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Der Kampf, Jg. 3 10. Heft, 1. Juli 1010, S. 433–438.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Tausende deutscher Arbeiter aus dem Reiche, aus der Schweiz, aus Oesterreich arbeiten in Paris. Das Pariser Kürschnergewerbe ist fast ausschliesslich in den Händen von Ausländern, unter denen die Deutschen die erste Rolle spielen – in der Pariser Kürschnergewerkschaft werden die Verhandlungen in deutscher Sprache geführt. Deutsche Arbeiter sind die Seele der Gewerkschaft der Bierbrauer in Paris. Die Pariser Feinbäckerei ist von Deutschösterreichern gegründet worden. Heute noch heisst der Pariser Feinbäcker le Viennois, der Wiener; er ist in der Regel freilich ein Reichsdeutscher. In der Möbelindustrie des Faubourg St. Antoine sind viele Deutsche als Kleinmeister und als Tischlergehilfen tätig. Deutsche Herrenschneider sind neben den englischen sehr gesucht. Die Kellner in den Fremdenhotels sind zumeist Reichsdeutsche, die Portiers Deutschschweizer. Der Pariser Ausfuhrhandel beschäftigt mit Vorliebe deutsches Bureaupersonal. Tausende deutscher Dienstmädchen sind in Paris beschäftigt. [1] Nach dem französischen Rechte sind alle in Frankreich geborenen Kinder französische Staatsbürger. Die Kinder der deutschen Arbeiter, die in Paris heimisch werden, sind also Bürger der Republik. Dennoch denkt niemand daran, dass Frankreich diesen Kindern öffentliche Schulen mit deutscher Unterrichtssprache schaffen sollte. Und wenn der Zuzug deutscher Arbeiter nach Paris noch so gross würde, Paris bliebe doch stets eine französische Stadt und der deutsche Arbeiter, der in Paris heimisch wird, würde stets in der französischen Kulturgemeinschaft aufgehen, Franzose werden. Denn die Grenze zwischen der deutschen und der französischen Nation ist in blutigen Kriegen festgestellt worden. Das Schwert hat die Grenzfurchen gezogen. Wer sie überschreitet, um nicht wiederzukehren, gibt für sich und seine Kinder seine Nationalität auf.
Tschechische Arbeiter wandern nach Wien, nach Deutschböhmen und Deutschmähren, wie deutsche Arbeiter nach Paris wandern. Aber hier hat kein Friedensschluss nach blutigem Kriege Grenzmauern zwischen den Nationen aufgerichtet. Das Gesetz kennt hier nicht Deutsche noch Tschechen, sondern nur Bürger des Staates, nicht deutschen noch tschechischen Boden, sondern nur Reichsländer. Keiner Nation beschirmt hier die wehrhafte Volkskraft ihren Boden. Die tschechischen Arbeiter bevölkern und bereichern unsere Grossstädte, unsere Industriegebiete; müssen sie nicht fordern, dass der Staat, der ja kein deutscher, der auch ihr Staat ist, ihnen auch hier gewähre, was sie zur Erhaltung und Entwicklung ihrer nationalen Kultur brauchen? Der Deutsche sieht, wie der Strom der slawischen Einwanderer anschwillt, wie sie immer lauter Volksschulen, Mittelschulen, Beamte, Kulturinstitute für ihre Nationalität fordern; muss ihm nicht bange werden bei dem Gedanken, dass die deutsche Stadt zweisprachig werden, dass die Mehrsprachigkeit die sozialen Reibungen verstärken, dass die deutsche Heimat zur Stätte wilden Sprachenkampfes werden wird Noch hat keine Nation eine Stadt mit zwei Millionen Bewohnern anders als auf dem Schlachtfeld erobert, kein Volk eine Grossstadt ohne Schwertstreich preisgegeben; kann hier durch Gerichtsentscheidungen und Parlamentsbeschlüsse die Grenze zwischen den Völkern verschoben werden, wie die Tschechen wollen, verewigt, wie die Deutschen wünschen? Darum will sich keines der beiden Völker in dieser Frage der Entscheidung einer feindlichen Parlamentsmehrheit unterwerfen. Die Deutschen können die Lex Kolisko-Axmann, die Tschechen die Errichtung öffentlicher tschechischer Schulen in Wien nicht durchsetzen. Nur wer vom parlamentarischen Kretinismus völlig gefangen ist, kann meinen, dass der Zufall eines Mehrheitsbeschlusses hier entscheiden werde, was überall und zu allen Zeiten nur mit der Waffe in der Hand entschieden worden ist. Die parlamentarische Obstruktion ist nichts anderes als die Revolte der Völker gegen die Anmassung des Parlamentarismus, der mit Mehrheitsbeschlüssen entscheiden will, was stets nur Blut und Eisen entscheiden konnten.
