Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


III. Der Nationalitätenstaat


§ 16. Österreich als deutscher Staat


Der österreichische Staat ist ein Erzeugnis jener großen Bewegung, die Deutschlands Bauernsöhne von der heimatlichen Scholle, wo immer enger Bauernhaus an Bauernhaus sich drängte, hinwegführte nach dem Nordosten und Südosten. Der österreichische Staat ist die spät gereifte Frucht der südöstlichen, wie der preußische Staat ein Erzeugnis der nordöstlichen Kolonisation.

Die deutsche Kolonisation auf dem Boden des heutigen Österreich trägt verschiedenartigen Charakter: die Besiedlung der heute deutschen Alpenländer bietet ein anderes Bild als die Unterwerfung windischer Bauern im Süden unter deutsche Grundherren und wiederum ein anderes als das Eindringen deutschen Wesens in Böhmen, Polen und Ungarn.

Auch die bajuvarischen Kolonisten, die die Alpenländer besiedelten, fanden kein völlig menschenleeres Land. Von den Bewohnern der römischen Provinzen Rhätien, Noricum und Pannonien, überwiegend wohl romanisierten Kelten, hatten gewiss nicht wenige die Stürme der Völkerwanderung überdauert, überdies aber waren nach dem Abzüge der Langobarden aus Pannonien slavische Völkerschaften eingewandert, denen allein schließlich der ursprünglich allslavische Name der Wenden oder Slovenen geblieben ist. Einen großen Teil der heute deutschen Alpenländer hatten sie besiedelt: in Tirol Sassen sie im Pustertale bis in die Gegend zwischen Sillian und Lienz, im Salzburgischen im Gasteiner Tale und südlich von Radstadt, in den Tälern der Krems und Steyr erhielten sie sich bis in das 11. Jahrhundert. [1]

Aber die dünngesäte keltoromanische und slavische Bevölkerung konnte die reichen Länder nicht behaupten. Ohne Widerstand zu finden, beginnen die deutschen Bauern das Land zu besiedeln: Bajuvarier in großer Zahl, neben ihnen aber auch Franken, Schwaben, Sachsen. Allmählich überfluten die Kolonisten die keltischen und slavischen Bewohner; die älteren Ansiedler nehmen die höhere germanische Kultur an, gehen in den Deutschen auf. Das Christentum, von den deutschen Bistümern Passau und Salzburg aus gepredigt, wird auch hier zum Mittel, die fremde Bevölkerung deutschem Wesen zu gewinnen. In wenigen Jahrhunderten ist hier die keltoromanische wie die slavische Nationalität völlig verschwunden.

Aber nur dort, wo das Land nur sehr dünn von den Wenden besiedelt worden war, sind die Slaven völlig im deutschen Volke aufgegangen; anders dort, wo sie eng aneinandergesiedelt waren. Die Slovenen waren in die Alpenländern von Pannonien aus durch die Flusstäler eingedrungen; je weiter sie die Täler hinaufstiegen, desto dünner wurde ihre Siedlung. Umgekehrt drangen die Deutschen von Nordwesten her ein; ihre Stoßkraft war am Oberlauf der zur Donau fließenden Ströme am stärksten, wurde gegen Süden immer schwächer. So erhielten sich die Slaven im Südosten am besten. Je weiter wir nach Nordwesten sehen, desto vollständiger wird der Sieg deutschen Wesens. Noch heute sprechen die Zahlen der Volkszählung eine deutliche Sprache: aus Tirol. Salzburg, Oberösterreich sind die Slovenen gänzlich verschwunden; in Kärnten bilden sie 25,08 %, in Steiermark schon 31,18 %, endlich in Krain 94,24 % der Bevölkerung.

Aber auch dort, wo die Slaven in größeren Massen nahe aneinandersaßen, drang die deutsche Kolonisation ein; wo der Bauer nicht deutsch wurde, kam doch der windische Bauer unter die Botmäßigkeit deutscher Grundherren. Mit den Avarenkriegen Karls des Großen beginnt diese Entwicklung. 795 wird zuletzt ein slavischer Herzog von Karantanien genannt fortan herrschen bayerische Herzoge über das Land. Gewaltige Ländereien fallen jetzt in die Hand der Krone: sie verleiht und verschenkt sie an Klöster und Stifter, an weltliche Große, an königliche und geistliche Ministerialen; die neuen Herren ziehen deutsche Kolonisten in das Land und begründen deutsche Grundherrschaften. Um 811 scheidet Karl der Große die Grenzen der Erzdiözesen Passau und Aquileja; die Drau wird zur Grenze der deutschen Kirche und damit zur Grenze germanisierender Wirkung der christlichen Mission und der Kolonisationstätigkeit deutscher Stifter. 820 erheben sich die Slaven gegen den deutschen Druck; aber sie werden niedergeschlagen, der einheimische Adel wird seines Landes beraubt und durch deutsche Edle ersetzt. Fortan ist auch der slavische Bauer deutschen Grundherren unterworfen. Im slavischen Lande wird die grundherrliche Kultur deutsch: so nehmen auch die Reste des einheimischen Adels deutsche Sprache und Gesittung an und gehen allmählich in der deutschen Grundherrenklasse auf. Heute noch ist in Krain der Großgrundbesitzer deutsch, der Bauer slavisch; vor wenigen Jahrzehnten noch bedeutete die Herrschaft des Adels im Lande Herrschaft von Deutschen über Slaven.

Wir wissen aus unserer Geschichte der deutschen Nation, dass im Zeitalter der Grundherrschaft die einigende nationale Kultur eine Kultur der Grundherren war. Hier stoßen wir nun auf ein Volk, das die Klasse entbehrte, die in jener Zeit allein nationale Kultur schaffen und weiterentwickeln konnte. An den Wenden können wir, was wir damals behauptet, gleichsam experimentell beweisen. Hier haben wir ein Volk, dem jene Klasse nicht angehört, die in jener Zeit allein Trägerin der nationalen Kultur sein konnte. Und in der Tat! An der ganzen Kultur der feudalen Epoche hatten die Slovenen keinen Teil. Die slovenischen Bauern bildeten gar keine nationale Kulturgemeinschaft, sondern nur enge örtliche Gemeinschaften; was die windischen Dörfer einte, war nicht das Entstehen und die fortwährende Weiterentwicklung einer nationalen Kultur, sondern nur die Tatsache, dass in der dürftigen Kulturgemeinschaft der Bauern jedes Dorfes sich jene Elemente träge von Geschlecht zu Geschlecht weiter vererbten, die ihnen allen vom slavischen Stammvolke überliefert waren. Wie verschieden ist aber diese, von örtlich verschiedener Sonderbildung mehr und mehr überdeckte Gemeinsamkeit Von der starken Kraft nationaler Einheitsentwicklung, von dem lebhaft pulsierenden nationalen Kulturleben der großen Nationen, denen die Grundherrenklasse angehörte! Man hat solche Nationen als geschichtslose Nationen bezeichnet und wir wollen diesen Ausdruck beibehalten; aber er bedeutet nicht, dass solche Nationen niemals eine Geschichte gehabt hätten – denn die Wenden hatten eine Geschichte bis 820 – auch nicht, dass solche Nationen, wie noch Friedrich Engels im Jahre 1848 geglaubt hat, zu geschichtlichem Leben überhaupt nicht fähig wären, geschichtliches Leben nie mehr erlangen könnten – denn diese Meinung ist durch die Geschichte des 19. Jahrhunderts endgültig widerlegt. Geschichtslos nennen wir diese Nationen vielmehr nur darum, weil ihre nationale Kultur in jenem Zeitalter, in dem bloß die herrschenden Klassen die Träger einer solchen Kultur waren, keine Geschichte, keine Weiterentwicklung kennt.

Ein volles Jahrtausend lang tragen die Wenden den Charakter einer geschichtslosen Nation. Wohl hat auch auf sie jene Verbreiterung der Kulturgemeinschaft, die der Frühkapitalismus und die in seinem Gefolge auftretende politische, religiöse und moralische Umwälzung dem deutschen Volke gebracht, eingewirkt. Im Zeitalter der Reformation sehen wir Anfänge einer slovenischen Literatur; die Bibel und viele Erbauungsschriften werden in das Wendische übersetzt. Die slovenischen Bauern erheben sich zum großen Bauernkriege um die starä pravda, um das alte Recht. Aber dieselben Ursachen, die in Deutschland den Kreis der Kulturgenossen bald verengerten – die Verschiebung der Welthandelswege, kriegerische Umwälzungen, die Gegenreformation – machen auch hier dem kurzen nationalen Aufschwung bald ein Ende. Der windische Bauer sinkt wieder zurück zu kulturlosem Dasein und erst das iq. Jahrhundert, erst der Kapitalismus, der moderne Staat mit der Befreiung der Bauern vom grundherrlichen Joch, mit Selbstverwaltung, Schule und allgemeiner Wehrpflicht hat die slovenische Nation aus ihrem Schlafe erweckt, hat sie auf die Bühne der Geschichte geführt, hat auch für sie die Möglichkeit geschaffen, die Massen durch eine eigene lebendige Kultur zur Nation zusammenzuschließen. Im Zeitalter der Grundherrschaft aber bestand diese Möglichkeit nicht: der Slovene war Bauer und der Bauer interessiert den Grundherrn nur, sofern er durch seine Fronarbeit und durch seine Abgaben die Kultur der Grundherrenklasse möglich macht; die Nationalität des Bauern ist ihr gleichgültig. So konnte die deutsche Grundherrenklasse im Süden geradeso aus der Arbeit slavischer Bauern ihre Nahrung ziehen, wie sie anderwärts aus der Arbeit deutscher, wie sie in Livland beispielsweise aus der Arbeit lettischer Bauern ihre Nahrung gezogen hat. Für das geschichtliche Leben des Mittelalters waren Kärnten, Steiermark, Krain reindeutsche Länder.

