MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer
Der Kampf, Jg. 4 10. Heft, 1. Juli 1911, S. 445–451.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Mitten im Wahlkampf ist die tschechoslawische Sozialdemokratie gespalten worden. Am 15. Mai tagte in Brünn der konstituierende Parteitag der neuen Partei. Sie nennt sich „Tschechische sozialdemokratische Arbeiterpartei“, im Gegensatz zu der alten Partei, die sich bekanntlich „Tschechoslawische sozialdemokratische Arbeiterpartei“ nennt. Es gibt also jetzt innerhalb der tschechischen Nation zwei Parteien, von denen jede sich allein für berufen hält, den Klassenkampf des tschechischen Proletariats gegen den kapitalistischen Klassenstaat zu organisieren und zu führen.
Diese Abspaltung eines Teiles der tschechischen Genossen von der alten „tschechoslawischen“ Partei war lange schon vorbereitet. Sie wurde herbeigeführt durch den Streit um die gewerkschaftliche Organisation. Zentralisten und Separatisten standen einander auch in der politischen Organisation als Gegner gegenüber. Die „tschechoslawische“ Partei hat nun in Mähren die Führer der Zentralisten – unter ihnen Genossen, die seit Jahrzehnten im ersten Treffen der tschechoslawischen Sozialdemokratie gekämpft hatten – und ganze politische Organisationen, in denen die Zentralisten die Mehrheit bildeten, aus der Partei ausgeschlossen. Tausende altbewährter Genossen sahen sich nun aus dem Parteikörper ausgeschieden. Da sie trotzdem auf die politische Betätigung als Sozialdemokraten nicht verzichten wollten, gründeten sie neue politische Organisationen neben den Organisationen der alten Partei. Diese neuen Organisationen zogen allmählich die Zentralisten auch der anderen Länder an. Auch in Niederösterreich, in Schlesien, in Böhmen standen die Zentralisten innerhalb der Organisationen der alten Partei im heftigen Kampfe gegen die separatistische Führung. Durch diese Kämpfe erbittert, der Hoffnung, innerhalb der alten Partei den Separatismus besiegen zu können, seit der Ausschliessung der mährischen Zentralisten beraubt, traten nun auch diese Genossen aus der Partei aus, um neue, selbständige Organisationen zu gründen. So entstanden neben den Organisationen der alten Partei 135 neue politische Organisationen, die von Zentralisten gegründet und geleitet wurden. Diese Organisationen haben sich nun als „Tschechische sozialdemokratische Arbeiterpartei“ konstituiert.
Die Spaltung der tschechoslawischen Sozialdemokratie bewirkte zugleich auch die Spaltung der tschechischen Zentralisten. Denn nur ein Teil der tschechischen Zentralisten schloss sich der neuen Partei an. Viele tschechische Genossen, die den internationalen gewerkschaftlichen Organisationen angehören, wollen trotzdem Mitglieder der alten, ihrer Mehrheit und Führung nach separatistischen Partei bleiben. Der Kampf zwischen Zentralisten und Separatisten wird nun durchkreuzt durch den Kampf der Zentralisten untereinander.