Kein Volk bildet in diesem Reiche die Mehrheit; aber keines will sich die Grenzen seines Sprachgebietes durch den Beschluss einer fremden Mehrheit zumessen lassen. Keiner Nation gewährt unsere Verfassung das Recht der Eigengesetzgebung und Selbstverwaltung; darum wahrt sich jede Nation die volle Freiheit der Abwehr gegen eine Gesetzgebung und Verwaltung, die sie nicht als ihren Besitz anerkennt. Durch die nationale Obstruktion ist das Mehrheitsprinzip aufgehoben. Badeni ist über seine Sprachenverordnungen gefallen, obwohl er eine sichere Mehrheit hatte. Bienerth kann (trotz der Geschäftsordnungsreform!) seine Sprachenvorlagen nicht einmal in einen Ausschuss bringen, obwohl er über eine Mehrheit verfügt. Wenn selbst die Amtssprachenfrage dem Mehrheitsbeschluss entzogen wird, wie erst die Frage der Minderheitsschulen, die viel tiefer in die nationalen Verhältnisse eingreift, wie erst die Wiener Frage, das nationale Problem der Stadt, in der zwei von den neun Millionen Deutschen Oesterreichs leben! Ich nenne diese Aufhebung des Mehrheitsprinzips durch die fortwährende Drohung der nationalen Obstruktion die negative Autonomie. „Das Recht der Nationen auf Obstruktion ist unsere ungeschriebene Verfassung ... Für die Nationen bedeutet das Recht auf Obstruktion ein Stück der nationalen Autonomie. Jede Nation ist dagegen gesichert, dass der Kreis ihres Rechtes oder ihrer Macht durch Mehrheitsbeschluss oder Regierungsverfügung verkleinert werde; was sie nicht ertragen kann oder will, braucht sie nicht zu dulden. Aber gerade weil nun keine Nation mehr eine Minderung ihrer Macht dulden muss, kann auch kein Volk eine Ausdehnung seiner Macht, eine Ausgestaltung der seiner Kultur dienenden Institutionen erringen, wenn die anderen Völker oder auch nur eines von ihnen sie ihm nicht zugestehen wollen. Die negative Autonomie, die Autonomie der Abwehr, macht die Nationen allmächtig, jede Minderung ihrer Macht abzuwehren, aber sie macht sie auch ohnmächtig, die Mehrung ihrer Macht zu erringen.“ [2] Dieser Zustand lastet schwer auf allen Nationen: auf den Deutschen in Böhmen ebenso wie auf den Tschechen in Wien. Aber dieser Zustand ist. Jede taktische Erwägung muss von der Erkenntnis ausgehen, „dass an den rechtlichen Beziehungen der Nationen heute nichts Wesentliches mehr geändert werden kann, ausser im Wege der Vereinbarung, die gegenseitige Zugeständnisse voraussetzt“.
In Zeiten ruhiger Entwicklung wird Oesterreich diese Entwicklungsstufe nicht überwinden. Sie wird überwunden werden in einer Zeit grosser Umwälzungen, in einer Zeit der staatlichen Neubildungen, der Kriege, der Revolutionen. In einer solchen Zeit, in der alles Starre zu wanken beginnt, wird die österreichische Demokratie erweisen müssen, ob sie die Kraft besitzt, das nationale Problem zu lösen. Die Demokratie wird die negative Autonomie aufheben, indem sie den Nationen die positive Autonomie gibt: „Von der negativen Autonomie durch die Obstruktion der Gesetzgebung zur positiven Autonomie durch die Okkupation der Verwaltung führt die Nationen ihr Weg.“ Erst im Rahmen eines solchen Neubaues wird das Problem der nationalen Minderheiten gelöst werden. Die Deutschen werden den tschechischen Minderheiten in ihren Städten gewähren müssen, was sie ihren Minderheiten im tschechischen Gebiet erhalten wollen. Und wenn selbst die Deutschen – ein Volk, dessen Zahl in jedem Jahre um eine Million Köpfe wächst! – ihre Minderheiten leichten Herzens preisgeben wollten, so müssten sie dennoch, wenn sie im Rahmen dieses Staates Autonomie und Frieden jemals erlangen wollen, den fremden Minderheiten in ihrem Gebiet ein fest umgrenztes Recht einräumen. Denn die Völkchen um uns sind zu klein, als dass sie auf Hunderttausende ihrer Volksgenossen verzichten könnten. Als Kaufpreis für die eigene nationale Autonomie, als Bedingung des dauernden nationalen Friedens werden die Deutschen den slawischen Minderheiten gewähren müssen, was sie ihnen heute verweigern. Nicht ein natürliches Recht, das immer und überall gilt, aber eine Bedingung des nationalen Friedens und der nationalen Selbstregierung in diesem Reiche ist der Schutz der Minderheiten.
