernennen bestimmt ist, wie der Naturcharakter alles Seins überhaupt. Und dies ist von fundamentaler Bedeutung. Denn nur der Umstand, dass die Möglichkeit alles sozialen Seins ihren Erkenntnisgrund gleichfalls in der theoretischen Philosophie und nicht in der praktischen hat, in welcher er gewöhnlich .gesucht wird, obgleich diese doch das soziale Sein bereits voraussetzen muss und nur dessen richtige Beurteilung zum Gegenstande hat, sichert auch die Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaft in einer trotz der Verschiedenartigkeit ihres Stoffes doch wesensgleichen Art mit der der Naturwissenschaft.
Und es handelt sich dabei nicht etwa um eine neue Entdeckung im Gebiete der Erkenntnistheorie, vielmehr, wie bereits bemerkt, um eine schon lange als zu ihren Grundlehren gehörige Einsicht, von der es nur gilt, unter Festhaltung ihres bisherigen bloss logischen Sinnes zugleich auch die darin enthaltene transzendentale Beziehung auf einen Sozialcharakter des Menschen zu bewusstem Ausdruck zu bringen. Die Lehre vom „Bewusstsein überhaupt“ oder, wie Kant sie bezeichnete, von der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins (synthetische Einheit der Apperzeption) [1] muss nun herangezogen werden, und hier ist es auch Fichte, dessen Begriff des absoluten Ichs zwar sicher nicht überall richtunggebend sein darf, der aber mächtig dazu beigetragen hat, die Herausarbeitung der – wenn dieses Wort zu bilden gestattet ist – transzendental-sozialen Natur alles menschlichen Erkennens zu erleichtern. Von da aus erscheint nun die Denknotwendigkeit in einem neuen Lichte, die ihre Eignung, Träger aller inhaltlichen Wahrheit zu sein, deren sozialer Charakter wiederholt schon betont wurde, bestimmt und jetzt ganz unverkennbar sichtbar werden lässt.
Der Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ ergibt sich als Resultat einer schliesslich unumgänglich gewordenen kritischen Bestimmung des empirischen Ichbegriffes, wenn nämlich die nach dem Grunde der objektiven Gültigkeit unseres Erkennens forschende kritische Analyse endlich bis zur formalen Denknotwendigkeit vorgedrungen ist und sich hier vor den scheinbaren Widerspruch gestellt sieht, von dem wir vorhin ausgingen, dass alle Denknotwendigkeit zuletzt nichts anderes sein sollte als subjektives „Nicht-anders-denken-Können“. Aber dieser Anschein des Seltsamen bleibt doch nur so lange bestehen, solange wir in der ganz naiven Auffassung verharren, die selbst der Materialismus nicht aufrecht zu halten vermag, ohne dass er freilich hernach das Problem des Selbstbewusstseins zu lösen imstande wäre, dass das Ich eine substantielle Persönlichkeit an sich, ein wesenhafter Träger seiner inneren Zustände sei. Dann muss es natürlich ganz und gar unerfindlich werden, wie in aller Welt Vorstellungsverbindungen, die ein solches Einzelwesen zu bilden genötigt ist, einen Anspruch erheben könnten, der über das eigene Denken hinausreichte und mehr wäre als eine blosse Machtbehauptung, – man müsste denn in die nicht auszudenkende Annahme des Solipsismus flüchten, das heisst hier wirklich aus dem Regen in die Traufe geraten.