Ganz anders als im Südosten hat die große deutsche Kolonisationsbewegung in den nationalen Staaten an der Grenze des Deutschen Reiches, in Böhmen, Polen und Ungarn, gewirkt. Hier hat das Deutschtum die einheimische Nationalität nicht aufgesaugt und nicht geknechtet, wohl aber ist es in den Körper des nationalen Staates eingedrungen und hat in ihm mannigfache Veränderungen hervorgerufen.

In Böhmen dringen die Deutschen als Bürger, als Bauern und als Bergknappen ein. Die städtische Kolonisation wurde von den böhmischen Königen bewusst gefördert: auch sie erkannten, welche neue Macht dem Königtum aus der Warenproduktion erwachsen konnte, und da die Entwicklung der Warenproduktion und Warenzirkulation in Deutschland der böhmischen Entwicklung vorausgeeilt war, verpflanzten sie deutsche Kaufleute und Handwerker nach Böhmen. Die deutschen Bürger traten entweder in schon bestehende Gemeinden ein oder sie gründeten neue Städte. Schon im 11. Jahrhundert bestand in Prag eine deutsche Gemeinde. Im 13. Jahrhundert erlangen viele deutsche Städte königliche Freiheitsbriefe. Neuen Aufschwung nahm das deutsche Städtewesen in Böhmen mit dem Aufblühen des Bergbaues, deutsche Bergknappen wurden herbeigerufen und gründeten eine Anzahl rein deutscher Städte. Im 14. Jahrhundert waren die reicheren Bürger. Kaufleute und die vornehmeren Handwerker fast durchwegs deutsch, während die anderen Handwerker, die Bauern, das städtische Proletariat überwiegend tschechisch waren. Den Rat der Städte hatten fast durchwegs Deutsche in der Hand. Ihr Reichtum und ihre Privilegien gaben ihnen gewaltige Macht: sie beherrschten die Universität; die Pfründen in den Kapiteln, die Bistümer und Klöster waren in der Hand von Deutschen, während nur armselige Pfarrstellen den Tschechen überlassen blieben. Anschaulich, wenn auch vielleicht nicht ohne Übertreibung schildert eine hussitische Streitschrift aus dem Jahre 1437 die soziale Stellung, die das deutsche Bürgertum in Böhmen seinem Reichtum dankte:

„Wer waren in allen königlichen Städten Böhmens die Bürgermeister und Ratsherren? Deutsche. Wer die Richter? Deutsche. Wo predigte man den Deutschen? In den Hauptkirchen. Wo den Böhmen? Auf den Kirchhöfen und in den Häusern.“ [2]

Neben der bürgerlichen steht die bäuerliche Kolonisation der Deutschen in Böhmen. Seit dem 12. Jahrhundert siedeln sich deutsche Bauern in den Randgebieten Böhmens an, roden die Wildnis und gründen deutsche Freidörfer und Märkte oder aber es weisen ihnen die böhmischen Könige inmitten der slavischen Bevölkerung Land an, so zum Beispiel Ottokar II. in den Gegenden von Saaz und Elbogen.

Aber auch der böhmische Königshof und der böhmische Adel unterliegt deutschem Einfluss. Die hochentwickelte Kultur der deutschen Grundherrenklasse war den Böhmen geradeso Vorbild wie etwa den deutschen Höfen des 17. Jahrhunderts der Hof der französischen Könige. Die Premysliden hatten deutsche Fürstentöchter zu Frauen und Müttern, sprachen deutsch, deutsche Dichter, wie Reimar der Zweter, der Tannhuser, Ulrich von Türlin, weilten an ihrem Hofe; das böhmische Rittertum ahmte deutsche ritterliche Sitten nach, bediente sich deutscher Namen, liebte die deutsche ritterliche Kunst.

Weit weniger stark war der deutsche Kultureinfluss in Ungarn und Polen. Immerhin haben wir auch in Ungarn alle Formen der deutschen Kolonisation: seit dem 12. Jahrhundert siedeln sich sächsische Bauern in Siebenbürgen an; ihnen folgen, insbesondere nach dem großen Mongoleneinfall, deutsche Bürger und deutsche Bergknappen. In Polen überwiegt die bürgerliche Kolonisation. Alle großen, die Mehrzahl der kleinen Städte hatten deutsche Bevölkerung und deutsches Recht.

Das Eindringen deutscher Kultur in alle diese Länder hat sie kulturell einander und dem Deutschen Reiche genähert. So war die Möglichkeit ihrer Vereinigung zu einem großen Staatswesen erst gegeben. Dass diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wurde, ist aus der inneren Entwicklung des Deutschen Reiches zu erklären.

Wir haben bereits, als wir die Entwicklung des modernen, auf der Warenproduktion beruhenden Staates in Deutschland zu erklären suchten, davon gesprochen, wie es zur Aufgabe des deutschen Königtums wurde, sich eine Hausmacht zu schaffen, auf deren militärische Gewalt gestützt, es das Reich zum Staate hätte entwickeln können. Wir sahen, wie die Hohenstaufen in dem hochentwickelten Italien sich einen modernen Staat zu schaffen suchten, der zur Grundlage ihrer Macht im Reiche hätte werden können. Aber dieses kühne Streben endete bekanntlich mit einer furchtbaren Niederlage. Umsonst hatten die Hohenstaufen die alten königlichen Rechte in Deutschland schmälern wollen, um die Bundesgenossenschaft deutscher Fürsten für ihre italienische Politik zu gewinnen: mit Friedrich II. endete der letzte Versuch, die alte römische Kaiseridee zur Stütze deutscher Königsmacht zu machen. Der kühne Plan der Hohenstaufen war misslungen, aber der Zweck, dem er gedient, musste notwendig von jedem deutschen König erstrebt werden. Auf dem alten, in eine Unzahl Fürstentümer zerrissenen Reichsboden konnte die Gründung eines mächtigen Staates nicht gelingen, der die Grundlage der königlichen Gewalt hätte sein können. So wies denn alles die deutschen Könige auf das Kolonialgebiet. Vom Sturze der hohenstaufischen Politik an lag das Schwergewicht des Deutschen Reiches auf Kolonialboden und liegt dort noch heute.

Diese Verlegung des Schwerpunktes des Reiches war keineswegs überraschend. Kulturell hatte sich das Kolonialland dem Mutterlande längst angepasst, ja hatte es vielleicht überflügelt. Die erste Blütezeit unserer Literatur zieht bereits köstliche Ernte aus dem Boden, den Jahrhunderte zuvor deutsche Kolonisten besiedelten. Aber viel bedeutsamer noch wurde die politische Überlegenheit des Koloniallandes. Von Anfang an erstreckt sich die Macht der Fürsten auf kolonialem Boden über weitere Gebiete als im Mutterlande. Zunächst wohl aus demselben Grunde, warum auch die Bauernhufe im Koloniallande größer ist, dann auch deshalb, weil die Fürsten des Koloniallandes als Hüter der Reichsmark größerer Macht nicht entraten können. Und diese Macht wird nicht wie im Mutterlande durch zahlreiche Immunitäten durchbrochen. Mächtig gebieten die Herzoge von Österreich über die Kirche ihres Landes, reich sind ihre Finanzen, zahlreiche Ministerialen und unter diesen noch eine unfreie Ritterschaft sind ihnen Untertan. Schon zu Friedrich Barbarossas Zeiten erscheinen sie unter den mächtigsten Fürsten des Reiches. Dieser starken Macht sich zu versichern, erscheint bald als ein verlockendes Ziel. Während des Zwischenreiches vereinigt zum ersten Mal Premysl Ottokar II. die österreichischen Lande mit Böhmen und wird dadurch der mächtigste Fürst des Reiches. Von diesen Tagen an ist es klar, dass in der Schaffung des großen Kolonialreiches durch Vereinigung Österreichs mit Böhmen, vielleicht auch mit Ungarn, die Zukunft Deutschlands liegt: wer diese starken Gewalten zu vereinigen weiß, dem winkt die deutsche Königskrone, der darf vielleicht hoffen, die fast selbständig gewordenen Fürsten des Reiches niederzuwerfen und der deutschen Königswürde neuen Inhalt zu geben. Nach der Niederwerfung des Premysliden fassen die Habsburger dieses Ziel ins Auge: sie setzen sich in Österreich fest und mit zäher Beharrlichkeit streben sie nach Vermehrung ihres Länderbesitzes, um das große Kolonialreich zu schaffen, das ihre Herrschaft über Deutschland sichern soll. Wenig später stellt sich ein anderes Fürstenhaus dieselbe Aufgabe: auch die Luxemburger versuchen sich an demselben Ziel. Deutschlands Geschichte wird nun zu einem Kampfe der beiden Häuser. Das Glück ist zuerst den Luxemburgern hold: da sichern sich die Habsburger durch Heirat das Erbe des glücklichen Nebenbuhlers. Das große Kolonialreich ersteht zum ersten Mal, als der fünfte Albrecht den Kaiser Sigismund beerbt und hierdurch habsburgischen und luxemburgischen Besitz in einer Hand vereinigt. Die Macht der Habsburger ist hierdurch sicher begründet: von jener Zeit an bleibt die Kaiserkrone in ihren Händen, bis das Heilige Römische Reich in den Wirren der bürgerlichen Revolution ruhmlos stirbt. Wohl geht ihnen Böhmen und Ungarn nochmals verloren: aber unablässig erneuern sie ihre Bemühungen, das Ziel, dem sie einmal schon so nahe waren, zu erreichen. Als der Jagellone Ludwig auf dem Schlachtfelde von Mohacs fällt, werden Böhmen und Ungarn wieder ihr Erbe und bleiben nun dauernd mit Österreich vereint. Der Bestand des großen Reiches, das den süddeutschen Kolonialboden mit den durch den starken Einfluss deutscher Kultur dem Deutschen Reiche angegliederten Königreichen Böhmen und Ungarn vereinigt, ist für Jahrhunderte gesichert.