Freilich, ob die Demokratie in Oesterreich die revolutionäre Tat eines solchen Neubaues zu vollbringen fähig sein wird, wissen wir nicht. Kann sie es nicht, dann wird die Geschichte über sie hinweggehen. Dann mag dieser Staat in den Flammen eines Weltenbrandes aufgehen. Dann wird die Geschichte auch auf diesem Boden mit dem Schwerte die Grenzfurchen zwischen den Völkern ziehen. Dann freilich wird es in Wien ein tschechisches Problem so wenig geben wie in Paris ein deutsches.
Noch stehen wir vor der Stunde der Entscheidung. Aber die nationalen Probleme sind da und heischen ihre Lösung. In jedem Augenblick taucht irgend eine nationale Einzelfrage auf, entfesselt die Leidenschaften, trägt den Zwiespalt auch in unsere Reihen. Die Frage, wie wir diese Schwierigkeiten überwinden sollen, ist heute das wichtigste Problem unserer Taktik.
Im Budgetausschuss erhebt sich Herr Stanek und stellt den Antrag, der Staat möge der tschechischen Privatschule in Wien eine Subvention von 100.000 K gewähren. Was die Annahme eines solchen Antrages, die Durchführung eines solchen Beschlusses bedeuten würde, weiss jedermann, der die Bedeutung des Wiener Problems begreift: sie würden Oesterreich in nationale Kämpfe stürzen, denen gegenüber der Kampf um die Badenischen Sprachenverordnungen als eine harmlose Episode erschiene. Und wenn der Staat zugunsten dieser einen Minderheitsschule eingreifen wollte, stünden sofort ein paar hundert nationale Schulfragen auf der Tagesordnung des Parlaments: jede Minderheitsschule in Tirol und in der Bukowina, in Schlesien und im Küstenland würde Staatshilfe fordern, über jede dieser hundert lokalen Nationalitätenfragen sollte das Parlament entscheiden. Und das in einer Zeit, in der sich keine Nation dem Mehrheitsbeschluss unterwerfen will! Der Versuch, jede einzelne dieser nationalen Schulfragen durch Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, wäre der Selbstmord des demokratischen Parlaments! Die Bahn wäre frei für einen Cäsar, der den Völkern mit dem Degen in der Hand die Bedingungen des Friedensschlusses diktieren könnte! Darum haben die deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten erklärt, dass sie für keinen Antrag stimmen könnten, der das Parlament zur Entscheidung über einzelne Minderheitsschulen berufen will; darum haben sie gegen den Antrag Stanĕk gestimmt und werden sie gegen jeden ähnlichen Antrag stimmen müssen.
Dem Antrag Stanĕk hat der Sozialdemokratische Verband die Resolution Adler gegenübergestellt. Sie will jeder Nation einen festen Betrag zur Unterstützung ihrer Minderheitsschulen gewähren; über die Verwendung dieses Betrages soll die Nation selbständig, autonom entscheiden. Der Beschlussfassung des Parlaments soll diese Frage gänzlich entzogen werden. Wir wollen nicht über die nationalen Einzelfragen streiten, sondern diese Fragen prinzipiell lösen, indem wir jeder Nation ihre Angelegenheiten zu selbständiger Entscheidung zuweisen; nicht Kampf um nationale Einzelfragen, sondern prinzipielle Lösung dieser Einzelfragen durch die nationale Autonomie – das bedeutet die Resolution Adler.
Die deutsche Sozialdemokratie ist von den tschechischen Genossen mit leidenschaftlichen Worten bekämpft worden, weil ihre Vertreter gegen die Resolution Stanĕk gestimmt haben. Das wichtigste Problem unserer Taktik ist in diesem Konflikt sichtbar geworden: Sollen wir uns an dem Kampf um nationale Einzelforderungen beteiligen oder sollen wir allen Forderungen der bürgerlichen Nationalisten die Forderung nach der prinzipiellen Lösung der nationalen Probleme durch die nationale Autonomie entgegenstellen? Das ist die Frage, die den Gegensatz zwischen der Resolution Stanĕk und der Resolution Adler allgemein ausdrückt.