Demgegenüber tut es aber nur not, sich auf die tiefe kritische Einsicht zu besinnen, die Kant in seiner schon erwähnten Lehre von der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins als einer synthetischen Apperzeption a priori vorgetragen hat, durch welche er in Verbindung mit seiner ebenso grossartigen Kritik des empirischen Ichbegriffes in dem Abschnitte „von den Paralogismen der reinen Vernunft“ aller Erkenntniskritik gerade in ihrem kardinalen Interesse, dem Problem des Selbstbewusstseins, eine Grundlage gegeben hat, die sie wohl als einen unverlierbaren Besitz wird ansehen dürfen. Von ihr aus kann gar nicht mehr übersehen werden, dass auch das empirische Ich nichts anderes ist als eine Erkenntnisweise, näher bestimmt als die Form des Bewusstseins und weit entfernt, uns irgend ein inhaltlich bestimmtes Wesen zu vermitteln, nichts weiter bedeutet als die Zugehörigkeit aller Zustände und Aktionen des Bewusstseins zu einem Subjekt, das ist Beziehungspunkt, in dem sie eben gewusst werden.
Was der Skeptizismus und Relativismus als eine seiner gefürchtetsten Wafien handhabte und woraus auch der moderne Positivismus zum Beispiel Ernst Machs einen grossen Teil seiner Kraft zu den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen“ schöpft (die trotz dieser Bezeichnung auch gegen die Transzendentalphilosophie gerichtet sind), das ist die Kritik an dem Ichbegriff und die Zersetzung der vermeintlichen Beständigkeit und Selbstverständlichkeit seines Inhaltes. Gleichwohl kann man sagen, dass weder die Kritik David Humes noch die Ernst Machs so unerbittlich mit dem substantiellen Charakter des Ichs aufräumt wie gerade die Lehre Kants, die sich im Gegensatze zu jenen anderen Kritikern, denen sonst gar nichts unter ihren Händen geblieben wäre, im Zerstören dessen, was sie in diesem Begriffe als unhaltbar erkennt, nicht sorgsam bescheiden musste, weil sie den eigentlichen Kern des Ichgedankens völlig ausserhalb seines empirischen Inhaltes in einer bloss transzendentalen Beziehung des Bewusstseins auf einen Einheitspunkt gefunden hat. So ergibt sich ihr, dass die Substantialität, Singularität und Identität des Ichs keine Eigenschaften eines Wesens sind, das als solches dann Inhaber des Bewusstseins wäre, sondern lediglich die Formen darstellen, unter denen Bewusstsein überhaupt vorkommt. Wird durch die besonderen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sowie durch die Denkmittel der Kategorien ein Bewusstsein von Gegenständen der Erfahrung möglich, so durch die eigentümliche Einheitsbeziehung, deren empirischer Ausdruck das Ich ist, erst das Bewusstsein selbst. Das Bewusstsein ist daher nicht etwas, was in und von einem mystischen Ich gewusst wird, sondern etwas, das zufolge seiner Einheitsbeziehung und Bewusstheit in ihr nur für seine eigene Anschauung in einem Ich erscheint, – kurz, dieses Ich ist eben die Form des Bewusstseins, „das Ich ist nur das Bewusstsein meines Denkens“. [2]
Der auf den ersten Blick so abgrundtief dräuende Begriff des. „Bewusstseins überhaupt“ ist also auf transzendentaler Grundlage nichts anderes als die kritische Besinnung, die jeden Schritt der Erkenntniskritik begleiten muss, dass auch die Ichheit alles Erkennens noch Bewusstseinsform ist, dass somit das letzte, womit Erkenntniskritik sich wird bescheiden müssen, nicht das individuelle Bewusstein, sondern eben „Bewusstsein überhaupt“ ist, das heisst also das Bewusstsein in jener Gestalt, in welcher seine Zugehörigkeit zu einem empirischen Ich nur ein Merkmal seines Artcharakters ausmacht. Das Einzel-Ich ist