Aus der deutschen Entwicklung allein ist die Entstehung des österreichischen Staates zu verstehen; der Sinn seines Werdens war das Verlangen, die Kräfte des kolonialen Bodens zur Stütze deutscher Königsmacht zu machen. War dies erst gelungen, so mochte die Hoffnung vielleicht gar nicht allzu kühn erscheinen, es könne, auf so große Macht gestützt, den deutschen Königen gelingen, aus dem alten Reiche einen Staat zu schaffen, wie dies in Spanien, in Frankreich, in England gelungen war. Aber es war das merkwürdige Geschick des österreichischen Staates, dass er, kaum entstanden, sich vor einer anderen Riesenaufgabe sah, die seine Kräfte völlig in Anspruch nahm und ihm die Erfüllung der ersten Aufgabe, der er ursprünglich sein Entstehen dankte, dauernd unmöglich machen sollte. Diese neue Aufgabe war der Schutz des christlichen Europa gegen die Türken. Wenige Jahre, nachdem der Habsburger Albrecht die Luxemburger beerbt, fiel Konstantinopel in türkische Hände. Im Kampfe gegen die Türken fiel der Jagellone Ludwig, dessen Erbe der Habsburger Ferdinand antrat. Drei Jahre später stehen die Türken vor Wien; die Mitte Ungarns bleibt in türkischen Händen, im Osten Ungarns herrscht der Woiwode von Siebenbürgen als Vasall des Sultans. Kroatien, die innerösterreichischen Länder, ja selbst Böhmen, Bayern und Sachsen zittern vor der türkischen Gefahr. In jenen jahrhundertelangen Kämpfen ward, wie Engels einmal sagte: „der Sieg Karl Martells unter den Mauern Wiens und in der ungarischen Tiefebene aber und abermals erfochten“. Durch diese Kämpfe gewinnt Österreich neue Aufgaben und neue Bedeutung. War sein Entstehen erst nur ein Bedürfnis des deutschen Königtums, so wird sein Bestehen nun ein Bedürfnis der in ihm vereinigten Länder selbst, die sich nur in ihrer Vereinigung stark genug fühlen, den Türken zu widerstehen. In Kroatien empfand man schon vor der Schlacht bei Mohacs die Notwendigkeit des Anschlusses an die habsburgische Macht als Stütze gegen die Türken. Schon Maximilian I. wird bei seiner Bewerbung um die ungarische Krone von kroatischen Grafen unterstützt. Zu derselben Zeit wird der kroatische Graf Nikolaus Frangepan vom Kaiser und vom deutschen Reichstag mit Geld unterstützt, damit er dem Reiche gegen die Türken „dester bass dienen möge“. 1509 erklären sich die Stände der fünf niederösterreichischen Länder bereit, den Kroaten gegen die Türken beizustehen. [3] 1524, also noch vor Mohacs, tragen die „domini Croacie“ die Herrschaft über ihr Land dem Erzherzog Ferdinand an. In demselben Jahre bewilligt Ferdinand „etlichen krabatischen Graven“ eine namhafte Geldunterstützung, „damit sy sich diesen Winter enthalten und den Türkhen desster stattlicher widersteen mugen“. 1526 stellt Ferdinand den Kroaten eine Hilfstruppe von Reiterei und Fußvolk für den Kampf gegen die Türken zur Verfügung. Auch die innerösterreichischen Stände leisten ihnen wiederholt Beistand gegen die Türken. [4]

Wie durch die Türkengefahr die Vereinigung der österreichischen Länder, einst nur ein politisches Mittel der deutschen Könige und der Habsburger im Kampfe um die deutsche Königswürde, zu einer Notwendigkeit für die Länder selbst wurde, zeigt deutlich das fortwährende Verlangen der Stände der von den Türken bedrohten Länder nach Vereinigung der Ständeausschüsse aller habsburgischen Länder zu gemeinsamer Vorbereitung des Türkenkrieges. Im Jahre 1502 tagen zum ersten Mal die Ausschüsse der Stände der fünf niederösterreichischen Länder gemeinsam. Im Jahre 1509 sind bereits auch die Stände von Tirol und Vorderösterreich vertreten und verabreden mit den niederösterreichischen Ständen ein Schutzund Trutzbündnis. Für das Jahr 1529 beruft Ferdinand eine Versammlung der ständischen Ausschüsse aller habsburgischen Länder nach Linz; wohl scheitert die geplante Tagung an dem Widerstände der Böhmen, aber die Stände der durch die Türken bedrohten Länder verlangen immer wieder die Erneuerung des Versuches und tadeln wohl auch den Kaiser, weil er nicht ratkräftig genug sich um sein Gelingen bemühe. Für sich allein seien sie, wenn die Türken einfallen, einem „stattlichen“ Widerstand nicht gewachsen; daher müssten auch die Böhmen herangezogen werden. 1537 verlangen die ungarischen, 1540 die Tiroler und vorderösterreichischen Stände die Einberufung der Ausschüsse aller Stände zu gemeinsamer Tagung. 1541 finden in der Tat schon gemeinsame Beratungen aller Stände statt, die Ungarns Befreiung vom Türkenjoch bezwecken. [5] Die Geschichte dieser ganzen ständischen Vereinigungsbewegung zeigt deutlich die erste Wandlung des österreichischen Reichsgedankens: nicht mehr in dem Streben, ein großes Kolonialreich zu schaffen, das zur Grundlage der deutschen Königsmacht werden könnte, sondern in dem Verlangen der Länder selbst nach ihrer Vereinigung zur Abwehr der Türken liegt nun der Daseinsgrund Österreichs. So hat Österreich von seinem Entstehen an eine doppelte Aufgabe: die Herstellung eines starken, einheitlichen deutschen Staates einerseits, die Verteidigung des christlichen Europa gegen die Türken andererseits. Aber die zweite Aufgabe hat jahrhundertelang seine Kräfte gebunden und so blieb seine erste und ursprüngliche Aufgabe ungelöst. Nicht durch Österreich, sondern erst Jahrhunderte später gegen Österreich ist das Deutsche Reich zu einem Staat geworden. Österreichs Ausscheiden aus dem Deutschen Bunde im Jahre 1866 war der logische Abschluss dieser Entwicklung.

Während Österreich seinen jahrhundertelangen Kampf gegen die Türken führte, sah es sich im Innern vor eine gewaltige Aufgabe gestellt: vor den Kampf zwischen der fürstlichen Gewalt und den Ständen. Es ist sehr wichtig, diesen Kampf in seinen Triebkräften zu verstehen: denn sein Ausgang hat über die Geschicke der österreichischen Nationen für zwei Jahrhunderte entschieden und hat Jenes Verhältnis der Nationen zueinander begründet, das erst die schnelle Entwicklung des 19. Jahrhunderts umgestürzt hat, das aber auch heute noch für die Höhe der Kulturentwicklung der einzelnen Nationen und für ihre Machtverhältnisse zueinander von bestimmender Bedeutung ist.