Die Konstituierung der neuen tschechischen Partei erfolgte in einem Augenblicke, in dem das Abgeordnetenhaus aufgelöst war. Die neue Partei beschloss, sofort in den Wahlkampf einzutreten. Sie ging in diesen Wahlkampf mit eben erst gegründeten schwachen Organisationen, mit einer unzulänglichen Presse, mit dem Vorwurf belastet, dass ihr selbständiges Auftreten die Reihen der Arbeiter spalten und dadurch die Klassengegner des Proletariats stärken müsse. In Böhmen fühlte sie sich zu schwach, Kandidaten aufzustellen. In Niederösterreich fielen ihre Stimmen den deutschen Kandidaten zu. Das Kampfgebiet beschränkte sich also auf die tschechischen Wahlbezirke Mährens und Schlesiens. Aber auch hier blieben die Erfolge der jungen Partei hinter ihren Erwartungen zurück. Im ganzen konnte sie 19.358 Stimmen auf ihre Kandidaten vereinigen. Und von ihnen entfielen nicht weniger als 8.180 Stimmen auf den Wahlbezirk des Genossen Cingr. Die Stimmen, die Cingr erhielt, können aber der neuen Partei nicht restlos zugerechnet werden; sie sind erstens Stimmen persönlichen Vertrauens zu dem alten Vorkämpfer der Bergarbeiter, sie sind zweitens zum Teil nicht tschechische, sondern polnische Stimmen. Von diesem einen Wahlbezirk abgesehen, in dem die Person des Kandidaten und die nationale Zusammensetzung der Wählerschaft die junge Partei begünstigten, hat sie nur 11.178 Stimmen erzielt. Das ist ein bescheidener Erfolg, der ihre Mitglieder enttäuscht hat.
Der Misserfolg der neuen Partei erscheint um so grösser, als die alte Partei gerade in dem wichtigsten Kampfgebiete, in Mähren, einen grossen Erfolg erzielt hat. Zwar ist die Stimmenzahl der „tschechoslawischen“ Sozialdemokratie in Mähren seit 1907 von 101.985 auf 93.481 Stimmen gesunken. Aber trotz der verringerten Stimmenzahl konnte sie die Zahl ihrer Mandate von 5 auf 11 vermehren. Diesen Erfolg verdankt sie freilich nicht der eigenen Kraft, sondern einem Wahlkompromiss mit dem bürgerlichen Liberalismus. Aber der Masse, die vor allem nach dem äusseren Erfolge urteilt, wird dies trotzdem als ein Triumph der „tschechoslawischen“ Partei in Mähren erscheinen, der den Misserfolg der neuen Partei noch grösser erscheinen lässt.
Dieses Wahlergebnis wird die fernere Entwicklung der neuen Partei sehr erschweren. Anderseits wird innerhalb der alten Partei ihr mährischer Flügel, der den aggressivsten Separatismus vertritt, gestärkt. Mit diesen Tatsachen müssen wir rechnen. Die Wahlen haben den tschechischen Zentralismus geschwächt: wir müssen also mit der Tatsache rechnen, dass die Rückführung der tschechischen Arbeiter in die gewerkschaftlichen Zentralverbände in absehbarer Zeit nicht erwartet werden kann. Die Wahlen haben den aggressivsten Teil der tschechoslawischen Partei gestärkt: wir müssen also mit der Tatsache rechnen, dass die Festigung unserer Beziehungen zu der tschechoslawischen Partei auf stärkere Hindernisse stossen wird. Unser solchen Umständen wird die Regelung unserer Beziehungen zu den Parteien des tschechischen Proletariats zum wichtigsten Problem der Gesamtpartei.
Es gibt in der deutschen Partei Genossen, die alle Beziehungen zu der neuen Partei ablehnen wollen, um im Bunde mit der alten Partei zu bleiben. Sie begründen diese Forderung in folgender Weise: Erstens sei die alte Partei allein die Vertreterin der breiten Massen des tschechischen Proletariats, die neue Partei nur eine kleine Sekte innerhalb der tschechischen Arbeiterschaft. Zweitens seien die Gründer der „tschechischen“ Partei „Rebellen“, die das kostbare Gut der Einheit der Partei zerstört und dadurch die Kraft der Arbeiterklasse geschwächt hätten. Drittens habe die „tschechische“ Partei im erbitterten Kampfe gegen die „tschechoslawische“ schwere Fehler begangen, sie habe den Kampf mit unerlaubten Waffen geführt.