dann, vom transzendentalen Standpunkt aus gesehen, nur die Erscheinungsweise, in welcher Bewusstsein überhaupt erlebbar wird. Man sieht sofort: dieser Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ ist weit entfernt von irgend einer metaphysischen Konstruktion, wie etwa dem absoluten Ich Fichtes oder dem absoluten Geist bei Hegel, die sich selber vor aller Erfahrung setzen, damit aus ihnen sich dann im grandiosen Spiel inneren Wirkens die Welt unserer Erfahrung mit samt dem Menschengeiste entfalte. In ihm ist dagegen nicht mehr gesetzt, als schon im empirischen Bewusstsein anzutreffen war, er selbst aber setzt überhaupt nichts, was eben seinen transzendentalen Charakter ausmacht, sondern er bringt bloss das empirische Bewusstsein in eine besondere Beziehung des Denkens, aus welcher der sonst dem Wesen seiner Subjektivität durchaus heterogene Charakter einer Allgemeingültigkeit seiner Erfahrung als unmittelbar begreiflich eingesehen werden kann. Eine metaphysische Verkennung dieses Begriffes, so, als ob er ein formloses, unpersönliches, allbefassendes Welt-Ich bedeuten wolle, ist somit gänzlich ausgeschlossen, sobald man nur acht hat, dass er eben gar nichts anderes besagt, als wie ich das empirische Ich denken muss, wenn ich nun auch noch diese räumlich, zeitlich und individuell gefärbte Ichvorstellung gleicherweise zu den Formen des Bewusstseins rechnen muss, wie Raum, Zeit und Kategorien, – nämlich als ein „Bewusstsein überhaupt“, das nun gar nicht mehr als Substanz zur Erfassung kommt, sondern nur als Denkbestimmung, als ein Grenzwert des Denkens. [3]
Hat man sich erst diesen Begriff auf solche Weise klar gemacht, dann ändert sich der erkenntnistheoretische Charakter des Bewusstseins völlig gegenüber seiner aus dem täglichen Leben gewohnten Auffassung, da er nun auf transzendentalem Gebiete trotz seiner ganz untrennbaren Zugehörigkeit zum Ich gar nichts Persönliches mehr hat. Freilich, solange wir das Ich für ein denkendes, selbständiges Wesen an sich hielten, musste durch die Beziehung auf ein solches alles, was in diese gesetzt wurde, gleichsam isoliert und in ein ausschliessliches Eigentumsverhältnis zu einer Person gebracht sein. Nun aber bedeutet die Ichheit nichts anderes, als dass jede Aktion des Bewusstseins überhaupt, die für mich Erlebnis wird, eben begleitet ist von dem Charakter, mein Bewusstsein zu sein, weil eben nur in dieser Beziehung auf ein Ich Bewusstsein überhaupt besteht. Das Ich ist also nicht mehr Träger des Bewusstseins, sondern es ist die Art, wie Bewusstsein tätig wird.
Dann bedeutet aber der Ausdruck „Ich“ oder „mein Bewusstsein“, „mein Denken“ in erkenntniskritischem Sinne überhaupt nichts Individuelles mehr. „Mein Denken“ ist in dieser Bedeutung des Wortes nicht in dem Sinne mein Denken wie etwa mein Haus, welch letzteres nur mir gehört und sonst niemand anderem. Während also im psychologischen Sinne das Pronomen possessivum auf die Person einschränkt, für welche es ein Objekt in Anspruch nimmt, bedeutet es, sobald es im Zuge einer erkenntniskritischen Erörterung gebraucht wird, überhaupt gar kein Possesivverhältnis mehr, sondern nur die Art, in der eben Bewusstsein ist. Wir sehen also, dass gerade durch den Ichbegriff das Bewusstsein, das Denken, über seine empirische Vereinzelung hinausgreift, indem es sich auf ein Bewusstsein überhaupt bezieht, welches als solches nicht individuell gedacht werden kann, wenn individuell bedeutet: das was nur in einem persönlichen Ich vorgefunden wird. Denn das Bewusstsein wird eben nicht in einem solchen Ich vorgefunden, sondern