Die Stufe der Staatsbildung, die die habsburgischen Länder in der Zeit ihrer Vereinigung erreicht hatten, war die des Ständestaates. Der Ständestaat ist ein merkwürdiges Zwischengebilde zwischen dem feudalen und dem modernen Staat, entstanden durch langsame Anpassung der Einrichtungen des auf dem Lehensbande und der Grundherrschaft ruhenden Feudalstaates an den auf der Warenproduktion beruhenden modernen Staat. Im feudalen Staate war es Pflicht der Lehensmannen, auf Geheiß des Lehensherrn an seinem Hofe zu erscheinen und ihm den erheischten Rat zu bieten. Aus dieser Pflicht ward allmählich ein Recht; kein Lehensherr sollte die Rechtsverhältnisse seiner Lehensmannen verändern, ohne ihren Rat zu hören und sich ihrer Zustimmung zu versichern. Als die Landeshoheit entstand, wurde es Verfassungsgrundsatz im Reiche, dass kein Landesherr ohne Zustimmung seiner Lehens- und Dienstmannen, der Großen in seinem Lande, neues Recht schaffen sollte. [6] Nun wuchsen mit der Entwicklung des modernen Staates die Ansprüche des Landesherrn an die Stände: aber nicht ohne Gegenleistung willigte die Ritterschaft in die Vermehrung ihrer militärischen Leistungen, willigten die Städte in erhöhte Steuern. Der Fürst muss den Ständen ausgedehnte Rechte verleihen, will er von ihnen die Mittel erlangen, die Landeshoheit über ein geschlossenes Territorium auszubauen, sie auf die neuen Mittel der sich verbreitenden Warenproduktion, Söldnerheer und Bürokratie, zu stützen. So wächst die Macht der Stände und es entsteht allmählich eine merkwürdige Doppelherrschaft und Doppelverwaltung. Neben dem landesherrlichen Gebot steht das ständische Gesetz; neben dem landesfürstlichen Heer das Heer der Stände; neben der landesfürstlichen Verwaltung die ständische Verwaltung, neben der landesherrlichen Einnahmewirtschaft die ständische Steuerverwaltung. Wenn die Stände dem Landesherrn Steuern bewilligen, so ist das eine außerordentliche Beihilfe für einen bestimmten Zweck; der Landesherr erklärt in den Steuerreversen, dass er den Ständen für die Bewilligung höchsten Dank schulde und sie nicht wieder belästigen wolle. Auch die Einhebung der Steuern ist Sache der ständischen Verwaltung. „In die Hände des Landesherrn oder seiner Amtsleute kommt nichts von dem Geld.“ heißt es im bergischen Rechtsbuch. So sind Landesherr und Stände nicht etwa Organe eines und desselben Staates wie heute Monarch und Parlament, sondern es bestehen im Grunde zwei voneinander unabhängige souveräne Gewalten auf demselben Boden. Die Bewohner des Territoriums sind einerseits Untertanen des Fürsten, andererseits aber Glieder des von den Ständen vertretenen und beherrschten Landes. [7]

Dieser Zustand staatlich-ständischer Doppelherrschaft und Doppelverwaltung ist eine Übergangsform in dem Entstehungsprozess des modernen Staates, die nirgends dauernd bestehen konnte. Notwendig musste überall der Kampf zwischen dem Landesherrn und den Ständen ausgekämpft werden. Der Ausgang dieses Kampfes war freilich sehr verschieden. Entweder ist es dem Fürsten gelungen, die Stände vollständig niederzuwerfen wie in Frankreich, oder die Stände sind dem Staate als ein Staatsorgan eingegliedert worden, haben sich zu einem Parlament entwickelt wie in England, oder aber die Stände blieben siegreich und haben aus dem Lande eine aristokratische Republik gemacht mit einem Scheinmonarchen an der Spitze wie in Polen und im römisch-deutschen Reich. [8]

Auch die habsburgischen Länder trugen den eigentümlichen Charakter des fürstlich-ständischen Doppelstaates. Als Maximilian I. den Grundstein zur österreichischen Bürokratie, zur Verwaltung durch bezahlte Beamte, legte, begann sofort der Widerstand der Stände. Aber mit Klagen über „Doctores und Procuratores“ war nichts getan. Bald entschließen sich die Stände, der bürokratischen Verwaltung des Fürsten eine eigene Verwaltung gegenüberzustellen: hatten früher der Landmarschall und Untermarschall genügt, die Geschäfte der Stände zu versehen, so werden Jetzt zunächst Landesausschüsse eingesetzt, bald auch ein Stand landschaftlicher Berufsbeamter geschaffen. Es ist wohl ein sicheres Zeichen für den Beginn ständischer Verwaltung, wenn die steierischen Stände im Jahre 1494, die Krainer 1511, die Kärntner 1514 eigene Gebäude als Landhaus, als Sitz der ständischen Verwaltungsorganisation erwerben. [9] Im Jahre 1495 beginnt in Steiermark und Krain der Ausbau eines ständischen Steuerwesens. Die Landstände werben auf ihre Kosten Truppen an, stellen sie unter landschaftliche Offiziere, besolden sie und der Landesherr muss damit zufrieden sein, wenn ihm die Stände ihre Truppen für einige Monate zur Verfügung stellen. Natürlich bleibt es dem Landesfürsten unbenommen, aus eigenen Mitteln ein eigenes Heer aufzustellen, über das er dann unbeschränkt verfügt. Noch zu Beginn des dreißigjährigen Krieges kämpfen die ständischen Heere von Österreich ob und unter der Enns gegen die kaiserlichen Truppen. [10]

Naturgemäß war auch in Österreich dieser Zustand einer Doppelherrschaft zweier gleich souveräner Mächte unerträglich. Die Fürsten klagten über ihre Ohnmacht gegenüber den Ständen. Im Jahre 1613 schreibt Kaiser Matthias an Erzherzog Ferdinand, nur durch äußerste Nachgiebigkeit habe er bisher die Stände von Österreich von offener Empörung zurückgehalten, in Ungarn tue der Palatin was er wolle, in Böhmen könne er keinen Landtag berufen, wenn er nicht die Konföderation der Stände zugeben wolle, daher aber auch keine Steuern erheben, und Mähren gleiche mehr einer Republik als einem Fürstentum. [11] In Böhmen kennzeichnet unter den Jagellonen das Verhältnis des Königs und der Herren das Wortspiel: „Du bist unser König, wir sind deine Herren.“

Alle großen Kämpfe jener Zeit sind durch den Gegensatz des Staates und der Stände bestimmt. Ihr Kampf gibt zunächst dem Gegensatze zwischen Zentralismus und Föderalismus in jener Zeit Inhalt. Man hat oft darüber gestritten, ob das Verhältnis der habsburgischen Länder Jener Zeit zueinander als Personal- oder als Realunion betrachtet werden kann. Wer diese Frage stellt, verkennt aber das Wesen des ständischen Doppelstaates. Soweit die Macht ständischer Herrschaft reicht, besteht zwischen den Ländern damals überhaupt keine Union: Jede Landschaft ist ein selbständiger Staat, der sich mit den anderen zu bestimmten Zwecken für bestimmte Zeit vereinigen, diese Vereinigung aber stets auch wieder lösen kann. Soweit aber die Macht des Landesfürsten reicht, ist wiederum von keiner Union die Rede: denn für ihn bilden alle Länder einen Staat, den er – soweit er überhaupt zu herrschen vermag, soweit im ständischen Doppelstaat seine Macht überhaupt reicht – einheitlich beherrscht, mag er sich auch für die verschiedenen Länder oder Länderkomplexe besonderer Organe bedienen und für sie Je nach Zweckmäßigkeit verschiedene Anordnungen treffen. Was als Kampf der Reichseinheit und des Länderpartikularismus erscheint, ist ein Kampf zwischen der über alle Länder gebietenden, alle Länder einigenden landesfürstlichen Macht und den auf eine Landschaft beschränkten Ständen. In diesem Kampfe nun war der Landesfürst ohne Zweifel der stärkere Teil: alle jene Tendenzen, die zur Bildung eines starken, großen Österreich trieben, förderten seine Macht. Am alleranschaulichsten zeigte es sich im Heerwesen, dass nur die landesfürstliche Gewalt Jene Aufgaben zu erfüllen vermochte, die die Länder von dem Zusammenschluss zu einem Reiche erwarteten. Wohl stellten auch die Stände einander Truppen zur Verfügung. Als im Jahre 1525 der große Bauernkrieg einzelne Länder bedrohte, als 1528 Krain den Einfall der Türken fürchtete, und häufig noch später leisteten die Stände einander „nachbarlichen Sukkurs“. Aber diese militärische Hilfe wurde immer nur von Fall zu Fall, immer unwillig, nie in genügender Stärke gewährt. Nur von der Gewalt des Landesfürsten, nicht von dem unwilligen Beistand der Stände der Nachbarländer konnte jedes einzelne Land hinreichenden Schutz gegen die äußeren Feinde, vor allem gegen die Türken erwarten. Kein Wunder, dass schon 1667 die Steiermark, von Krain zu nachbarlicher Hilfe berufen, erklärte, es sei Sache Seiner Majestät, seine Länder zu verteidigen. [12] Der „nachbarliche Sukkurs“ wurde zum letzten Mal im Jahre 1706 gewährt, als die Stände des Herzogtums Krain zum Schutze von Görz und Gradiska ein Aufgebot ergehen Hessen. Im folgenden Jahre verweigerten Kärnten und Krain die von Steiermark begehrte Unterstützung und der nachbarliche Sukkurs wurde fortan nicht mehr verlangt.