Ich halte diese Gründe für nicht beweiskräftig. Es ist wahr, dass die „tschechoslawische“ Partei gross, die „tschechische“ klein ist. Aber ist sie auch eine kleine, so ist sie doch eine sozialdemokratische Partei, die sich von der grossen Partei des tschechischen Proletariats nur darum geschieden hat und nur dadurch unterscheidet, dass sie im Gewerkschaftsstreit die rechte Sache, die Sache der Internationale vertritt. Es ist wahr, die mährischen Zentralisten haben die tschechische Partei gespalten. Aber daraus könnte man nur dann einenVorwurf gegen sie schmieden, wenn ihnen die Möglichkeit gewährt worden wäre, ihre Ansichten innerhalb der alten Parteiorganisation zu vertreten. Da man sie aus der alten Partei ausgeschlossen hat, mussten sie eine neue Partei gründen, wenn sie nicht darauf verzichten wollten, als Sozialdemokraten tätig zu sein. Es ist wahr, die Anhänger der neuen „tschechischen“ Partei haben sich von ihrer Erbitterung zu manchem unüberlegten Wort, zu mancher unbesonnenen Tat hinreissen lassen. Aber was wiegen diese Fehler gegen die Fehler, die die alte „tschechoslawische“ Partei begangen hat? Wie bedeutungslos erscheinen alle Irrtümer der Zentralisten gegenüber der einen Tatsache allein, dass die tschechoslawische Partei einen einstimmigen Beschluss unserer höchsten Körperschaft, des Internationalen Sozialistenkongresses, gröblich verletzt hat!
Und wie könnten es die deutschen Arbeiter verstehen, dass wir von allen tschechischen Genossen gerade diejenigen von uns stossen, die gewerkschaftlich zu uns stehen, und nur die in brüderlicher Liebe umfangen, die unsere gewerkschaftliche Organisation spalten? Können wir den deutschen Arbeitern Mährens sagen: Im gewerkschaftlichen Kampfe müsset ihr mit den Jura, Merta, Veska zusammenstehen; aber im politischen Kampfe dürfet ihr nicht sie, sondern nur die Vanek, Tusar, Bechyne als eure Verbündeten behandeln? Vanek ist euer Genosse; Jura ist ein „Rebell“ gegen das kostbare Gut der Einheit der Partei! Der Arbeiter hat nur eine Seele: er kann nicht als Sozialdemokrat lieben, wen er als Gewerkschafter hasst; er kann nicht im gewerkschaftlichen Kampfe den Gewerkschaftssekretären vertrauen, wenn man ihn lehrt, sie auf dem politischen Gebiete als verabscheuungswürdige „Rebellen“ zu betrachten und zu behandeln. Die Ablehnung aller Beziehungen zu der neuen „tschechischen“ Partei ist mit dem gewerkschaftlichen Internationalismus unvereinbar. Wenn deutsche Genossen nur den Bürger Vanek als Genossen betrachten, den Genossen Jura aber aus der Österreichischen Internationale ausschliessen wollen, dann mögen sie vor die deutschen Arbeiter hintreten und ihnen sagen: Wir haben geirrt! Die ganze Internationale hat geirrt! Wir wollen keine internationalen Gewerkschaften mehr! Gründet deutsche Gewerkschaften!
Aber nicht nur das Interesse der Arbeiter an der internationalen gewerkschaftlichen Organisation macht eine solche Politik unmöglich. Das Interesse der Partei verbietet uns ebenso wie das der Gewerkschaften eine Politik, die die Jura, Merta, Burian von uns stösst, um die Vanek, Tusar, Bechyne zu gewinnen. Nichts Schlimmeres kann einer Partei widerfahren als eine Einbusse ihres moralischen Ansehens. Würden wir nicht unser moralisches Ansehen vor der gesamten deutschen Oeffentlichkeit schmälern, wenn wir auch nur den Schein erwecken wollten, als ob wir aus politischen Opportunitätserwägungen – nur dazu, um die Hilfe der stärkeren, an Mitgliedern und Wählern zahlreicheren unter den tschechischen Parteien nicht zu verlieren – denen, die mit uns für die gemeinsame Sache kämpfen, die uns nicht nur in gewerkschaftlicher, auch in politischer Hinsicht, in ihrer Auffassung proletarischer Internationalität näher stehen, die Treue brechen wollten?