Ich habe diesen Gegensatz schon im letzten Abschnitt meines Buches über die Nationalitätenfrage dargestellt. Ich habe die Taktik, die unsere Kräfte mit nationalen bürgerlichen Parteien zum Kampf um nationale Gegenwartsforderungen verbünden will, die Taktik des nationalen Revisionismus genannt; die Taktik aber, die jede Beteiligung an den Kämpfen um nationale Einzelforderungen ablehnt und allen nationalen Gegenwartsforderungen die prinzipielle Forderung nach der nationalen Autonomie gegenübersteht, nannte ich die prinzipielle internationale Taktik. Die tschechischen Genossen haben sich meine Terminologie angeeignet. Nur mit einem kleinen Unterschied: Sie nennen nationalen Opportunismus, was ich prinzipielle internationale Taktik genannt habe; sie halten für prinzipiell und international, was ich nationalen Revisionismus nenne.
Wir stehen auf der Entwicklungsstufe der negativen Autonomie. Die Erfüllung wichtiger nationaler Einzelforderungen durch blossen Mehrheitsbeschluss ist heute unmöglich; jeder Versuch solcher Lösung führt nationale Kämpfe herbei, die für den Klassenkampf der österreichischen Arbeiterschaft die allergrösste Gefahr sind. Unter solchen Umständen kann es für uns nur eine Aufgabe geben: Wir müssen die Völker begreifen lehren, dass sie nicht im nationalen Kampfe, sondern nur durch Vereinbarungen, die gegenseitige Zugeständnisse voraussetzen, vorwärtskommen, nur auf diese Weise Schritt für Schritt eine Nationalitätenverfassung aufbauen können, die den Bedürfnissen aller Völker genügt. Diese Aufgabe muss jede sozialdemokratische Partei innerhalb ihrer Nation im Kampf gegen die bürgerlichen Parteien der eigenen Nation erfüllen. Steht also zum Beispiel die Frage der Wiener Minoritätsschulen zur Entscheidung, so ist es die Aufgabe der deutschen Sozialdemokraten, den deutschen bürgerlichen Parteien zu sagen, dass wir nicht hoffen dürfen, dem deutschen Volke seine Autonomie zu erringen, wenn wir nicht den fremden Minderheiten auf deutschem Boden ihr Recht verbürgen. „Bietet den Tschechen Minderheitsschulen in Wien als Kaufpreis für die volle Autonomie der Deutschen in Böhmen und Mähren!“, das hätten die deutschen Sozialdemokraten der deutschen Bourgeoisie bei diesem Anlass sagen müssen. Anderseits wäre es die Pflicht der tschechischen Sozialdemokraten gewesen, bei diesem Anlass den tschechischen bürgerlichen Parteien zu sagen, dass die tschechischen Minoritäten im deutschen Gebiet ihr Recht heute, auf der Entwicklungsstufe der negativen Autonomie, nicht durch Demonstrationsanträge, nicht durch Mehrheitsbeschlüsse, nicht im Kampf, sondern nur im Rahmen eines nationalen Ausgleiches erlangen können. „Bietet den Deutschen die volle Autonomie in Böhmen und Mähren und tauschet dafür Minderheitsschulen in Wien ein!“, so hätten die tschechischen Sozialdemokraten zur tschechischen Bourgeoisie sprechen müssen. Das wäre prinzipielle internationale Taktik.
„Die nationale Assimilation der tschechischen Arbeiter im deutschen Gebiet ist ein natürlicher Prozess. Fördert diesen Prozess, indem ihr deutsche Kulturinstitute für die Arbeiterschaft errichtet, indem ihr ihr deutsche Kindergärten, deutsche Schulen aller Art, deutsche Volksbildungsinstitute, deutsche Theater zur Verfügung stellt und ihre Tore auch dem tschechischen Arbeiter öffnet! Stosset den tschechischen Arbeiter nicht durch Gewalttaten, nicht durch Hochmut von euch! Nicht wenn ihr ihn von euch stosset, sondern wenn ihr ihn einladet, mit uns die reichen Schätze der deutschen Kultur zu geniessen, fördert ihr die friedliche nationale Assimilation. Aber erwartet nicht, dass der Staat, von dessen Bürgern wir Deutschen nur ein Drittel sind, diese Assimilation durch Rechtsverweigerung erzwingen, durch die brutale Gewalt des Gesetzes seinen Bürgern auferlegen kann. Der demokratische Nationalitätenstaat muss jedem Volke die Schulen gewähren, die es braucht.“
So müssten die deutschen Sozialdemokraten bei solchem Anlass sprechen.