So beruhte die Überlegenheit des Staates gegenüber den Ständen gerade auf der Vereinigung der Kräfte durch den Zentralismus. Dies haben die Stände wohl erkannt und sie suchten den Absolutismus durch sein eigenes Mittel zu schlagen: die Versammlungen der Ständeausschüsse, deren Aufgabe die Vereinigung der Länder zum Kampfe gegen die Türken sein sollte, wurden zum Sitz der ständischen Rebellion; im Kampfe gegen die landesfürstliche Gewalt schlössen sich nun auch die Stände aller habsburgischen Länder zusammen. Die „Konföderation der Stände“, einst eine Forderung des Kaisers, wird nun zur Verschwörung gegen den Kaiser. So stark waren die Kräfte, die zur Einigung der habsburgischen Länder trieben, den Großstaat dem vereinzelten Lande gegenüber überlegen machten, dass selbst die ständische Bewegung ganz gegen ihren Willen dem Zentralismus, der engeren Ver knüpfung der Länder untereinander, dienen musste.

Der Kampf zwischen dem Staat und den Ständen bemächtigt sich auch der religiösen Wirren des Zeitalters der Reformation. Die Habsburger hatten sich, nicht ohne Schwanken, für den Katholizismus entschieden; wollten sie doch die Macht und Würde nicht missen, die dem römischen Kaisertum aus der Vogtei über die römische Kirche floss. So bemächtigten sich denn die Stände jener Umwertung aller überlieferten Werte, die die sich verbreitende Warenproduktion allerwärts hervorgerufen hatte: das Evangelium wurde zum Kampfmittel der Stände gegen den Staat. Noch wichtiger aber wurde es. dass der ständische Kampf in dem reichsten und höchstentwickelten Lande der Habsburger, das zugleich auch das Land der mächtigsten Stände war, in Böhmen, die Gestalt eines nationalen Kampfes annahm.

Wir haben schon von der machtvollen sozialen Stellung gesprochen, die die Deutschen in Böhmen vor den Hussitenkriegen eingenommen hatten. Beruhte die Macht deutschen Wesens in Böhmen auf dem Reichtum des deutschen Bürgertums im Lande und auf dem Einfluss, den die deutsche ritterliche Kultur auf den böhmischen Königshof und den böhmischen Adel übte, so fand es überdies unter den Luxemburgern an dem deutschen Fürstenhaus, das die böhmische Königskrone mit der römischen Kaiserwürde vereinigte und Prag zur Hauptstadt des Deutschen Reiches machte, wertvolle Unterstützung. Aber die deutsche Herrschaft in Böhmen schuf sich selbst ihre Totengräber. Jeder Fortschritt des deutschen Bürgertums, das Aufblühen seines Handels und Bergbaues bedeutete eine Verbreiterung der Warenproduktion. Auch in Böhmen hat aber der Übergang von der reinen Naturalwirtschaft zur Warenproduktion dieselbe gewaltige Revolutionierung der Geister hervorgerufen wie in allen anderen Ländern. Diese Revolution trat frühzeitig ein, weil Böhmen zeitweilig zu den wirtschaftlich höchst entwickelten Ländern Europas zählte; die Erhebung der unteren Klassen war hier besonders stark, weil der Kampf gegen die feindlichen sozialen Mächte zugleich ein Kampf gegen nationale Fremdherrschaft war. So erlebt Böhmen in den Hussitenkriegen seine Reformationsperiode. Die Deutschen im Lande werden zurückgedrängt und Böhmen erlebt nun eine Epoche rein nationaler Kultur. Aber für die Ideologie der Nation blieb es von bestimmendem Einfluss, dass ihre Revolution die Gestalt eines nationalen Kampfes gegen das Deutschtum hatte annehmen müssen.

Dieser Ideologie bemächtigten sich nun die Stände in ihrem Kampfe gegen die staatlich-fürstliche Gewalt. Die habsburgischen Könige sind deutsch, sind von deutschen Räten umgeben, bedienen sich in ihrer zentralistischen Verwaltung deutscher Beamten und der deutschen Sprache. Dagegen sind die Stände Tschechen, die Organe und die Sprache der ständischen Verwaltung sind tschechisch. Der Gegensatz zwischen staatlicher und ständischer Macht erscheint so als ein nationaler Gegensatz. Im Kampfe zwischen Staat und Ständen betont der tschechische Adel naturgemäß seine Nationalität: immer schroffer besteht er auf den Rechten der tschechischen Sprache, immer mehr sucht er durch gesetzgeberische Maßnahmen aller Art die deutsche Sprache zurückzudrängen, um so den ständischen Kampf als nationalen Kampf erscheinen zu lassen, in dem Hass des Volkes gegen die Fremdherrschaft einen Bundesgenossen für die ständischen Bestrebungen zu finden. Als 1611 Graf Dohna den böhmischen Ständen eine Botschaft des Kaisers in deutscher Sprache überbringen wollte, schrien ihn die Herren an, in Deutschland könne er deutsch, in Böhmen müsse er tschechisch reden. Durch eine ganze Reihe von Gesetzen führten die Stände den ausschließlichen Gebrauch der tschechischen Sprache als Amtssprache der Stände, als Sprache der Landtafeln und öffentlichen Urkunden, als Sprache der ständischen Gerichte ein, während sich gleichzeitig die landesfürsthchen Ämter der deutschen Sprache bedienten. [13] Die Kenntnis der tschechischen Sprache musste nachweisen, wer das adelige Incolat oder das städtische Bürgerrecht erwerben wollte. Schließlich ging man, auf dem Höhepunkt des Ständekampfes, wenige Jahre vor der großen Katastrophe, so weit. Jene, die der tschechischen Sprache mächtig waren und sich trotzdem der deutschen bedienten, mit Strafen zu bedrohen, von allen Seelsorgern und Lehrern die Kenntnis der tschechischen Sprache zu verlangen, gewissen Pfarreien und Schulen, die deutsch geworden waren, den Gebrauch der tschechischen Sprache unter Strafandrohung vorzuschreiben, ja sogar die Unkenntnis der tschechischen Sprache durch Nachteile auf dem Gebiete des Erbrechtes zu bestrafen.

Wie anderwärts, so hat auch in Böhmen – und damit in Österreich überhaupt – der Staat über die Stände gesiegt. In dei Schlacht am Weißen Berge errang er die militärische Überlegenheit und in den Kämpfen des dreißigjährigen Krieges hat die kaiserliche Armee dem Staate die Früchte jenes leichten Sieges dauernd gesichert. Für die tschechische Nation aber endet der Ständekampf mit einer furchtbaren Katastrophe.

Die erste Tat der Gegenreformation war die Vernichtung des tschechischen Adels. Die Führer der Adelsrebellion werden hingerichtet, die übrigen werden ihres Landes beraubt und wandern in die Verbannung. Ihr Land vergibt der Kaiser an Abenteurer aus aller Herren Länder, die ihm in den Wirren des Krieges nützliche Dienste geleistet – oft genug an Heerführer an Stelle des schuldigen Solds – an Deutsche, Franzosen, Spanier, Vlämen, Italiener u.s.w. Wohl scheint es ein unerhörtes Wagnis für die Herren, das Land des stolzen böhmischen Adels zu erwerben, und noch 1652 schreibt Johann Adolf von Schwarzenberg:

„In denen kaiserlichen Erblanden, absunderlich aber in Böhmen, wollte ich mich gern stabilieren, ich fürchte mich aber für den St. Wencislav, welcher, dem gemeinen Rufe nach, keine Ausländer alldar leiden tut.“ [14]

Aber den kaiserhclien Waffen vertrauend, haben die fremden Herren die Furcht vor dem St. Wencislav bald überwunden. Sie alle, ohne Unterschied der Abstammung, passen sich dem Staate an, der die reichen Ländereien Böhmens ihnen zugewiesen, und werden deutsch. Fortan trägt, bis in das 19. Jahrhundert, der gesamte Adel Böhmens deutschen Charakter – freilich soweit der Hochadel, der sich mit den adeligen Familien aller Länder verschwägert und sich in jener Zeit fast ausschließlich der französischen Sprache bedient, überhaupt irgend einen nationalen Charakter hat. Auch die Reste des tschechischen Adels haben sich ihren Standesgenossen angepasst und sind in dem deutschen oder doch germanisierten fremden Adel aufgegangen.

Mit dem Adel verliert die tschechische Nation auch die oberen Schichten ihres Bürgertums. Die tschechischen Kaufleute, die vornehmeren Handwerker waren evangelisch. Sie unterwerfen sich nicht dem katholischen Glaubenszwang, sondern wandern aus. Auch hier, wie fast überall, waren es die reichsten und die tatkräftigsten Bürger, die die Auswanderung dem Abfall von dem verfolgten Glauben vorzogen.

