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Der Kampf, Jg. 2 Heft 10, 1. Juli 1909, S. 478–480.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Dr. Emil Kammacher, Privatdozent der Philosophie an der Universität Bonn, hat im Verlag von Duncker u. Humblot ein Werk über Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus veröffentlicht, das durch seinen ungewöhnlichen Umfang – das Buch zählt nicht weniger als 730 Druckseiten – in der von Monat zu Monat anschwellenden Masse der Marx-Literatur auffällt. Leider steht der Wert des Inhalts zu der grossen Mühe, die Hammacher aufgewendet hat, in schreiendem Missverhältnis. Wohl zeugt die Arbeit von grosser Belesenheit. Auch ist Hammacher von kleinlicher Gehässigkeit gegen Marx und gegen den Sozialismus überhaupt frei. Für einen Privatdozenten an der Hohenzollernschen Prinzenuniversität sind seine Urteile über die Gebrechen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, über Marx als Historiker und über Marx als Erwecker der Arbeitermassen aller Achtung wert. Was er aber über Marx, für ihn und gegen ihn, zu sagen hat, ist zum Teil schon allzuoft gesagt worden, als dass es noch Interesse erregen könnte, zum anderen Teil aber zu wenig, als dass es den grossen Umfang des Buches rechtfertigen würde. Zur Einführung in die MarxLiteratur ist das Buch, trotz des reichen Schatzes an Zitaten, den es enthält, und trotz der behaglich-breiten Darstellungsweise auch nicht geeignet, da seine Darstellungsweise zu subjektiv, zu einseitig, für den Neuling auch zu schwer verständlich ist. Viele Leser wird das Buch also wohl nicht finden und eine Bereicherung der Gesichtspunkte, wie sie beispielsweise die Arbeiten von Böhm-Bawerk, Tugan-Baranovsky, Stammler, Rickert, Simmel der Marx-Kritik gegeben haben, enthält es nicht.
Die schwächsten Kapitel des Buches sind diejenigen, die sich mit Marx’ Oekonomie beschäftigen. Hier fehlt Hammacher zunächst die Kenntnis der Tatsachen. Zum Beispiel meint er, die Entwicklung der Kartelle habe die Ausbeutung nicht gesteigert, da die Kartelle die Krisengefahr verringern, wodurch die – Konsumenten profitieren. (Seite 633). Nun kann man darüber streiten, ob die Kartelle die Krisengefahr verringern und ob dies ein Gewinn für die in den kartellierten Betrieben beschäftigten Arbeiter ist. Aber zugegeben, dass das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat die Krisengefahr für den Kohlenbergbau verringert und angenommen selbst, dass dies für die Arbeiter des Kohlenbergbaues vorteilhaft sei, so kann man doch nicht behaupten, dass die Hochhaltung der Kohlenpreise wahrend der Periode der Depression den – Konsumenten nützt. Davon gar nicht zu reden, dass früher das Sinken der Produktionsmittelpreise gerade die Ueberwindung der Depression erleichtert hat! Solche Irrtümer über Tatsachen sind in dem Buch nicht selten. Aber auch in der theoretischen Deduktion ist Hammacher nicht viel glücklicher, solange er sich auf dem Boden der Oekonomie bewegt. Er stimmt zum Beispiel zuerst der Arbeitswertlehre zu (Seite 548), will aber dann gleich den mit ihr ganz unvereinbaren Satz beweisen, dass die „angehäufte Arbeit“ (die Produktionsmittel, das konstante Kapital) in derselben Weise Wertproduktivität habe wie die lebendige Arbeit. (Seite 555.) Und die Argumentation! „Marx behauptet, die Maschine verliere immer so viel an Wert, als sie an das Produkt abgibt. Wenn dies wirklich wahr wäre, dann würde kein Mensch eine Maschine anstellen, denn er würde ja gar keinen Nutzen von ihr haben.“ Gegen solchen Unsinn brauchen wir wohl nicht zu polemisieren.
