O.B.

Die Arbeiterbibliothek

Das sozialdemokratische Programm

(November 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 2. Heft 2, November 1907, S. 95–96.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wer die moderne Arbeiterbewegung und den modernen Sozialismus studieren will, muss zunächst das Programm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei kennen und verstehen. Die österreichische Sozialdemokratie hat die Grundsätze ihres Handelns zum erstenmal im Jahre 1889 auf dem Parteitag in Hainfeld zu einem Programm zusammengefasst; die drei von diesem Parteitag beschlossenen Resolutionen (die »Prinzipienerklärung«, die Resolution über die politischen Rechte und die über die Arbeiterschutzgesetzgebung und »Sozialreform«) nennen wir das Hainfelder Programm. Auf dem Gesamtparteitag der österreichischen Sozialdemokratie, der im Jahre 1901 in Wien tagte, wurden die Hainfelder Resolutionen durch eine vollkommene Zusammenfassung der sozialdemokratischen Grundsätze ersetzt. Dieses Programm (das »Wiener Programm«) gilt noch heute: der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Oesterreich kann nur angehören, wer sich zu den Grundsätzen dieses Programms bekennt und ihnen gemäss handelt. Das Programm ist durch die Wiener Volksbuchhandlung (Wien, VI., Gumpen-dorferstrasse 18) zum Preise von 2 h zu beziehen; man findet es auch in den Protokollen aller österreichischen Parteitage. Im Gedankengang und Aufbau ähnelt es den Programmen der sozialdemokratischen Parteien anderer Länder, insbesondere dem Programm der Deutschen Sozialdemokratie, welches im Jahre 1891 auf dem Parteitag in Erfurt beschlossen wurde. (Erfurter Programm)

Die meisten sozialdemokratischen Programme, auch das Wiener und das Erfurter, bestehen aus zwei Teilen: der erste Teil, die »Prinzipienerklärung«, stellt im groben Umriss dar, wie der Kapitalismus unvermeidlich den Klassenkampf zwischen der Arbeiterklasse und den besitzenden Klassen, die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, die Ueberführung der Arbeitsmittel aus dem Eigentum der Kapitalisten in das Eigentum der Gesellschaft herbeiführt. Der zweite Teil des Programms – die Gegenwartsforderungen, das »Minimalprogramm« – fasst die wichtigsten Forderungen zusammen, welche die Sozialdemokratie heute schon stellen muss, um die Arbeiterklasse kampffähig zu machen und zur Erfüllung ihrer grossen geschichtlichen Aufgabe zu erziehen.

Das sozialdemokratische Programm ist der Niederschlag langer Denkarbeit, das letzte Ergebnis eines grossen und wohlgegliederten Gedankensystems; es ist daher nicht ganz leicht zu verstehen. Aber es stehen uns viele treffliche Erläuterungsschriften zur Verfügung, die wohl geeignet sind, jedermann das volle Verständnis unseres Programms zu erschliessen. Zwar können wir dem Leser keine Erläuterungsschrift zu unserem Wiener Programm nennen; aber da die Grundsätze des Wiener Programms mit denen des Parteiprogramms unserer reichsdeutschen Genossen identisch sind, können die Erläuterungsschriften zum Erfurter Programm auch als Erklärungen unseres österreichischen Parteiprogramms verwendet werden.

Wer unser Parteiprogramm verstehen lernen will, wird am besten zunächst zu der von Adolf Braun herausgegebenen Broschüre Ziele und Wege (Berlin, Verlag Vorwärts, 1905, Preis 24 h) greifen, an der ausser dem Herausgeber auch die Genossen Lindemann, Süssheim, Stampfer und die Genossin Zetkin mitgearbeitet haben. Das Schriftchen enthält eine kurze und leicht verständliche Erläuterung unserer Gegenwartsforderungen. Eine treffliche Einführung in die in unserer Prinzipienerklärung zusammengefassten Gedankenreihen enthält die weitverbreitete Broschüre Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie von Karl Kautsky und Bruno Schönlank. (Vierte Auflage. Berlin, Verlag Vorwärts, 1906, Preis 12 h.)

Wer diese beiden Broschüren gelesen hat, kann sich dann an eine ausführlichere und gründlichere Erläuterung des Parteiprogramms heranwagen. Eine solche gibt Karl Kautsky in seinem Buch Das Erfurter Programm. (Achte, wesentlich verbesserte Auflage, Stuttgart, Verlag J. H. W. Dietz, 1907, Preis K 2,40.) Das Buch gehört zu den klassischen Schriften des Sozialismus. Das Studium dieser Schrift ist für jeden, der unser Parteiprogramm verstehen will, unerlässlich.

Das sozialdemokratische Programm ist nicht die Erfindung eines einzelnen Mannes, auch nicht nur der Beschluss eines Parteitages, sondern das letzte Ergebnis langer wissenschaftlicher Arbeit. Will man es gänzlich verstehen, so muss man die klassischen Schriften der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus studieren. Man beginnt dieses Studium am zweckmässigsten mit der Lektüre der berühmten Rede Ferdinand Lassalles über Das Arbeiterprogramm. (Berlin, Verlag Vorwärts, 1907, Preis 36 h.) Diese Rede zeigt uns die Bewegung der Arbeiterklasse in einem grossen historischen Zusammenhänge; sie zeigt, wie die feudale Gesellschaft des Mittelalters von der bürgerlich-kapitalistischen abgelöst wurde und wie diese wieder von der werdenden Gesellschaft, deren Trägerin die Arbeiterklasse ist, abgelöst werden wird.

Hat die Rede Lassalles unseren historischen Blick geschärft, dann können wir es wagen, die »Geburtsurkunde des modernen Sozialismus«, die gemeinsame Quelle aller sozialdemokratischen Programme, zu lesen, das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. (Berlin, Verlag Vorwärts, 1906, Preis 24 h.) Wir lesen vom Kommunistischen Manifest zunächst folgende Abschnitte: I (Bourgeois und Proletarier), II (Proletarier und Kommunisten) und IV (Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien.)

Der dritte Abschnitt des Kommunistischen Manifests (Sozialistische und kommunistische Literatur) macht uns grössere Schwierigkeiten, da er geschichtliche Vorkenntnisse voraussetzt. Hier setzen sich ja Marx und Engels mit den Lehren und Anschauungen älterer Sozialisten auseinander. Zum besseren Verständnis dieses Abschnittes lesen wir die kleine Schrift von Friedrich Engels über Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. (Berlin, Verlag Vorwärts, 1907, Preis 48 h.) Sie zeigt uns, wie der durch das Kommunistische Manifest begründete wissenschaftliche Sozialismus auf dem Boden erwachsen ist, den einerseits die Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie und andererseits die kritischen Leistungen des älteren utopistischen Sozialismus urbar gemacht haben; so lehrt sie uns die historischen Wurzeln, aber auch die unterscheidende Eigenart des von Marx begründeten proletarischen Sozialismus kennen.

Das Verständnis der von uns genannten Schriften von Marx, Lassalle und Engels setzt die genauere Kenntnis ihrer Entstehungszeit voraus. Den Weg hierzu erschliesst uns Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie von Franz Mehring. (Stuttgart, Verlag J. H. W. Dietz, 1906, Preis 24 K.)

Zum ersten Studium der sozialdemokratischen Gedankenwelt werden die von uns genannten Schriften genügen. Wer tiefer eindringen will, wird freilich nochfleissige Arbeit aus verschiedenen Wissensgebieten nicht scheuen dürfen. Den Weg hierzu wollen wir ihm in den folgenden Heften unserer Zeitschrift weisen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024