O. B.

Rundschau

Mietzinssteigerung und Mieterbewegung

(1. März 1911)


Der Kampf, Jg. 4 6. Heft, 1. März 1911, S. 282–283.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Steigen der Mietzinse hat die Arbeiter Wiens erbittert. Mieterorganisation, Mieterstreik, so hallt es durch die Versammlungen. Phantastische Erwartungen, Hoffnungen, Pläne tauchen auf. Eine kleine Gruppe anarchistischer Querköpfe wirft den Gedanken des allgemeinen Mieterstreiks in die Massen. Partielle Mieterstreiks werden von sozialdemokratischen Organisationen geführt. Eine Mieterorganisation wird vorbereitet.

Worauf ist das Steigen der Mietzinse zurückzuführen? Auf die Habgier der Zinsgeier – rufen die Arbeiter. Auf die Steuerpolitik der Gemeinde – sagen die Politiker. Aber ein noch so habgieriger Hausbesitzer könnte die Mietzinse nicht erhöhen, er könnte nicht einmal den erhöhten Wasserzins auf die Mieter abwälzen, wenn in Wien viele Wohnungen leer stünden! Ein noch so festgefügtes Kartell der Hausbesitzer wäre machtlos, wenn das Angebot auf dem Wohnungsmarkt grösser wäre als die Nachfrage. Die wahre Ursache der Mietzinssteigerung ist die Wohnungsnot: die Tatsache, dass die Bautätigkeit in den letzten Jahren hinter dem Wachstum der Bevölkerung zurückgeblieben ist. Das nützt die Habgier der Hausbesitzer aus; sie benützt dazu den Anlass, den ihr die christlichsoziale Gemeindeverwaltung gegeben hat.

In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre der städtische Grund und Boden Gemeindeeigentum und die Erbauung von Wohnhäusern wäre Aufgabe der Gemeinde. Die Gemeinde würde feststellen, um wie viele Seelen die Bevölkerung der Stadt in jedem Jahre wächst und sie würde in jedem Jahre so viele Wohnungen bauen, als erforderlich sind, den Bevölkerungszuwachs zu beherbergen. Die Zahl der Wohnungen würde in demselben Verhältnis vermehrt, wie die Zahl der Bewohner der Stadt steigt.

In der kapitalistischen Gesellschaft ist der Boden Privateigentum und die Erbauung von Wohnhäusern ist die Aufgabe der Kapitalisten. Die Kapitalisten bauen aber neue Wohnhäuser nur dann, wenn sie eine hohe Verzinsung des Boden- und Baukapitals erwarten können. Ist dies nicht der Fall, dann werden keine neuen Häuser gebaut. Die Zahl der Wohnungen bleibt unverändert, obwohl die Bevölkerung wächst. Es muss daher nun eine grössere Bevölkerung in denselben Wohnungen zusammengedrängt werden, in denen früher eine kleinere Bevölkerung wohnte.

Wie vollzieht sich dieser Prozess der Zusammendrängung?

Wenn die Bautätigkeit hinter dem Wachstum der Bevölkerung zurückbleibt, tritt Wohnungsnot ein: die Nachfrage nach Wohnungen ist grösser als das Angebot. Daher beginnen die Wohnungspreise zu steigen. Familien, die bisher zwei Zimmer bewohnt haben, können den erhöhten Mietzins nicht mehr bezahlen und müssen sich mit einem Zimmer begnügen. Familien, die bisher eine Wohnung allein bewohnt, sehen sich durch die Erhöhung des Mietzinses gezwungen, Aftermieter oder Bettgeher aufzunehmen. So drängen sich die Menschen dichter aneinander. Dadurdi wird ein Teil der alten Wohnungen von ihren bisherigen Bewohnern freigesetzt, um sofort von dem Bevölkerungszuwachs besetzt zu werden, für den auf diese Weise Raum geschaffen wurde. Anderseits ermutigt das Steigen der Mietzinse die Kapitalisten, die unterbrochene Bautätigkeit wieder aufzunehmen, wodurch die Zahl der Wohnungen vermehrt, die Wohnungsnot allmählich gelindert wird. So ist die Wohnungsteuerung das Mittel, durch das sich die Anpassung des Wohnungsbedarfes an die verfügbare Zahl von Wohnungen, die durch die Wohnungsnot erforderte Zusammendrängung der Bevölkerung durchsetzt. Könnte, wenn die Bautätigkeit hinter dem Bevölkerungswachstum zurückgeblieben ist, das Steigen der Mietzinse durch künstliche Mittel überhaupt verhindert werden, dann würde die Zusammendrängung der bisherigen Bewohner der Wohnungen unterbleiben und dies hätte zur Folge, dass der Bevölkerungszuwachs überhaupt keine Wohnungen finden könnte. An die Stelle der Wohnungsteuerung träte dann die Obdachlosigkeit in grösstem Umfang!

Es ist daher schlechthin unmöglich, das Steigen der Mietzinse zu verhindern, wenn die Bautätigkeit hinter dem Bevölkerungswachstum zurückgeblieben ist. Jede Wohnungsreform muss also damit beginnen, die Zahl der verfügbaren Wohnungen zu vermehren. Dies kann dadurch geschehen, dass: 1. die Gemeinden Wohnhäuser bauen; 2. der Staat und die Gemeinden die Schaffung von Baugenossenschaften erleichtern (Wohnungsfürsorgefonds, Fonds der Sozialversicherung); 3. die kapitalistische Bautätigkeit ermutigt wird, wozu in Oesterreich die Reform der Hauszinssteuer das wichtigste Mittel wäre. All das kann nur im politischen Kampf errungen werden!

Mieterorganisationen können durch die Agitation für solche Massregeln viel Gutes stiften. Aber die ehernen Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft können sie nicht aufheben! Unmittelbaren Einfluss auf die Wohnungspreise dürfen wir von keiner Mieterorganisation erwarten.

Partielle Mieterstreiks können nur dann mit Aussicht auf Erfolg unternommen werden, wenn ziemlich viele Wohnungen leer stehen. Bei Wohnungsnot werden die Hausbesitzer die Mieter, die die Zahlung des Mietzinses verweigern, pfänden lassen und delogieren, ohne fürchten zu müssen, dass die Wohnungen leer bleiben werden.

Ein allgemeiner Mieterstreik aber ist nur in der Revolution möglich. So in Warschau 1905, als die Staatsgewalt völlig zusammengebrochen war. Die Hausbesitzer konnten die Zahlung der Mietzinse nicht erzwingen, weil hinter den streikenden Mietern der Browning, die Bombe, der Generalstreik des revolutionären Proletariats stand. Der Zusammenbruch der russischen Staatsgewalt auf den Schlachtfeldern der Mandschurei musste vorausgehen, um im Zusammenhang der Revolution auch den allgemeinen Mieterstreik möglich zu machen. Solche Revolutionen kann man nicht machen. Sie treten ein, wenn weltgeschichtliche Ereignisse sie auslösen. Und wenn in West- und Mitteleuropa einmal die historischen Bedingungen des allgemeinen Mieterstreiks gegeben wären, dann wäre das Kampfobjekt nicht mehr die Höhe der Mietzinse, sondern der Besitz des Bodens selbst.

 


Leztztes Update: 6. April 2024