Aus diesen Gründen halte ich die Politik, die die „tschechische“ Partei von uns stossen will, um nur der „tschechoslawischen“ verbunden zu bleiben, für schlechthin unmöglich. Ich bin überzeugt, dass die Genossen, die, wohl ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein, eine solche Politik empfehlen, eine winzige und hoffnungslose Minderheit innerhalb der deutschen Partei bilden.
Eine andere Richtung innerhalb der deutschen Partei vertritt die entgegengesetzte Forderung. Sie fordert, die deutsche Partei solle alle Beziehungen zu der „tschechoslawischen“ Partei abbrechen, um mit der neuen „tschechischen“ Partei eine neue internationale Gesamtpartei zu begründen. Auf dem Bodenbacher Landesparteitag der deutschen Sozialdemokratie in Böhmen wurde diese Forderung noch kurz vor den Reichsratswahlen, insbesondere von den Reichenberger Delegierten sehr entschieden vertreten. Sie wird damit begründet, dass die tschechoslawische Sozialdemokratie durch die Zerstörung der Gewerkschaften, durch die Missachtung des Kopenhagener Beschlusses, durch die Zugeständnisse, die sie auch auf politischem Gebiete dem Nationalismus macht, das Recht verwirkt habe, der proletarischen Internationale anzugehören. Ich halte auch diese Gründe nicht für beweiskräftig. Die tschechoslawische Partei ist unzweifelhaft eine sozialdemokratische Partei: sie ist eine Arbeiterpartei ihrer Zusammensetzung, eine Partei des Klassenkampfes ihrer Tätigkeit nach, eine sozialistische Partei ihrer Lehre und ihrem Ziele nach. Es wäre ein schlechtes Mittel, unsere internationale Gesinnung zu betätigen, wenn wir uns aus lauter Internationalität von der Partei trennen wollten, die den grössten Teil des tschechischen Proletariats vertritt. Wohl ist es richtig, dass wir als Gewerkschafter wie als Politiker der tschechoslawischen Partei viel, sehr viel vorzuwerfen haben; aber wir halten gewiss auch manches für verfehlt, was französische und englische, italienische und russische Sozialdemokraten getan haben, und denken darum doch nicht daran, die Beziehungen zu diesen Genossen abzubrechen. Die Meinungsverschiedenheiten über Einzelfragen dürfen uns die grundsätzliche Uebereinstimmung nicht vergessen lassen.
Was würde denn die Ausscheidung der „tschechoslawischen“ Partei aus der österreichischen Internationale bewirken? Im politischen Kampfe gegen den Klassenstaat, im Kampfe um Arbeiterrecht und Arbeiterschutz müssten wir trotzdem Schulter an Schulter kämpfen. Nur träte an die Stelle der organisierten Kooperation ein ungeordnetes Nebeneinander. Dadurch würde der politische Einfluss der Arbeiterklasse nur geschwächt. Aber auch den Gewerkschaften wäre damit nicht gedient. Es gibt heute Tausende tschechischer Arbeiter, die zwar in der tschechoslawischen Partei ihre politische Vertretung erblicken, trotzdem aber den internationalen gewerkschaftlichen Organisationen angehören und in ihnen bleiben wollen. Würden wir die Beziehungen zu der tschechoslawischen Partei abbrechen, dann würden diese Tausende gereizt und erbittert, sie würden dadurch dem gewerkschaftlichen Separatismus in die Arme gejagt. Der gewerkschaftliche Zentralismus würde dadurch geschwächt, der Gewerkschaftsstreit in Gebiete getragen, die bisher von ihm verschont geblieben sind. Prinzipielle und taktische, politische und gewerkschaftliche Erwägungen sprechen also in gleichem Masse gegen die, die die Bande zerreissen wollen, die die deutsche mit der tschechoslawischen Partei verknüpfen. Angesichts der Ergebnisse der Reichsratswahlen wird es wohl wenige Genossen geben, die sich dieser Erkenntnis verschliessen.