Eine Reihe weiterer Ereignisse trägt zum Verfall des tschechischen Bürgertums bei. Zunächst die furchtbare Verwüstung durch den dreißigjährigen Krieg. Böhmen, das zu Ende des 16. Jahrhunderts noch 2½ Millionen Einwohner hatte, zählte nach dem dreißigjährigen Krieg nur noch 700.000 Seelen! Auch die Verschiebungen der Welthandelswege haben den unaufhaltsamen Rückgang des tschechischen Bürgertums beschleunigt. Für die habsburgischen Länder bedeuteten insbesondere der Fall von Konstantinopel und der Rückgang Venedigs, der Verlust seiner Besitzungen in der Levante furchtbare Katastrophen, hatte doch ihre wirtschaftliche Bedeutung zu nicht geringem Teile darauf beruht, dass sie den Handel des Nordens und Westens mit diesen beiden Handelszentren vermittelten. [15] Die Wirkungen jener unglücklichen Ereignisse verpflanzen sich von einem Lande auf das andere. In Böhmen gaben sie dem Bürgertum den letzten Stoß. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte Prag nach Angaben Bechers und Hörnigks 1.245, im Jahre 1674 nur noch 355 Handwerker, in Iglau, wo vor dem dreißigjährigen Kriege im Tuchmachergewerbe allein 7.000 bis 8.000 Personen beschäftigt waren, gab es wenige Jahrzehnte später im ganzen nur noch 300 Bürger. [16]

Hatte die tschechische Nation so ihren Adel und die oberen Schichten ihres Bürgertums gänzlich verloren, so blieb sie auf ein verarmtes, darniedergedrücktes Handwerk und auf die Bauern beschränkt. Auf den Bauern lastet aber gerade in jener Zeit schwerer Druck. Mit den Güterkonfiskationen nach der Schlacht am Weißen Berge verschwinden die Rittergüter, die die Eigentümer noch selbst bewirtschaftet hatten, und an ihre Stelle treten die großen Latifundien der Herren, der Fürsten und Grafen, welche durch Wirtschaftsbeamte verwaltet werden; wie aber diese Verwaltung beschaffen war, zeigt die Tatsache, dass das Landvolk noch bis 1848 diese Wirtschaftsbeamten nicht anders nennt als Karabáčníci, was von karabáč, die Peitsche, abgeleitet ist. Die neuen Herren stehen dem Landvolk ganz anders gegenüber als die alten: hatten diese doch nur in überlieferter Weise ihre Wirtschaft weitergeführt, so sind die neuen Herren Emporkömmlinge, die durch die harte Schule des Krieges gegangen sind, Landesfremde, die keine andere Grenze der Ausbeutung kennen als ihre Macht und ihr Interesse. Die nach den Verwüstungen des Krieges leerstehenden Bauernhöfe werden nicht neu besetzt, sondern zum Herrenland geschlagen; hat der Herr so sein Land auf Kosten der Bauern vermehrt, so zwingt er die verschonten Bauern zu desto längerer Fronarbeit. Vergebens mahnt eine Verordnung die Herren, Gottes Segen werde es der Herrschaft lohnen, wenn sie den Bauern Zeit zur Besorgung ihrer eigenen Wirtschaft lasse! Und als die gedrückten Bauern sich 1679 bis 1680 gegen ihre Peiniger erheben, werfen die kaiserlichen Truppen den Bauernaufstand nieder und die Gutsherren verstehen es, das neue Robotpatent durch eine tückische Auslegung zu noch maßloserer Vermehrung der Fronen zu missbrauchen. [17]

Diese schwergedrückten Bauern bilden nun aber neben den paar tausend Handwerkern der verarmten Städte, neben Häuslern, Taglöhnern und Dienstboten die Masse des tschechischen Volkes. Diese Klassen können die nationale Kultur nicht weiter entwickeln: ohne Adel und ohne Bürgertum verliert die tschechische Nation ihre Kultur, verschwindet sie von der Bühne der Geschichte. Für die Tschechen bedeutet das Jahr 1620, was für die Wenden das Jahr 820 bedeutet hatte: volle acht Jahrhunderte später als die Slovenen werden auch die Tschechen zur geschichtslosen Nation.

Vor allem scheidet die Nation aus der Politik, der bewussten Arbeit an der Gestaltung des Staates aus. Wohl vergessen die fremden Geschlechter, die die Erben des verjagten tschechischen Adels geworden waren, sehr bald ihren Ursprung und erweisen sich den Habsburgern, denen sie Land und Macht verdanken, wenig dankbar: aber die Intriguen und Parteiungen des Adels haben mit nationalen Kämpfen nichts gemein. In den ständischen Landtagen erhalten sich wohl manche Formen, die an den tschechischen Charakter der alten böhmischen Stände erinnern, auch der Gebrauch der tschechischen Sprache erhält sich hier in bescheidenem Umfang. [18] Aber diese ständischen Beratungen sind zum inhaltsleeren Possenspiel geworden; nicht auf ihnen, sondern auf seiner Stellung in der staatlichen Verwaltung und im Heere, nicht mehr auf dem Kampfe gegen den Staat, sondern auf seiner Stellung als Staatsorgan beruht die Macht des neuen böhmischen Adels. Mit der Masse des tschechischen Volkes aber, mit den Bauern, hat der Staat überhaupt nichts zu tun: sie unterstehen ja gutsherrlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltung. So existiert rechtlich die tschechische Nation gar nicht für den Staat und er kennt daher kaum die tschechische Sprache: der Herrschaftsbeamte muss freilich mit den Bauern tschechisch sprechen, aber vor staatliche Verwaltungsorgane und staatliche Gerichte kann die Masse der tschechischen Bevölkerung gar nicht kommen. Daher verschwindet bald nach der Vernichtung des tschechischen Adels und der oberen Schichten des tschechischen Bürgertums die tschechische Sprache auch fast vollständig aus den staatlichen Ämtern: hat die „vernewerte Landesordnung“ von 1627 an die Stelle der ausschließlichen Herrschaft der tschechischen Sprache gleiches Recht der deutschen und der tschechischen Sprache in der gesamten Verwaltung gesetzt, so verkehren doch schon wenige Jahrzehnte später die staatlichen Behörden untereinander nur deutsch und auch mit den Parteien nur selten tschechisch.

Wie die tschechische Nation aus dem staatlichen Leben, die tschechische Sprache aus der staatlichen Verwaltung verschwindet, so geht auch die geistige Kultur der Tschechen zugrunde. Nach der Schlacht am Weißen Berge werden zunächst noch im Ausland, in Pirna und Dresden, Berlin und Halle, tschechische Bücher für die tschechischen Auswanderer gedruckt. Aber mit dem Aussterben der tschechischen Emigranten verschwindet die tschechische Literatur vollständig: Bauern und Taglöhner kaufen keine Bücher und die höheren Klassen hatte die Nation verloren. In Böhmen wurden die im Lande verbreiteten Bücher gesammelt und vernichtet, weil die ganze tschechische Literatur seit den Hussitenkriegen als ketzerisch galt. Diese Bücherverfolgung dauerte bis in das 18. Jahrhundert: noch der im Jahre 1760 verstorbene Jesuit Anton Konias konnte sich rühmen, 60.000 tschechische Bücher verbrannt zu haben. [19] Während die protestantischen Slovaken in Ungarn die Literatur noch eine Zeitlang fortpflanzen, verschwindet sie in Böhmen und Mähren vollständig; höchstens wird von Zeit zu Zeit ein Gebetbuch in tschechischer Sprache gedruckt.

Die tschechische Sprache ist zur Sprache der verachteten ausgebeuteten Klassen geworden. 1710 klagt der mährische Geschichtsforscher Středovsky darüber, dass die höheren Stände die slavische Sprache verachten, „als ob dieselbe nur dem gemeinen Pöbel gebühre“. [20] Kein Wunder, dass jeder, der in die oberen Gesellschaftsschichten aufstieg, der Reichtum, höhere Bildung oder eine höhere Würde in der Verwaltung oder im Heere erstieg, sich schämte, die Bauern- und Dienstbotensprache zu sprechen.

Die nationale tschechische Kultur war tot. Als das tschechische Volk im 19. Jahrhundert zu neuem kulturellen Leben wieder erwachte, mochte man die Erinnerungen an die alte Blüte der tschechischen Kultur wieder erneuern, manches längst vergessene Wort dem Sprachschatze wieder einverleiben und an den stolzen Erinnerungen der Nation das erstorbene Nationalgefühl entzünden, aber die heutige geistige Kultur der tschechischen Nation stammt nicht von der tschechischen Kultur der Jahre 1526 bis 1620 ab, mag sie auch an sie mit Vorliebe äusserlich anknüpfen. [21] Zwischen beiden liegen zwei Jahrhunderte der Geschichtslosigkeit, während deren nicht das Band einer lebendigen nationalen Kultur, sondern nur die gleichmäßige Überlieferung der von den Ahnen geerbten Kulturgüter in den vielen engen örtlichen Kreisen, in die die Bauernnation zerfiel, sie als Nation zusammenhielt. Aber auch die tschechische Geschichte hat die Erfahrung bestätigt, dass die in örtlicher Abgeschiedenheit lebenden Bauern die Einheit der Nation nicht zu erhalten vermögen: ohne jeden Verkehr mit der Nation ausserhalb ihres engen Kreises im Dorfe, werden die einzelnen Teile des Volkes voneinander immer verschiedener, differenzieren ihre Kultur, ja, was für das Fehlen der Verkehrs- und Kulturgemeinschaft immer ein deutliches Zeichen ist, selbst ihre Sprache. Im 18. Jahrhundert sprach man bereits von einer eigenen mährischen Nationalität und Sprache. Als im 19. Jahrhundert die Nation wieder erwachte, war es zweifelhaft, wo ihre Grenzen lagen, ob die Moraver und mährischen Slovaken zur tschechischen Nation gehören. [22] Und ist es auch der wieder lebendig gewordenen Nation gelungen, diese Stämme ihrem Körper wieder einzuverleiben, so ist es dagegen auch heute noch nicht gewiss, ob sie nicht die zwei Jahrhunderte geschichtslosen Lebens mit dauernder nationaler, nicht etwa nur staatlicher Entfremdung der oberungarischen Slovaken wird bezahlen müssen.