ist, wo und worin es immer auftreten mag, vom Ich begleitet, da dieses Ich nichts anderes ist, als womit seine Formen, seine Gesetzlichkeit, sein ganzes Getriebe bewusst ist. Alles individuelle Denken hat somit von vornherein eine Beziehung zu einem Denken, das nicht individuell ist, überindividuell, wie Rickert dies nennt; oder besser gesagt, alles individuelle Bewusstsein beruht seiner transzendentalen Möglichkeit nach auf einem Bewusstsein, an dessen über das individuelle Denken hinausreichender allgemeiner Geltung seiner Gesetzlichkeit deshalb nicht gezweifelt werden kann, weil die Eigentümlichkeit, wonach jeder einzelne von seinem Bewusstsein sprechen kann, nicht etwa eine Verschiedenheit von Bewusstseinswesenheiten, sondern nur den dem Bewusstsein eigenen Ausdruck für sein empirisches Dasein überhaupt bedeutet. Gerade also dadurch, dass alle sich auf ihr Bewusstsein berufen und damit doch nur die Art bezeichnen, wie Bewusstsein ist, beziehen sie sich in ihrer Vielheit und Geschiedenheit auf dieselbe Sache, auf die Identität der Formen und Gesetzlichkeit des Bewusstseins überhaupt. Es zeigt sich derart eine prinzipale Dialektik in dieser Grundeinsicht der Erkenntnistheorie: das Ich als der Ausdruck jedes individuellen Bewusstseins ist gleichzeitig auch der Ausdruck eines Bewusstseins, das gattungsmässig ist, das, um eine Lieblingsvorstellung Kants zu gebrauchen, allem denkenden Wesen zukäme. An der Wurzel der Erkenntnistheorie zeigt sich das individuelle Denken als blosser empirischer „Schein“, das heisst, als bloss subjektive, wenn auch unausweichlich notwendige Deutung eines Verhältnisses, auf das die Kategorie des Subjektiven gar nicht mehr angewendet werden kann. Die Denkmittel, durch welche das „Einzel“-bewusstsein seine Welt aufbaut, sind nun von vornherein gar nicht mehr solche, die bloss einem Einzelwesen zugehörig oder einem einzelnen Denken entsprungen wären; sondern gerade, weil sie Denkmittel meines Bewusstseins sind, womit nur auf andere Weise ausgedrückt wird, dass sie Bewusstseinscharakter überhaupt haben, sind sie ebenso Denkmittel jedes anderen Bewusstseins, das sich von seinem Standpunkt aus als „mein Bewusstsein“ erklären muss. Wer diese Denkart festzuhalten weiss – und es muss zugegeben werden, dass dies nicht leicht ist, weil die Ausdrücke „mein“ und „dein“ uns stets wieder verleiten, sie als wahre Possessivpronomina zu gebrauchen – der wird nun auch wie erleichtert aufatmen, wenn er daraus erkennen wird, dass die Frage nach dem fremden Bewusstsein, dieser vera crux der Erkenntnistheorie, gar kein Problem mehr ist; das heisst, dass sie kein Problem gerade der idealistischen Erkenntnistheorie ist, die man so häufig an ihr scheitern lassen wollte [4], sondern von dieser gänzlich und mit Beruhigung der Metaphysik zugeschoben werden kann. Das Dasein des fremden Bewusstseins ist so viel oder so wenig ein Problem als das Dasein eigenen Bewusstseins und der Dinge überhaupt. Sowohl das eigene wie das fremde Bewusstsein erscheinen also in der gleichen Gesetzlichkeit der Aktion des Bewusstseins überhaupt verbunden. Und nur deshalb gewinnt, respektive hat Jedes Einzelbewusstsein schon aus sich heraus immanenten Bezug auf die Allgemeingültigkeit seiner Denkverbindungen. Nicht, wie Windelband öfter meint, tritt die Allgemeingültigkeit erst unter der Annahme einer Vielheit um der Wahrheit willen denkender Individuen als ein neuer Charakterzug zu der Normalität des Denkens hinzu; dann wäre es freilich nicht möglich, die stringente Allgemeingültigkeit der Axiome der Erkenntnis anders