Otto Bauer

Die internationalen Ursachen der Teuerung

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Die Teuerung in der Weltwirtschaft


Von Tag zu Tag schwanken die Warenpreise. Jede Veränderung des Geschäftsganges, der Zufall des Ernteausfalles, die wechselvollen Schicksale der Produzentenverbände, die Veränderungen in den Verkehrsbedingungen, die Launen der Spekulation, die Veränderungen des Zinsfußes und der Wechselkurse beeinflussen die Marktpreise. Aber mögen auch die Preise heute höher, morgen niederer sein, so ist doch das allgemeine Preisniveau, auf dem sich die täglichen Preisschwankungen abspielen, das Niveau der Durchschnittspreise, um die die täglichen Marktpreise auf und ab pendeln, in den letzten Jahren offenkundig gestiegen. Diese Erscheinung ist in der ganzen Weltwirtschaft zu beobachten. Soweit die Teuerung eine internationale Erscheinung ist, ist sie nicht auf die Gesetzgebung eines einzelnen Staates, sondern auf die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt zurückzuführen. Vor dreiundsechzig Jahren konnte Karl Marx sagen, die wohlfeilen Preise seien die schwere Artillerie der Bourgeoisie. Der heutigen Entwicklung des Kapitalismus geben hohe Warenpreise ihr Gepräge.

Das gesellschaftliche Wertprodukt wird in der kapitalistischen Gesellschaft auf die Klassen verteilt. Aus dem Reichtum, den die Arbeit schafft, erhält jede Klasse ihren Teil: der Arbeiter den Lohn, der Fabrikant und der Kaufmann den Unternehmergewinn, der Leihkapitalist den Zins, der Grundeigentümer die Grundrente. Die Teuerung verändert die Verteilung der Güter. Am schnellsten wächst die Grundrente. Aber auch den Profit steigern die hohen Preise. Der Arbeitslohn aber sinkt. Mag der Geldlohn des Arbeiters unverändert bleiben oder steigen, so sinkt doch sein Sachlohn, wenn die Kaufkraft der Lohnkrone gemindert wird. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtum wird zum Nachteil der Arbeiterklasse, deren Arbeit den Reichtum schafft, verändert. Der Grad der Ausbeutung steigt.

Mit den Verhältnissen der Klassen verändern sich aber auch die Verhältnisse der Länder zueinander. So haben die Vereinigten Staaten aus den hohen Weizen- und Baumwollpreisen ungeheuren Gewinn gezogen, den die Weizen- und Baumwollverbraucher Europas zahlen mußten. Anderseits fließen dem europäischen Kapital Riesengewinne aus den fremden Ländern zu, in denen es in der Industrie, im Bergbau, im Verkehrswesen angelegt ist und denen es seine Waren zu erhöhtem Preis verkauft. Die Rohstoffländer bereichern sich auf Kosten der Industrieländer, die Länder, die Kapital jenseits ihrer Grenzen anlegen, auf Kosten der Anlagegebiete, die Ausfuhrländer auf Kosten der Einfuhrgebiete. In der ganzen Weltwirtschaft ruft die Teuerung die gewaltigsten Wertverschiebungen hervor.

Aber folgenschwerer noch als die Wirkungen der Teuerung selbst sind die Bemühungen des Kapitalismus, die Teuerung zu überwinden.

Die Industrialisierung der Weltwirtschaft durch den Kapitalexport ist eine der Ursachen der Getreideteuerung. Aber der Kapitalexport wird auch zum Mittel, das Angebot auf dem Getreidemarkte zu steigern. Französische, englische, deutsche Kapitalisten borgen der russischen Regierung ungeheure Geldsummen. Die russische Regierung muß ihnen dafür in jedem Jahre Hunderte Millionen Zinsen zahlen. [27] Sie muß dem russischen Bauern schwere Steuerlast aufbürden, um diesen ungeheuerlichen Tribut an das internationale Kapital aufzubringen. Noch lebt der größte Teil der russischen Bauernschaft naturalwirtschaftlich; er verzehrt den größten Teil seiner Ernte selbst und verkauft nur so viel Getreide, daß er aus dem Erlös die Steuern zahlen und die wenigen Gebrauchsgegenstände, die er sich nicht selbst erzeugt, kaufen kann. Je höher also die Steuern sind, die dem Bauern auferlegt werden, desto weniger Getreide kann er selbst verzehren, desto mehr Getreide muß er notgedrungen verkaufen.

Das von den Bauern verkaufte Getreide wird von Händlern aufgekauft und ins Ausland ausgeführt. So schließt sich die Kette: Je größer die Zinsenlast des russischen Staates, desto größer die Steuerlast des Bauern, je mehr Steuern die Bauern zahlen müssen, desto mehr müssen sie ihren Getreideverbrauch einschränken, und je mehr Getreide sie verkaufen, desto schneller steigt also die russische Getreideausfuhr. So zahlt Rußland mit dem ausgeführten Getreide seine Schuldzinsen an das europäische Kapital; das Kapital ernährt mit dem Getreide, das die russischen Bauern als ihren Tribut abführen müssen, die Lohnsklaven in den Fabriken. Die Hoffnung, daß die Getreideknappheit, die die Teuerung herbeiführt, durch vermehrte Getreideausfuhr aus Rußland überwunden werden könne, gründet sich also auf die Erwartung, daß das internationale Kapital noch höheren Tribut von den russischen Bauern einheben wird. Aber die Erhöhung der Steuerlast der russischen Bauern bedeutet die Unterernährung, die Verzweiflung, die Rebellion in den Dörfern des großen russischen Reiches. Wenn der Kapitalismus die Getreideteuerung überwinden will, wirft er die Fackel der Revolution in den Osten.