„Die friedliche Assimilation eines grossen Teiles der tschechischen Arbeiter an die deutsche Umgebung ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung. Wir wollen verhindern, dass die Assimilation durch den Terror der Unternehmer und Hausbesitzer, durch bübische Gewalttaten, durch Gesetze und Gerichtsentscheidungen erzwungen wird. Aber wir können nicht erwarten, dass der Staat die Assimilation auch dort verhindert, wo sie aus zwanglosem Verkehr hervorgeht. Eine Minderheit in diesem Reiche, können wir nur solche Minderheitsschulen erlangen, welche den Assimilationsprozess nicht erzwingen, aber auch nicht verhindern. Erklären wir uns damit einverstanden, dass an den tschechischen Schulen im deutschen Gebiet die deutsche Sprache als Unterrichtsgegenstand, auf der höheren Stufe bei dem Unterricht einiger Lehrgegenstände auch als Unterrichtssprache gebraucht wird, dann werden wir die Minderheitsschulen erlangen.“
Das hätten die tschechischen Genossen ihren Nationalisten sagen müssen. Das wäre prinzipielle internationale Taktik.
Ob wir für oder gegen den belanglosen Antrag des Herrn Stanek stimmen sollten, mag dem parlamentarischen Kretinismus als eine wichtige Frage erscheinen; die Abstimmung wäre höchst gleichgültig, wenn nur unsere ganze Propaganda gezeigt hätte, dass wir auch in dieser Frage in der Sache einig sind, auch hier der ganzen Bourgeoisie, der deutschen sowohl wie der tschechischen, als Sachwalter des Friedens gegenüberstehen.
Entspräche die Taktik der tschechischen Sozialdemokraten diesen Grundsätzen, dann hätten die deutschen Genossen Herrn Stanĕk nicht entgegentreten müssen; sie hätten den geschäftigen Herrn beruhigt der „autonomen Gerichtsbarkeit des Genossen Nĕmec überlassen“ und sich selber gegen die deutschen Stanĕks wenden können. Leider sind die tschechischen Genossen in diesem Falle mit Herrn Stanĕk Arm in Arm marschiert. Unsere tschechischen Genossen sind stets bemüht, zu zeigen, in welchen Fragen sie mit dem tschechischen Bürgertum einig sind; sie sind viel weniger eifrig, zu demonstrieren, wodurch sie sich auch in nationalen Fragen von der tschechischen Bourgeoisie unterscheiden. Sie vertreten mit grosser Entschiedenheit die tschechischen Einzelforderungen in der Internationale; ihr Eifer ist weit weniger gross, das Prinzip der nationalen Verständigung und der nationalen Autonomie gegenüber den tschechischen Einzelforderungen zu vertreten. Und da die deutschen Genossen einer solchen nationalen Einzelforderung nicht erst im Hause in der Rede des Genossen Adler, sondern schon im Ausschuss in der Rede des Genossen Seitz das Prinzip der nationalen Autonomie gegenübergestellt haben, beschuldigte die tschechische Parteiexekutive uns des – nationalen Opportunismus.
Wir verstehen sehr wohl, dass die tschechische Arbeiterschaft, deren nationale Bedürfnisse weniger vollständig befriedigt sind als die des deutschen Proletariats, ungeduldig wird, wenn wir sie auf den langen und mühseligen Weg zum dauernden Friedensschluss der Nationen verweisen. Aber gerade die tschechische Nation braucht eine Partei, die mutig genug ist, zu bekennen, dass aller Kampf um Einzelforderungen zu keinem Erfolge führen kann, dass nationale Erfolge nur durch Kompromisse errungen werden können! Seit 1897 hat die tschechische Nation eine Niederlage nach der anderen erlitten, weil sie dieser Tatsache nicht Rechnung trägt. Die tschechische Bourgeoisie hat die Polizei gegen die Obstruktion ins Feld geführt, um morgen selbst zu obstruieren; sie hat das Parlament obstruiert, um morgen selbst die Obstruktion umzubringen; sie hat in der Opposition wie in der Regierungsmehrheit ihr Glück versucht; sie hat bald mit dem Hochverrat kokettiert, bald die Schwärzesten der Schwarzen im Patriotismus zu überbieten versucht. Und der Erfolg? Eine Kette von Niederlagen! Uns dünkt, es wäre Zeit, dass die tschechische Sozialdemokratie ihre Nation lehre, dass die negative Autonomie, die die Tschechen als „deutsches Veto“ kennen gelernt haben, nicht durch List, nicht durch parlamentarische Ränke, nicht durch Gewalt überwunden werden kann, sondern nur durch die positive Autonomie der Nationen!