als in ein blosses Postulat zu gründen, das die Vielheit der Individuen anerkennen soll – um des erhabenen Zweckes der Wahrheit willen! Nein – die Allgemeingültigkeit des Denkens in seinen Axiomen ist der Charakter der formalen Beschaffenheit des Bewusstseins überhaupt, mit welchem es in jedes Einzelwesen hineinreicht, das von ihm als „seinem“ Bewusstscin spricht. Es steht eben von vornherein jedes Einzelbewusstsein in einem Verhältnis, welches auf eine In-Beziehung-Setzung zu und Uebereinstimmung mit jedem anderen Einzelbewusstsein gerichtet ist. Es ist von vornherein jedes Einzelbewusstsein im Bewusstsein überhaupt sozusagen „vergesellschaftet.“ Oder anders ausgedrückt: die wirkliche als notwendig erkannte Uebereinstimmung der individuellen Urteile wie auch nur die durchgängige Forderung der Allgemeingültigkeit der Axiome des Denkens im Verkehre der Menschen wäre selbst gar nicht möglich, ohne eine solche ihr vorausgehende Verbundenheit aller einzelnen Bewusstseinssphären in ihrer formalen Aktion,
1. Vergl. Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Reclam, Seite 118 ff., I. Auflage, und Seite 659, 2. Auflage.
2. Vergl. Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Reclam, Seite 690.
3. In solchem, jede metaphysische Deutung absolut ausschliessenden Sinne will nun auch H. Rickert auf das „Bewusstsein überhaupt“ zurückgehen, um seine teleologische Urteilstheorie, die er, wie wir wissen, bis zu der Lehre vom transzendenten Sollen fortgeführt hat, nun mit jenem Begriff als dem Träger dieses Sollens zum Abschluss zu bringen. (Vergl. seine Schrift Der Gegenstand der Erkenntnis, Kap. XVII.) Allein so glänzend gerade er es verstanden hat, den lediglich transzendentalen Charakter der Vorstellung vom „Bewusstsein überhaupt“ auseinanderzusetzen, so wird er doch zuletzt durch die seltsame Verquickung des Ethischen mit dem Logischen in seinem Ausgangspunkte zu Folgerungen getrieben, die in einer Art Fanatismus der Paradoxie zum äussersten Ende geführt werden, an welchem sie aus dem bei Kant so vorsichtig eingeführten und nach allen Anforderungen positivistischer Denkökonomie mit bewusster Autarkie gebildeten Hilfsbegriff des „Bewusstseins überhaupt“ einen hilfsbereiten Gott, einen wahren deus ex machina der in Not geratenen teleologischen Urteilstheorie machen. Das transzendente Sollen kann nämlich in seiner für das Urteil unbedingt nötigen Objektivität, so dass wir uns also in jedem Urteilsakte geradezu von ihm abhängig und bestimmt finden, nur dadurch sichergestellt werden, dass es eben in einem Bewusstsein überhaupt aufgezeigt wird. Eine solche Annahme aber sei nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig, weil wir uns das „Bewusstsein überhaupt“ gar nicht anders wie als urteilendes Bewusstsein denken können. Denn da ein Bewusstsein ohne einen Inhalt zu denken unmöglich ist, muss auch das Bewusstsein überhaupt einen solchen haben, den Bewusstseinsinhalt überhaupt, welcher also als in ihm seiend gedacht wird. Nun ist aber Sein nur als Urteilsprädikat erfassbar und ist somit der Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ identisch mit dem Begriff des als seiend Beurteilten überhaupt. Die letzte Abstraktion, bis zu der wir vordringen müssen, ist also der Begriff eines urteilenden Bewusstseins überhaupt, welches ein Seiendes bejaht, anerkennt, also auf ein ihm inhärentes Sollen bezieht, wodurch allererst ein Bewusstseinsinhalt überhaupt möglich wird. Und so besteht „Bewusstsein überhaupt“ nach seiner logischen Funktion nur als transzendentes Sollen. – Ich glaube, es spricht