National bedeutete die Niederwerfung der böhmischen Stände, dass die tschechische Nation zum trägen Dasein einer geschichtslosen Nation hinabgedrückt wurde. Politisch bedeutete sie, dass die Bahn frei war für die Entwicklung zum modernen zentralistischen Einheitsstaat. Sehr bald gehen die Habsburger an die Aufgabe heran, ihren Sieg auszunützen und Böhmen mit den Erbländern zu einem einheitlichen Staat zu vereinigen. Diesem Zweck dient ihre merkantilistische Politik. Zunächst bildet jedes der habsburgischen Kronländer ja ein eigenes Wirtschaftsgebiet. Aber schon unter Karl VI. wird der sogenannte Transitoverkehr eingeführt, das heißt es werden Maßregeln getroffen, damit für die in die habsburgischen Länder eingeführten Waren, wenn sie auch mehrere Kronlandsgrenzen überschreiten, der Zoll doch in der Regel nur einmal entrichtet werden muss. 1775 gelingt es in der Tat, die böhmischen Länder mit den Alpenländern außer Tirol zu einem Zollgebiet zu vereinigen. Allmählich werden diese Länder zu einem Wirtschaftsgebiet. An die Stelle der ausschließlichen Handelsbefugnisse der städtischen Kaufleute, die einen örtlich engbegrenzten Markt mit ihren Waren versorgen, treten die Privilegien industrieller und landwirtschaftlicher Produzenten, die für das ganze Wirtschaftsgebiet gelten. Bald zeigen sich schon in groben Umrissen Anfänge der Arbeitsteilung innerhalb des Wirtschaftsgebietes. Wolle und Glas werden in Böhmen, Tuch in Mähren, Eisen in Steiermark, Galanteriewaren in Wien für das ganze Wirtschaftsgebiet erzeugt.

Während durch die merkantilistische Politik die Entwicklung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes angebahnt wird, wird zugleich auch auf anderem Wege die Entwicklung zum Einheitsstaat bewusst gefördert. Vor allem handelte es sich um die Herstellung eines einheitlichen Rechtes für die Erbländer und Böhmen. Wohl hat Leopold I. den Rat Leibnitz’, er möge als ein zweiter Justinian ein neues System des bürgerlichen Rechtes sammeln lassen und als Gesetz in allen seinen Ländern publizieren, nicht befolgt, aber schon im Jahre 1720 wurde das gesetzliche Erbrecht einheitlich, zunächst für die fünf niederösterreichischen Länder geregelt und unter Maria Theresia beginnen dann jene umfassenden Kodifikationsarbeiten, die schließlich zur Schaffung eines formell und materiell einheitlichen Rechtes für die Erbländer und Böhmen (teilweise auch für Ungarn und das neuerworbene Galizien geführt haben.

Endlich ging man daran, auch eine einheitliche Verwaltung für Böhmen und die Erbländer zu schaffen. Der entscheidende Schritt auf diesem Wege war die Aufhebung der böhmischen Hofkanzlei im Jahre 1749. Fortan werden die böhmischen Länder ebenso wie die Alpenländer von Wien aus einheitlich regiert.

Nach der Schlacht am Weißen Berge hat der Absolutismus die volle Konsequenz seines Sieges nicht gezogen, wenige Jahre nach der größten Machtentfaltung der Stände nicht ziehen können. Er hat sie verfassungsrechtlich nicht gezogen, indem er die Macht der Stände nur beschränkt, nicht beseitigt, das Band, das die einzelnen Länder der Krone verknüpfte, wohl enger gezogen, sie aber nicht zu einem einheitlichen Staate zusammengeschmiedet hat; er hat seinen Sieg national nicht vollständig ausgenützt, indem er der deutschen Sprache rechtlich nur gleiches Recht wie der tschechischen, nicht aber ausschließliche Geltung gewährt hat. Aber schon nach wenigen Jahrzehnten kann der Staat ein Stück weiter gehen: Seine Macht wächst von Jahrzehnt zu Jahrzehnt; er wird militärisch stärker mit dem Übergange vom Söldnerheer zum stehenden Heer auf der Grundlage des Konskriptionssystems; er wird wirtschaftlich stärker, da das langsame Wiederaufblühen des Handels und der Industrie in der merkantilistischen Epoche ihm neue Steuerquellen eröffnet; er wird politisch stärker durch den Ausbau der bürokratischen Verwaltung. Während so der Staat erstarkt, erlahmen die Kräfte, die seiner Einheit im Wege stehen: die Beratungen der Stände werden immer mehr zu leeren Spielen ohne wirkliche Macht [23], das Verschwinden des tschechischen Adels und Bürgertums beseitigt die tschechische Nation aus dem öffentlichen Leben, trotz aller formalen Gleichberechtigung, die die vernewerte Landesordnung der tschechischen Sprache zugesichert. So haben sich die Machtverhältnisse verändert und der siegende Staat kann jetzt die volle Konsequenz aus der Niederwerfung der Stände ziehen: durch die Theresianischen Reformen wird, was in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen seit Jahrzehnten tatsächlich schon begründet war, nun auch zu gesatztem Recht: Böhmen und die Erbländer werden ein einheitlicher Staat, durch ein mehr oder weniger lockeres Band mit den anderen habsburgischen Staaten (Ungarn, den Niederlanden, Galizien, den italienischen Besitzungen) verbunden. Der Prozess, in dem der österreichische Staat entstanden, ist derselbe, der sich in allen deutschen Territorien vollzogen hat, er ist ähnlich dem Entwicklungsgange, dem die anderen Staaten des europäischen Kontinents ihr Dasein verdanken. Der Vorgang war fast überall derselbe wie bei uns: der Absolutismus hat die Stände beseitigt und dadurch den ständischen Doppelstaat abgelöst; er hat dann die Grenzen der alten ständischen Sondergebilde innerhalb seines Ländergebietes niedergerissen, seine Länder durch die merkantilistische Politik zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiete, durch einheitliche Gesetzgebung und bürokratische Verwaltung zu einem Rechtsgebiete gemacht und so aus einem Bündel von Landschaften einen Staat geschaffen. Wenn die Freunde des böhmischen Staatsrechtes diesen Entwicklungsgang als einen Rechtsbruch beklagen, so mögen sie vor dem Gerichtshof formalen Rechts nun recht oder unrecht haben, gewiss ist, dass kaum irgend ein Staat auf dem Kontinent anders als auf diesem revolutionären Wege entstanden ist.

Durch den Sieg des Staates über die Stände ist Österreich ein Staat geworden. Die Niederwerfung der Stände hat aber zugleich die tschechische Nation zur Rolle einer geschichtslosen Nation verurteilt; so ward Österreich ein deutscher Staat. Die Masse der nicht deutschen Bevölkerung in Böhmen und den Erbländern waren Bauern. Die Bauern aber sind dem Staat nicht unmittelbar unterworfen, sondern sie sind mediatisiert. Kein staatlicher Richter fällt „im Namen Seiner Majestät des Kaisers“ über sie ein Urteil, sondern sie haben ihren Gerichtsstand vor dem Gutsherrn! Nicht unmittelbar, sondern nur durch den Gutsherrn herrscht der Staat über sie. Die Klassen, die dem Staat unmittelbar unterworfen sind, sind ihrer Masse nach deutsch oder doch germanisiert.

Wir wissen, welch langer Entwicklungsgang notwendig war, um aus Österreich einen deutschen Staat zu machen die Kolonisation des Südostens durch die Deutschen, die Entstehung des modernen Staates, sein Kampf und nach dem langen Kampf sein schließlicher Sieg über die Stände. Und doch: aus weltgeschichtlicher Distanz gesehen, ist es nichts als eine Augenblickssituation, die Böhmen und die Erbländer zu einem deutschen Staat geeinigt: die Situation des entstehenden, aber noch nicht vollendeten modernen Staates. Österreich war ein deutscher Staat, als der moderne Staat den ständischen Doppelstaat völlig niedergeworfen hatte; aber Österreich war nur so lange ein deutscher Staat, solange die Klasse der adeligen Gutsherren zwar ihre gemeinsame, in den Ständen vereinigte Macht dem Staat gegenüber verloren, aber der Staat jedem einzelnen Gutsherrn doch seine Macht über die Bauern gelassen hatte, solange die Masse der Bevölkerung kulturell von der Möglichkeit der Fortentwicklung einer nationalen Kultur ausgeschlossen, politisch dem Staat nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar durch den Gutsherrn unterworfen, mediatisiert war, solange der Staat den allgemeinen Untertanenverband, der jeden Bürger unmittelbar dem Staat unterwirft, nicht verwirklicht hatte. Österreich war ein deutscher Staat auf einer bestimmten Stelle des Weges von dem auf dem Lehensband und der Grundherrschaft beruhenden Feudalstaat zu dem auf der kapitalistischen Warenproduktion beruhenden modernen Staat. Österreich war ein deutscher Staat, als es den Weg zum modernen Staat zwar angetreten hatte, aber noch nicht ans Ziel gelangt war. Wenn die deutschnationalen Schriftsteller darüber klagen, dass Österreich heute kein deutscher Staat mehr ist, so beweisen sie, dass ihr geschichtliches Verständnis nicht größer ist als das der tschechischen Staatsrechtsfreunde; so beklagen sie, dass heute auch die Massen Anteil gewinnen am Fortschritt der Kultur; so jammern sie darüber, dass heute auch die Massen der Bevölkerung aus Untertanen eines Gutsherrn zu Bürgern eines Staates geworden sind. So treibt unsere ganze Darstellung dem entscheidenden Punkt entgegen; wir werden zu zeigen haben, wie die Entwicklung des Kapitalismus und die durch ihn bedingte Entwicklung des modernen Staates die geschichtslosen Nationen zu geschichtlichem Leben erweckt und dadurch den Staat vor die große nationale Frage gestellt hat, die ihn so lebhaft bewegt.