Wir müssen also beide Parteien des tschechischen Proletariats als sozialdemokratische Arbeiterparteien anerkennen, mit beiden gemeinsam den Klassenkampf des Proletariats führen.
Es wird freilich nicht leicht sein, dies den Streitenden begreiflich zu machen. Die „tschechoslawische“ Partei betrachtet die Anerkennung der neuen Partei als eine Unterstützung der „Rebellion“ gegen das kostbare Gut der Parteieinheit. Die „tschechische Partei wieder meint, wir seien verpflichtet, alle Beziehungen zu der alten Partei abzubrechen, die ja die Sache des Separatismus vertritt. Wenn wir aber das Für und Wider offen und deutlich auseinandersetzen, dann werden auch die tschechischen Genossen beider Richtungen bei nüchterner Erwägung schliesslich einsehen müssen, dass die deutsche Partei weder die Beziehungen zu den alten Mitkämpfern der tschechoslawischen Sozialdemokratie zerreissen, noch die neue Partei, die unsere Genossen aus den internationalen Gewerkschaften umfasst, von sich stossen kann. Freilich, die diplomatischen Com-muniques und Resolutionen der deutschen Parteivertretung sind nicht geeignet, das Wachstum dieser Erkenntnis zu fördern. Diese Kunstwerke der Parteidiplomatie suchen ihren höchsten Vorzug darin, dass jeder aus ihnen das ihm Beliebige herauslesen könne. Die Masse der Parteigenossen aber, die mit der kunstvollen Sprache der Diplomatie nicht vertraut ist, versteht diese Stilübungen nicht. Eine Sache, die ihrer gewerkschaftlichen Seite wegen das Interesse jedes Arbeiters in jeder Werkstätte berührt, muss von unserer Parteipresse offen und verständlich erörtert werden, wenn unsere Stellung von den deutschen und von den tschechischen Arbeitern verstanden werden soll.
Die heutige Organisation der Gesamtpartei lässt freilich einen Bund mit beiden tschechischen Parteien nicht zu. Wir können die „tschechische“ Partei in die Gesamtorganisation nicht aufnehmen, ohne die „tschechoslawische“ abzustossen. Wir können der „tschechischen“ Partei aber auch nicht die Eingliederung in die Gesamtpartei verweigern, ohne zu ihren Ungunsten die Neutralität zu verletzen. Der Streit zwischen den beiden tschechischen Parteien sprengt also die heutige Form der internationalen Gesamtorganisation. Sie ist nicht mehr lebensfähig. Damit schliesst eine Entwicklung ab, die lange schon im Zuge war. Und eine Entwicklung setzt ein, die uns zu neuen Formen internationaler Zusammenfassung führen muss.
Wir hatten in Oesterreich vom Hainfelder Parteitag bis etwa zum Jahre 1905 eine einheitliche sozialdemokratische Gesamtpartei, deren Glieder seit 1897 die sechs nationalen Parteiorganisationen waren. Diese Gesamtpartei ist allmählich abgestorben. Es gibt heute keine österreichische Sozialdemokratie mehr, sondern nur eine deutsche, eine tschechische, eine polnische, eine ruthenische, eine südslawische und eine italienische Sozialdemokratie, die in einem losen Bundesverhältnis zu einander stehen.
Schon die Mitgliedschaft der Gesamtpartei ist nicht zu begrenzen. Der Bürger Vanek ist ordentliches Mitglied, ja sogar Abgeordneter der tschechoslawischen Sozialdemokratie, die der Gesamtpartei angehört. Trotzdem wollen viele deutsche Sozialdemokraten ihn nicht als Genossen ansprechen, während sie die Jura, Merta, Veska, deren Organisation der Gesamtpartei nicht angehört, als Genossen betrachten.