unmittelbar für sich selbst, in welch ganz anderem und seinen transzendentalen Charakter direkt überschreitenden Sinn hier der Begriff vom „Bewusstsein überhaupt“ verwendet wird, und wie er überdies oder vielleicht eben deshalb auch gar nicht das zu leisten vermag, was er soll, nämlich die letzte Begründung der teleologischen Urteilstheorie zu geben. Denn vor allem kann er eine wirkliche Begründung für sie gar nicht sein, weil er nur die Wiederholung des bereits im urteilenden Einzelbewusstseins vorliegenden Problems enthält. Das Sollen war ja als (vermeintliches) Charaktermerkmal des einzelnen Urteils angetroffen worden, nur um sich objektiv gültig gebärden zu können, verlangte es nach seinem Bestände auch in einem Bewusstsein überhaupt. Allein in diesem, solange es nicht zur metaphysischen Konstruktion verwandelt wird, kann nichts mehr und nichts anderes angetroffen werden, als in jedem individuellen Bewusstsein zu finden ist. Nun war, wie wir gesehen haben, gerade für dieses der logische, also wesentliche Charakter des Urteils als Anerkennen oder Verwerfen so fraglich geworden, dass wir sogar die Prädizierung als die eigentliche Grundform des Urteils ansehen konnten. Wovon also problematisch geblieben ist, ob es im individuellen Bewusstsein bestehe, wird dadurch nicht anders, wenn ich nun sage, dass es im Bewusstsein überhaupt bestehe; was sich der logischen Analyse nicht zugänglich erwiesen hat, ein Anerkennen oder Verwerfen in der logischen Sphäre des Urteilsaktes selbst, wird dadurch nicht eher erwiesen, dass es in eine unzugängliche Sphäre überhaupt verlegt wird. Das ist eben der sich der Metaphysik nähernde Gebrauch des Begriffes vom „Bewusstsein überhaupt“ bei Rickert, dass er nicht mehr nur darauf ausgeht, das was in jedem individuellen Bewusstsein vorkommt, bloss in einer besonderen Beziehung aufzufassen, in welcher lediglich zur Betrachtung kommt, inwiefern es möglich ist, dass das Einzelbewusstsein trotz seiner individuellen Beschränkung ein Bewusstsein der Allgemeingültigkeit bei sich führe. Sondern hier wird darüber hinaus in diesem blossen Relationsbegriffe auch noch ein Inhalt gesetzt, ein absoluter Wahrheitszweck, ein Wille zur Wahrheit nicht etwa als bloss ethische Spezialisierung des Willens zum Sittlichen, sondern als logischer Charakter des Erkennens selbst, womit ein Element in die teleologische Urteilstheorie aufgenommen wird, das nicht nur schon jeder logischen Analyse, die ihren Standpunkt unverrückt festhält, ewig transzendent wird bleiben müssen, sondern vollends auf erkenntniskritischem Boden als fremd, weil nur als eine ontologische Annahme, wird betrachtet werden können. Die sittliche absolute Zwecksetzung in einem moralischen Bewusstsein überhaupt (Autonomie des Willens) ist keine metaphysische Konstruktion, weil sie nur die transzendentale Begründung des bereits im individuellen sittlichen Bewusstsein enthaltenen praktischen Tatbestandes ist, der überall sich nur als Zwecksetzung erfassen lässt und den sie erst seiner Möglichkeit nach darlegt. Dagegen bedeutet eine gleiche absolute Zwecksetzung im eigenen Bereiche der logischen Sphäre nur entweder eine Vergewaltigung ihres Tatbestandes zugunsten einer metaphysischen Annahme oder aber ein Verlaufen ihrer Grenzen und ihres Standpunktes in das praktische Gebiet, was wir denn auch wiederholt schon bei der teleologischen Auffassung tatsächlich konstatieren konnten und noch weiterhin bestätigt finden werden.
4. Vergl. Wilh. Jerusalem, Die Urteilsfunktion, Seite 231.
Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020