Die Unkenntnis ökonomischer Tatsachen wird auch bei Hammacher durch das Philosophieren über die Oekonomie verhüllt. Mit Recht sagt er gegen Stammler: „Es ist bedauerlich, wenn sonst verdienstvolle Schriftsteller auf Grund blosser – und dazu ganz anders gerichteter – methodologischer Erwägungen Urteile fallen, die sich um den fachwissenschaftlichen Gehalt des beurteilten Gegenstandes gar nicht kümmern.“ Dieses Urteil trifft auf niemanden mehr zu als auf Hammacher selbst. Er bringt es zustande, zu behaupten, dass die Lehre von der Ausgleichung der Profitraten dem Grundgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung widerspreche (Seite 343, 567) und seine Kritik der Marxschen Oekonomie erklimmt wohl ihren Höhepunkt in dem Satz: „Das ökonomische Prinzip erleidet Schiffbruch, indem seinem Leitfaden der empirischinduktive Inhalt des Mehrwerts entgegentritt und so Hegels Identität von Form und Inhalt zerbricht.“ (Seite 392.) Wir halten methodologische Untersuchungen der ökonomischen Gesetze für nützlich und unentbehrlich. Aber die Frage nach den Gesetzen des Wirtschaftslebens darf mit der Frage nach der Möglichkeit und Art solcher Gesetze nicht in der Weise vermengt werden, dass beide in eine Philosophie der Nationalökonomie münden, die an die Vergewaltigung der Naturwissenschaft in der alten Naturphilosophie erinnert.
Auf einem etwas höheren Niveau als die ökonomischen Kapitel steht Hammachers Darstellung und Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung. Sein Begriff der Produktivkräfte ist allerdings zu eng. (Seite 158.) Die Produktivkräfte dürfen nicht mit den Produktionsmitteln verwechselt werden. Sie sind der Inbegriff der Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur als Arbeitsobjekt, schliessen also neben den technischen auch natürliche (Bodenbeschaffenheit, Klima, Rasse) und populationistische Faktoren (die Zahl der Menschen auf gegebener Bodenfläche ist einer der wichtigsten Bestimmungsgründe der Produktivität der Arbeit!) ein und wenn ihre Veränderung die Wandlung der Produktionsverhältnisse (gesellschaftliche Arbeitsteilung, Betriebsorganisation u. s. w.) herbeiführt, so sind sie doch selbst durch die ihnen vorausgehenden Produktionsverhältnisse bestimmt. Erst wenn man den Begriff der Produktivkräfte richtig erfasst, erschliesst sich der wahre Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung, die die ganze Fülle menschlichen Geschehens aus den Wandlungen der Produktivkräfte, das heisst aus den Veränderungen im Daseinskämpfe des Menschen in der Natur, hervorgehen lässt und dadurch die menschliche Geschichte als einen Teil des Naturgeschehens begreift, zugleich aber die Gesellschafts- von der Naturwissenschaft abgrenzt, indem sie den Menschen nicht bloss als leidendes Objekt, sondern als kämpfendes, arbeitendes Subjekt erfasst. (Vergleiche die Ausführung dieses Gedankens in meinem Artikel Marx und Darwin, Kampf, II, Seite 174.) Da Hammacher den Begriff der Produktivkräfte zu eng fasst, gelingt es ihm nicht, den echten Sinn der materialistischen Geschichtsauffassung zu erfassen, darum bereitet ihm die Darstellung des Verhältnisses zwischen der „ökonomischen Basis“ und dem „ideologischen Ueberbau“ so grosse Schwierigkeiten. Trotzdem findet sich gerade in diesem Teil seines Buches manches Interessante. Er unterscheidet mit Recht die Lehre, dass das menschliche Bewusstsein sich mit den Wandlungen der gesellschaftlichen Daseinsweise verändert, von der Lehre von der Macht ökonomischer Bedürfnisse und Interessen. Er kann aber beide Theorien nur historisch in Beziehung zueinander bringen, es gelingt ihm nicht, sie als Glieder eines Systems zu begreifen. Das liegt daran, dass wir es noch nicht verstanden haben, zur Theorie ausreifen zu lassen, was Marx nur epigrammatisch angedeutet hat, zu einer sozialen Formenlehre, wie ich sie an anderer Stelle gefordert habe. (Neue Zeit, XXVI, 1, Seite 792 ff.)