Die Organe der Gesamtpartei sind, eines nach dem anderen, abgestorben. Seit dem Jahre 1905 wurde kein Gesamtparteitag einberufen. Heute könnte man ihn wohl gar nicht mehr einberufen, da das Organisationstatut immer noch auf den alten, nicht mehr bestehenden Wahlkreisen der V. Kurie beruht! Es ist also nicht einmal mehr geregelt, welche Organisationen zur Beschickung des Gesamtparteitages berechtigt sind. Die Gesamtexekutive ist gewiss noch ein wertvolles Instrument zur Verständigung zwischen den sechs nationalen Parteien; aber ein Organ zur einheitlichen politischen Leitung der Partei ist sie nicht mehr. Blieb noch der parlamentarische Verband als lebendige Verkörperung der Einheit der Partei! Aber dass auch er nicht mehr unerschüttert war, hat – von kleineren Zwischenfällen abgesehen – die bekannte Dauerrede des Genossen Modráček unmittelbar vor der Auflösung des Parlaments gezeigt. Sie hat den Schein erweckt, als hätte die Sozialdemokratie die tschechische Obstruktion unterstützen wollen, und dieser Schein hat uns im Wahlkampf die grössten Schwierigkeiten bereitet. Und doch hatte Modráček seine Dauerrede gehalten ohne Ermächtigung des Verbandes! Wir wurden mitverantwortlich für eine Tat, die wir nicht mitbeschlossen hatten und der wir unsere Zustimmung unbedingt verweigert hätten, wenn man uns überhaupt gefragt hätte. Wenn ein einzelner tschechischer Abgeordneter mit Zustimmung der tschechischen Parteipresse in einem – das hat ja die Folge gezeigt! – entscheidenden Augenblick die Verbandsdisziplin in solcher Weise verletzen kann, dann muss wohl auch das letzte Organ der Gesamtpartei brüchig geworden sein.
Aber auch im ganzen Empfinden der Parteigenossen lebt keine Gesamtpartei mehr, sondern nur noch ein lockerer Bund von sechs sozialdemokratischen Parteien. Das haben die Vorgänge bei den Wahlen deutlich gezeigt. In drei Wahlbezirken haben die tschechischen Genossen Gegenkandidaten gegen uns aufgestellt. In einem Wahlbezirk haben sie Wahlenthaltung beschlossen. In anderen Wahlbezirken haben sie ihre Unterstützung der sozialdemokratischen Kandidaten an Bedingungen geknüpft. Und wo sie uns unterstützt haben, haben sie nicht zur Wahl der Kandidaten der internationalen Sozialdemokratie, sondern zur Unterstützung der Kandidaten der deutschen Sozialdemokratie aufgefordert, – so etwa, wie schliesslich auch bürgerliche Parteien einmal zur Wahl eines sozialdemokratischen Kandidaten auffordern können. Die tschechoslawischen Genossen kennen also keine österreichische Sozialdemokratie mehr, sondern nur noch eine deutsche und eine tschechische Sozialdemokratie, die einander einmal unterstützen, das anderemal bekämpfen können, wie es die politische Situation im Augenblick eben erfordert.
Unter solchen Umständen ist die Gesamtpartei in ihrer alten Form nicht mehr als eine Fiktion. Die Reibungen, die die Spaltung der tschechoslawischen Arbeiterpartei unvermeidlich macht, werden auch diese Fiktion zerstören. Soll die internationale Organisation der Arbeiterklasse in Oesterreich kein leeres Wort sein, dann muss die Gesamtpartei auf neuer Grundlage in neuen Formen neu geschaffen werden.