Die treibenden Kräfte nationaler Entwicklung aber hat schon unsere geschichtliche Einleitung enthüllt. Werfen wir einen Blick auf das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen! Der Übergang von der Naturalwirtschaft zu Warenproduktion und Warenaustausch gibt den Deutschen, den ersten Trägern der Warenproduktion in Böhmen, unter den Luxemburgern gewaltige soziale Macht. Die geistige Revolution, die die Verbreitung der Warenproduktion überall hervorruft, weckt in Böhmen die tschechische Reaktion gegen die deutsche Herrschaft: die Hussitenkriege leiten eine Periode nationalen Aufschwunges in Böhmen ein. Dem auf der Grundlage der Warenproduktion entstandenen Staat passt sich die herrschende Klasse der feudalen Gesellschaft an, indem sie den ständischen Doppelstaat bildet. Es kommt zum Kampfe der Stände gegen den Staat. Auf seine überlegenen Machtmittel gestützt, siegt der Staat und vernichtet die herrschenden Klassen der Nation. Die tschechische Nation wird ein Volk von Bauern und Dienstboten und scheidet aus dem politischen wie aus dem kulturellen Leben aus. Erst im 19. Jahrhundert erweckt sie die vom Kapitalismus eingeleitete Revolution, die auch die unteren Klassen zum Anteil an der kulturellen Entwicklung und zur politischen Mitentscheidung beruft, zu neuem Leben. Alle die treibenden Kräfte, die wir hier wirksam sehen, sind Böhmen nicht eigentümlich, sind dieselben, die auch in anderen Ländern wirksam gewesen. Über die sozialen Kämpfe, in denen die moderne Gesellschaft und der moderne Staat überall entstanden, gewinnen in dem vielsprachigen Österreich die Gestalt nationaler Kämpfe und nationale Bedeutung. Nationale und soziale Entwicklung sind nicht zwei verschiedene, reinlich zu scheidende Gebiete der menschlichen Entwicklung überhaupt, sondern es sind die überall wirksamen Kämpfe der wirtschaftlichen Klassen, es sind die Veränderungen der Arbeitsmittel und Arbeitsverhältnisse, die über Macht und Ohnmacht, über Tod und Wiedergeburt der Nationen entscheiden.

Fußnoten

1. Strakosch-Grassmann, Geschichte der Deutschen in Österreich-Ungarn, I. Band. Wien 1895, S.312ff.

2. Zitiert bei Palacký, Geschichte Böhmens, Prag 1854, III., 3., S.293.

3. Der alte österreichische Kanzleistil versteht unter Innerösterreich die Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Krain, unter Niederösterreich die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der Enns und die drei innerösterreichischen Lande.

4. Ausführliche Nachweisungen darüber, wie die Türkennot die Kroaten zum engen Anschluss an das Reich trieb, bei Bidermann, Geschichte der österreichischen Gesamtstaatsidee, Innsbruck 1867-1884, II. Bd., S.198ff.

5. Bidermann, a.a.O., I. Bd., S.5ff.: II. Bd., S.93ff.

6. Im Jahre 1231 bestimmte ein Rechtsspruch des Reichshofgerichtes: Die Landesherren dürfen nur mit Zustimmung der meliorum et maiorum terrae constitutiones vel nova iura facere.

7. Below, Territorium und Stadt, München 1900, S.248.

8. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1905, S.317.

9. Luschin, Österreichische Reichsgeschichte, Bamberg 1896, S.277.

10. Luschin, a.a.O., S.464ff. 

11. Luschin, a.a.O., S.336.

12. Bidermann, a.a.O., II., 25, 101, 167.

13. Die tschechische Sprache siegt nicht nur über die deutsche, sondern auch über die lateinische. Dies ist eine Parallelerscheinung mit dem fast gleichzeitigen Vordringen der deutschen Sprache gegen die lateinische in Deutschland infolge der Entwicklung des Bürgertums. In Böhmen wie in Deutschland wurde diese Entwicklung durch den Sieg der Reformation über die katholische Kirche gefördert.

14. Zitiert bei Andree, Tschechische Gänge, Leipzig 1872, S.190.

15. Welche Bedeutung der Handel mit Venedig hatte, zeigt für Wien sehr anschaulich die Bestimmung aus dem Jahre 1432, die den Kaufmann vom Krämer dadurch unterscheidet, dass jener nach Venedig fährt.

„Item welcher Kramer gen Venedig varen wolt umb Kaufmanschaft, der sei ain Kaufman und nicht ein Kramer, zu gleicher weis, welcher Kaufman umb Kaufmanschaft nicht gen Venedig fahren, Kremerei arbeiten weite, der sei ain Kramer und nicht ein Kaufman.“ Helene Landau, Die Entwicklung des Warenhandels in Österreich, Wien 1906, S.12.

16. Max Adler, Die Anfänge der merkantilistisclien Gewerbepolitik in Österreich, Wien 1903, S.16.

17. Grünberg, Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, Leipzig 1894.

18. So beantwortet der Oberstburggraf die Steuerpostulate der k. k. Landtagskommissäre in tschechischer Sprache und der oberste Landrichter fordert die Beisitzer des Landrechtes mit den Worten „Račte sestoupiti“ auf, zur Beratung in den Kreis zu treten. Die wirklichen Verhandlungen und die Protokolle werden dagegen natürlich in deutscher Sprache geführt. Fischel, Das österreichische Sprachenrecht, Brunn 1901, S.XXVIII.

19. d’Elvert, Zur Geschichte des Deutschtums in Österreich-Ungarn, Brunn 1884, S.474.

20. d’Elvert, a.a.O., S.445.

21. Auch die besonneneren tschechischen Schriftsteller täuschen sich häufig über diese Tatsache. So erklärt zum Beispiel Masaryk die Humanität für eine spezifisch tschechische Idee, weil er sie sowohl in der tschechischen Reformation (Brüdergemeinden!) als auch bei den ersten Wiedererweckern der tschechischen Nation im 19. Jahrhundert – bei Kollár, Jungmann, Šafařik, Palacký – als leitenden Gedanken wiederfindet. Indessen zeugt das nur von einer bedenklichen Verkennung geschichtlicher Zusammenhänge. Im erwachenden tschechischen Bürgertum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Gedanke der Humanität ebenso notwendig durch seine Lage in der Gesellschaft erzeugt, wie in der Intelligenz und im Kleinbürgertum aller anderen europäischen Nationen auf derselben Entwicklungsstufe. Sofern man hierbei an die jahrhundertelang fast vergessenen Gedanken der tschechischen Reformation anknüpfte, geschah dies nur so weit, als man in der Geschichte der Nation Gedanken wiederfand, die den Gedanken der eigenen Zeit verwandt waren. Es war der Herren eigener Geist, den man im Geiste längst vergessener Zeiten fand. – Wenn übrigens Masaryk den Gedanken der Humanität, statt ihn in seinem Werden zu begreifen oder als Zweck zu rechtfertigen, mit seinem angeblich tschechischen Charakter schon hinreichend gerechtfertigt glaubt und nun an ihm das Programm und die Kampfmittel der tschechischen Parteien misst, so ist das ein gutes Beispiel der uns schon bekannten nationalen Wertungsweise.

22. Die österreichische Statistik muss, um jeden Zweifel auszuschließen, auch heute noch von einer böhmisch-mährisch-slovakischen Umgangssprache sprechen. Niemandem wird es dagegen einfallen, von einer bayrisch-fränkisch-schwäbischen Umgangssprache statt von einer deutschen zu reden.

23. Als die Stände von Krain sich 1749 weigerten, einen erhöhten Militärbeitrag auf Jahre hinaus zuzugestehen, erklärte ihnen Graf Chotek, „dass der Hof expresse befielt, die Stände sollten es freiwillig bewilligen“, worauf die Stände sich fügten. In Kärnten wurden, als die Stände ein Jahr vorher die Erhöhung des Militärbeitrages verweigerten, die Landeseinnahmen sequestriert und die Abgaben durch landesfürstliche Beamte eingehoben. Luschin, a.a.O., S.532.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008