Noch liegen ungeheure Flächen guten Weizenbodens in Argentinien und in Kanada brach. Der Kapitalismus muß sie besiedeln, um die anschwellenden Volksmassen der Industrieländer zu ernähren. Wie tut er das? Er richtet im Osten und Süden Europas die bäuerliche Hausindustrie zugrunde. Er bedrückt die Bauern mit Schuldzinsen und Steuern. Und wenn es ihm gelingt, Hunderttausende aus Galizien, Ungarn, Italien, Rußland, der Balkanhalbinsel von der Scholle zu vertreiben, auf der seit Jahrhunderten ihre Väter gesessen sind, wenn Hunger und Verzweiflung die Unglücklichen zur Auswanderung zwingen, dann führt er sie hinüber über den Ozean, um sie dort in Landwirte zu verwandeln, die ihm und seinen Sklaven die Brotfrucht liefern sollen.

Noch sind ganze Erdteile dem Kapitalismus fast verschlossen, Vorderasien zum Beispiel. Dort könnten Weizen, Wolle, Baumwolle, Rohöl in großen Mengen gewonnen werden. Der Kapitalismus geht daran, durch Eisenbahnbauten und durch gewaltige Bewässerungsanlagen sich in Westasien ein neues Rohstoffgebiet zu erschließen. Noch ist er weit entfernt von diesem Ziele. Aber schon mißgönnen die Kapitalistenklassen der Großmächte einander jeglichen Teil an der erhofften Beute. Auf den Werften Deutschlands und Englands werden die Riesenkriegsschiffe gebaut, die vielleicht einmal in blutigem Weltkrieg über den Besitz Westasiens entscheiden werden.

Jenseits von Suez, wo die zehn Gebote nicht mehr gelten, wo heute noch die Naturvölker, ihres Landes beraubt, zu harter Zwangsarbeit gepeitscht werden können, dort sind die Rohstoffe zu holen, an denen es heute der kapitalistischen Welt fehlt: Baumwolle, Wolle, Kohle, Kautschuk, Metalle, Gold. Der Heißhunger nach ihnen ist eine der treibenden Kräfte der kapitalistischen Kolonialpolitik. Und Hand in Hand mit ihr geht die Eifersucht zwischen den Nationen, steigen furchtbar die Kriegsrüstungen, erhebt sich drohend immer wieder die Kriegsgefahr. Zieht der Kapitalismus aus, die Teuerung zu überwinden, so bringt er der Menschheit noch furchtbareres Elend, noch schlimmeres Leid als die Teuerung.

»Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern ... Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, das heißt, ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft.« [28]

Die schwere Krankheit der kapitalistischen Weltwirtschaft wird in der Teuerung offenbar. Zugleich werden aber auch die heilenden Kräfte sichtbar, die diese Krankheit überwinden werden. Dieselben Organisationen, deren Preisdiktat die Teuerung erzeugt, vergesell-schaftlichen auch die Arbeitsmittel und die Arbeit selbst. Die von den Kapitalisten vergesellschaftlichten Arbeitsmittel sind reif, enteignet zu werden.

»Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.« [29]

Die Überführung der Arbeitsmittel aus den Händen der großen Aktiengesellschaften und Banken, der Kartelle und Trusts in das Eigentum der organisierten Gesellschaft wird eine neue Epoche der Weltwirtschaft einleiten. Die planmäßige Organisation der Arbeit innerhalb der einzelnen Staaten macht erst die planmäßige Organisation der Weltwirtschaft möglich. Wie die Teuerung internationale Ursachen hat, so kann auch die Krankheit der Gesellschaft, deren Symptom sie ist, nur durch internationale Organisation überwunden werden. Die Staatsverträge, die heute die einzelnen Staaten verbinden, die internationalen Verwaltungsgemeinschaften und internationalen Ämter, die heute schon manchen wichtigen Zweig der Weltwirtschaft, das Post- und Telegraphenwesen zum Beispiel, international ordnen, die ganze Entwicklung des Völkerrechtes in unseren Tagen — all das ist nur die Keimzelle, aus der sich einst der große Körper einer internationalen Wirtschaftsorganisation entwickeln wird. [30]

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Fußnoten

27. Im Jahre 1908 brauchte Rußland für die Verwaltung und Verzinsung der Staatsschuld 386 Millionen Rubel; etwa die Hälfte dieser Summe fließt in das Ausland ab. Vergleiche Sodoffsky, Beiträge zu Kritik und Reform des russischen Reichsbudgets, in: Finanz-Archiv, 26. Jg, 2. Bd.

28. Marx-Engels, Das kommunistische Manifest.

29. Marx, Das Kapital, I., Seite 728.

30. Über die Ansätze zu einer internationalen Wirtschaftsorganisation vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, in: Marx-Studien, II., Seite 517 ff.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023