Die erste Voraussetzung eines solchen Neubaues ist die Beendigung des Gewerkschaftsstreites. Solange der Kampf um die gewerkschaftliche Organisation tobt, ist die Einheit des politischen Kampfes unmöglich. Dass es in absehbarer Zeit möglich werden könnte, die Masse der tschechischen Arbeiter in die Zentralverbände zurückzuführen, kann nach der Reichsratswahl kein Einsichtiger mehr glauben. Anderseits können wir unter keinen Umständen dem zustimmen, dass die Arbeiterschaft desselben Ortes, desselben Betriebes in mehrere nationale Gewerkschaften zersplittert werde. Es gibt heute also nur eine mögliche Lösung des Gewerkschaftsstreites: die territoriale Abgrenzung der Wirkungsgebiete der internationalen und der tschechoslawischen Gewerkschaften. Die internationalen Gewerkschaften müssen ihre Ortsgruppen in den tschechischen Gebieten Böhmens und Mährens auflösen und ihre Mitglieder den tschechoslawischen Verbänden zuführen, sobald die tschechoslawischen Verbände auf jedes Eindringen nach Wien und Niederösterreich, nach Deutschböhmen und Deutschmähren, nach dem deutschen und dem polnischen Teile Schlesiens ernsthaft und für immer verzichten. Ich habe diesen Gedanken schon im Dezember-Heft des Kampf vertreten. Ihn zu propagieren, erscheint mir heute als die wichtigste Aufgabe aller, denen die Einheit der österreichischen Arbeiterbewegung am Herzen liegt. Gelingt es, den Gewerkschaftskonflikt auf dieser Grundlage beizulegen, dann werden die beiden tschechischen Parteien wieder zu einer verschmolzen und zur Neuorganisation der österreichischen Gesamtpartei auf neuer Grundlage ist dann die Möglichkeit geschaffen. Auf diesem – und nur auf diesem! – Wege kann die Gesamtpartei wieder hergestellt werden.
Der Gedanke der territorialen Abgrenzung der Gewerkschaften hat freilich, viele Gegner. Die Zentralisten sagen mit Recht, dass eine einheitliche internationale Gewerkschaftsorganisation eine viel bessere Wehr der Arbeiterklasse wäre als mehrere territorial begrenzte Verbände. Aber die internationale Einheit der Organisation ist – das sollte man angesichts der Wahlergebnisse nicht leugnen! – in absehbarer Zeit nicht zu erzielen. Das, was noch erreicht werden kann und muss, ist dies, dass es in einer Fabrik, in einem Ort nur eine Organisation geben darf! Würde dies erreicht, dann wären wir weit stärker als wir heute sind. Die Gefahr, dass die Arbeiterschaft desselben Betriebes, desselben Ortes in mehrere konkurrierende Organisationen zersplittert würde, wäre vermieden. Und die Kräfte, die die Zentral verbände heute auf die Verteidigung ihrer Positionen in den tschechischen Gebieten aufwenden müssen, könnten dann mit viel grösserem Erfolge zur Eroberung neuer Positionen in den deutschen Industriegebieten gebraucht werden.
Anderseits werden auch die tschechischen Genossen einsehen müssen, dass jeder Versuch, die tschechischen Minderheiten in Wien und in Niederösterreich, in Deutschböhmen und in Deutschmähren aus den internationalen Verbänden hinauszulocken, auf einen unüberwindlichen Widerstand stossen wird. Und wenn selbst ein solcher Versuch da oder dort gelänge, dann hätte er trotzdem die schlimmsten Folgen. Er würde die Kraft der Arbeiter gegen die Unternehmer schwächen. Er würde die deutschen Arbeiter mit Tschechenhass erfüllen und dadurch den deutschen Chauvinismus stärken, die Lage der tschechischen Minderheiten erschweren, die Entwicklung der schwarzrotgold drapierten Gelben fördern. Die Verantwortung für solche Wirkungen ihrer Gewerkschaftspolitik können die tschechischen Genossen nicht tragen. Sie werden sich daher zu der territorialen Abgrenzung der Wirkungsgebiete ihrer Gewerkschaften verstehen müssen, wobei natürlich die politische und die kulturelle Autonomie der tschechischen Arbeiter im deutschen Gebiet sehr gut gewahrt werden kann.