Gewiss, auch die schönsten Reden über den nationalen Frieden und die nationale Autonomie sind nur Worte, nur Propagandamittel. Sie schaffen den tschechischen Minderheiten keine Schulen – beiläufig ebensowenig wie ihnen nationale Demonstrationsanträge Schulen schaffen. Den nationalen Friedensschluss herbeizuführen, der allein auch den nationalen Minderheiten ihr Recht verbürgen kann, dazu fehlt uns freilich noch die Macht. Aber je mehr wir erstarken, desto näher kommen wir auch diesem Ziele.
Wir haben heute eine Regierung, die sich auf die deutsche, die polnische und die italienische Bourgeoisie stützt, der Unterstützung der anderen Nationen entraten kann. Wären nur um 15 deutsche, polnische und italienische Sozialdemokraten mehr, also ebenso viele Regierungsmänner weniger im Parlament, dann wäre das System Bienerth unmöglich. Die deutschbürgerlichen Parteien müssten sich dann mit den tschechischen in einer Mehrheit vereinigen! Und da eine solche Koalition durch die ungelösten nationalen Fragen immer wieder gesprengt wird, müssten die Vertreter des deutschen und des tschechischen Bürgertums den Weg zum nationalen Frieden suchen, weil ohne ihre dauernde Vereinigung die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit nicht mehr möglich wäre. Aus dem Parlamentarischen in das Soziale übersetzt: Heute kann sich die Bourgeoisie den Luxus des nationalen Kampfes noch gestatten; je mehr die Arbeiterklasse erstarkt, desto zwingender wird die Notwendigkeit für die Bourgeoisie, den Weg zum nationalen Frieden zu suchen und zu finden, weil sie nur noch vereint das Proletariat beherrschen kann. Wird die soziale Opposition so stark, dass gegen sie alle bürgerlichen Parteien vereinigt werden müssen, dann kann keine Regierung bestehen, die eine nationale Opposition herausfordert. Durch die blosse Tatsache ihres Wachstums bahnt die Sozialdemokratie den Weg zum nationalen Frieden.
Jedes Mandat, das die deutsche Sozialdemokratie der deutschen Bourgeoisie abnimmt, stärkt nicht nur die Macht der Arbeiterklasse im Parlament, es schwächt auch die deutsch-polnisch-italienische Bourgeoismehrheit; je mehr Mandate aus dem Besitzstände der deutschen Bourgeoisie in den Besitz der deutschen Sozialdemokratie übergehen, desto früher muss die deutsche Bourgeoisie die Bundesgenossenschaft der tschechischen suchen, desto naher sind wir einem nationalen Ausgleich, der jeder Nation, also auch der tschechischen, wenigstens einen Teil dessen geben muss, was sie fordert.
Nicht der Kampf um nationale Einzelfragen, wie begreiflich und begründet sie an sich sein mögen, ist also unsere Aufgabe. Das nationale Recht kann nur noch in einem nationalen Friedensschlüsse begründet werden. Durch eine Propaganda, die den Losungen des nationalen Kampfes das grosse Ziel der nationalen Autonomie gegenüberstellt, müssen wir den Völkern den Weg zum Frieden weisen. Das Erstarken der Arbeiterklasse, das die Besitzenden zusammenschweisst, muss sie zwingen, diesen Weg zu gehen. Mit Mehrheitsbeschlüssen heilt man die Krankheit dieses Reiches nicht. Die nationalen Probleme dieses Reiches können erst gelöst werden, wenn der sieghafte Aufstieg der Arbeiterklasse die kämpfenden Bourgeoisien zum Friedensbündnis zwingt. Was sonst im Völkerkriege das Schwert vollbracht hat, kann hier nur der eiserne Zwang des Klassenkampfes vollbringen.
1. Vergleiche Schirmacher, Die Ausländer und der Pariser Arbeitsmarkt, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 27. Band.
2. Otto Bauer, Unser Nationalitätenprogramm und unsere Taktik. Der Kampf, I., Seite 205.
Leztztes Update: 6. April 2024