Hammacher nennt sich selbst einen „Fachphilosophen“ und wir haben darum auf die philo-sophischen Kapitel seines Buches die grössten Hoffnungen gesetzt. Aber auch hier sind wir enttäuscht worden. Hammacher setzt sich sehr ausführlich mit verschiedenen Aeusserungen von Marx und Engels über philosophische Probleme auseinander, die mit Marx’ Gesellschaftslehre in keinem notwendigen Zusammenhang stehen, mit dem Marxismus also gar nichts zu schaffen haben. Nicht alle Ansichten von Marx und Engels über alle Fragen bilden einen Bestandteil des Marxismus. Will man im Marxismus Philosophie suchen, so kann man sie nur in jenen zahlreichen methodologischen Erörterungen finden, in denen Marx sein eigenes sozialwissenschaftliches Arbeitsverfahren gerechtfertigt hat. Die methodologischen Erörterungen im Kapital zeigen uns auch das Verhältnis des reifen Marx zu Hegel. Marx hat das Stück Erkenntnistheorie, das Stück Kant, das in Hegel steckt, von seiner ontologischen Hülle befreit, aber trotzdem die durch die ontologische Auffassung bestimmte Terminologie beibehalten und es in dieser Form zur Begründung seiner Forschungsarbeit gebracht. Ich habe auf diesen Zusammenhang schon einigemal hingewiesen. (Neue Zeit, XXIV, 1, Seite 207 f.; XXVI, 1, Seite 28 ff.) Hammacher aber ist an Marx’ methodologischen Bemerkungen zum Teil achtlos vorübergegangen, zum Teil hat er sie grob missverstanden (vergleiche zum Beispiel Seite 107, 288), und aus Hegels Dialektik lost er nur die Antithetik, den Evolutionismus, den Relativismus, die Metaphysik heraus, aber nicht das grosse Stück Erkenntnistheorie, das in ihr steckt, obwohl gerade der erkenntnistheoretische Gehalt von Hegels Logik, zwar von der Metaphysik befreit, aber doch in der ontologisch gefärbten Terminologie ausgedrückt, im Marxismus fortlebt, seinen eigentlichen erkenntnistheoretischen Inhalt bildet und seine Beziehung zu der Erkenntnistheorie überhaupt begründet.
So ist der Ertrag der umfangreichen Arbeit leider nicht gross. Als ganz wertlos wollen wir sie aber trotz aller dieser Einwände nicht bezeichnen. Insbesondere erscheint uns manche Beziehung zwischen Marx und seinen Vorgängern, besonders Hegel und Feuerbach, sehr glücklich nachgewiesen. Vielleicht hat Hammachers Buch für eine wissenschaftliche Biographie von Karl Marx mehr Vorarbeit geleistet als für die Kritik und Fortbildung des Marxismus.
Dr. G. Charasoff sendet uns eine Erwiderung auf unsere Kritik seines Buches, die im Mai-Heft des Kampf erschienen ist. Charasoff bestreitet zunächst die Richtigkeit unserer Inhaltsangabe. Der Satz, die Warenpreise müssten die in den Waren verkörperte Arbeit messen, wenn die Wirtschaft des technischen Fortschrittes fähig sein solle, drücke nach seiner Ansicht nicht das Marxsche Wertgesetz, sondern das Wertgesetz der klassischen Oekonomie aus. Auch sei dieser Satz nur in demselben Sinne teleologisch zu verstehen wie etwa das Urteil: „Soll eine Tierart am Leben bleiben, so müssen sich ihre Organe an die äusseren Daseinsbedingungen anpassen.“ Auch er fasse Marx’ Oekonomie als eine Gesetzeswissenschaft, nicht als eine Kunstlehre auf. Ferner beschwert sich Charasoff darüber, dass unsere Besprechung auf seine Auflösung des angeblichen Widerspruches zwischen dem ersten und dem dritten Bande des Kapital und auf seine Untersuchung der Beziehung zwischen dem Gesetz der sinkenden Profitrate und der Krisentheorie nicht eingegangen ist. Unsere Zeitschrift hat für eine weitere Erörterung von Charasoffs Buch keinen Raum; wer sich für seine höchst subjektive Interpretation der Marxschen Oekonomie interessiert, mag das Buch selbst zur Hand nehmen.
Leztztes Update: 6. April 2024