Die territoriale Begrenzung der tschechoslawischen Verbände ist die Hauptsache. Ist sie erst durchgesetzt, dann ist die Reibungsfläche beseitigt oder doch sehr verringert Ein Ueberbau über die Gewerkschaften, wie er im Dezember-Heft des Kampf von Braun vorgeschlagen und während der Verständigungskonferenzen erörtert worden ist, wird sich dann allmählich von selbst entwickeln. Und wenn erst der Gewerkschaftskonflikt beseitigt ist, dann ist mir um die Wiederherstellung der Einheit der Gesamtpartei nicht bange.
Aber ich bin nicht Optimist genug, zu hoffen, dass all das von heute bis morgen durchgesetzt werden kann. Wir müssen dem Gedanken der territorialen Abgrenzung Zeit lassen, in den Köpfen der Genossen hier und drüben zu reifen. Es wird wohl geraume Zeit währen, ehe er stark genug wird, sich durchzusetzen. In dieser Entwicklungsphase aber sind die alten Formen der Gesamtpartei nicht mehr lebensfähig, während zur Schaffung neuer Formen die Zeit noch nicht gekommen ist. Darum darf sich die deutsche Partei an die überlebten Formen der Gesamtorganisation nicht klammern. Wir müssen uns entschliessen, unseren eigenen Weg zu gehen – stets bereit, mit beiden tschechischen Parteien zu kooperieren, wo Uebereinstimmung der Meinungen besteht, aber auch entschlossen, ohne schwächliche Kompromisse unserer eigenen Einsicht gemäss zu handeln, wo die Uebereinstimmung heute nicht zu erzielen ist.
In wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten wird sich diese Uebereinstimmung stets unschwer herstellen lassen. Anders in nationalen Fragen! Wir haben bisher gewartet, ob es gelingen wird, uns mit den tschechischen Genossen über die Ausgestaltung unseres Nationalitätenprogramms zu verständigen. Heute lässt es die Verschärfung der Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft nicht mehr als wahrscheinlich erscheinen, dass dies in kurzer Zeit gelingen werde. Die deutsche Sozialdemokratie aber kann nicht länger warten. Sie kann sich und muss sich also schon auf dem nächsten Parteitag ihr eigenes Nationalitätenprogramm schaffen.
So auch im Parlament. Es ist gewiss notwendig, die sozialdemokratischen Abgeordneten aller Nationen zu gemeinsamer Aktion in allen Fragen zu vereinen, die unmittelbar die Klasseninteressen des Proletariats berühren; der Einfluss der Arbeiterklasse würde empfindlich geschmälert, wenn jeder der fünf nationalen Klubs auch in solchen Fragen ganz selbständig vorgehen wollte. In solchen politischen und nationalen Fragen aber, über welche volle Uebereinstimmung der Meinungen nicht besteht, darf der deutsche Klub nicht in schwächlichen Kompromissen mit der entgegengesetzten Ansicht der tschechoslawischen Genossen das Heil suchen, sondern er muss nach eigener Einsicht tatkräftig handeln und den tschechischen Genossen überlassen, dasselbe zu tun.
Die hoffnungslosen Bemühungen, an lebensunfähigen Formen der alten Gesamtorganisation festzuhalten, entfremden uns einander nur immer mehr. Mit diplomatischen Künsten können die Gegensätze nicht verdeckt werden. Nur in kraftvoller Selbständigkeit können wir neue Formen der Gesamtorganisation vorbereiten. Die Spaltung der tschechoslawischen Partei hat die alte Gesamtorganisation gesprengt. Nun muss die deutsche Sozialdemokratie ihre vollkommene Selbständigkeit gewinnen, um eine neue Gesamtorganisation in neuen Formen zielbewusst vorzubereiten.
Leztztes Update: 6. April 2024