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Der Kampf, Jg, 4 10. Heft, 1. Juli 1911, S. 476–477.
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In drei Wahlbezirken Deutschböhmens hat die tschechoslawische Sozialdemokratie Gegenkandidaten gegen die Wahlwerber der deutschen Sozialdemokratie aufgestellt. Zum ersten Male haben wir das beschämende Schauspiel erlebt, dass deutsche und tschechische Sozialdemokraten einander im Wahlkampf gegenüberstanden. Die Verantwortung für diesen Bruderkampf hat die tschechoslawische Sozialdemokratie zu tragen. Die deutsche Sozialdemokratie war bereit, die Kandidaturen der Genossen Jarolim und Koffron zu widerrufen und mit den tschechischen Genossen gemeinsame Kandidaten aufzustellen. Die tschechoslawische Sozialdemokratie hat aber dieses Anbot abgelehnt. Sie hat darauf bestanden, in drei Wahlbezirken Deutschböhmens ihre eigenen Kandidaten aufzustellen.
Die Wirkungen solcher Trutzkandidaturen sind gleich schädlich für das tschechische wie für das deutsche Proletariat. Auf tschechischer Seite hat der Wahlkampf aufgehört, ein Klassenkampf zu sein; er wurde zum nationalen Kampfe. Denn der tschechoslawische Sozialdemokrat, der in einem deutschen Wahlbezirke kandidiert, erhält als einziger tschechischer Kandidat die Stimmen aller Tschechen des Wahlbezirkes, — also nicht nur die Stimmen der tschechischen Arbeiter, sondern auch die des tschechischen Bürgertums. Der Wahlkampf kann also seine; Aufgabe, die Scheidung der Klassen zu vollziehen, nicht erfüllen. Auf deutscher Seite aber werden die nationalen Empfindlichkeiten gereizt, wenn um ein Mandat, das in dem in der Reichsratswahlordnung enthaltenen nationalen Ausgleich der deutschen Nation zugerechnet wurde, ein Tscheche sich bewirbt. Gerade in einem Gebiet mit starker tschechischer Einwanderung ist die nationale Reizbarkeit naturgemäss besonders stark. Die Propaganda des Internationalismus versagt hier vollständig, wenn die deutschen Arbeiter sehen, dass tschechische Proletarier ihnen als Gegner gegenüberstehen. So werden die deutschen Arbeiter dem Nationalismus in die Arme gejagt.
Die Erfolge der tschechischen Kandidaturen zeugen gegen sie. Am besten haben sie in Brüx-Land abgeschnitten. Hier erhielt:
der Deutschradikale |
3.600 Stimmen |
der deutsche Agrarier |
853 |
der deutsche Sozialdemokrat |
1.427 |
der tschechische Sozialdemokrat |
2.381 |
Diese Zahlen beweisen, dass die Mehrheit der Wählerschaft in diesem Wahlbezirk deutsch ist: ein Tscheche hatte also keinen Anspruch auf das Mandat. Wohl hat der tschechische Sozialdemokrat mehr Stimmen bekommen als der deutsche. Aber er erhielt seine Stimmen eben nicht als Sozialdemokrat, sondern als Tscheche: die tschechischen Kleinbürger haben mit den Arbeitern für ihn gestimmt. Dagegen hat der deutsche Sozialdemokrat natürlich auch hier nur sozialdemokratische Stimmen bekommen; das deutsche Kleinbürgertum hat deutschradikal oder agrarisch gestimmt Auch innerhalb der sozialdemokratischen Wählerschaft hatten also die deutschen Sozialdemokraten die Mehrheit! Die tschechischen Sozialdemokraten konnten also dieses Mandat nicht beanspruchen. Dass sie trotzdem an einer selbständigen Kandidatur festgehalten haben, hat nur die Wirkung gehabt, die deutschen Arbeiter zu erbittern. Das hat sich sehr deutlich bei der Stichwahl gezeigt, in der die deutschen Arbeiter der Stichwahlparole der deutschen Sozialdemokratie nicht Folge geleistet haben. Dadurch wurde zwar das Wahlergebnis nicht bestimmt, da ja der Deutschradikale der agrarischen Stimmen sicher war, also in jedem Falle gewählt worden wäre, aber es ist ein sehr bedenkliches Symptom der nationalen Erbitterung, die die tschechische Sonderbündelei erzeugt hat.
Wenn wir eine Gesamtorganisation haben sollen, dann müssen die tschechoslawischen Genossen anerkennen, dass sie in den 233 Wahlbezirken, die die Reichsratswahlordnung der deutschen Nation zugewiesen hat, die Kandidaten der deutschen Sozialdemokratie unterstützen müssen, ganz ebenso, wie es die natürliche Pflicht der deutschen Genossen in den tschechischen Wahlbezirken ist, die Kandidaten der tschechoslawischen Sozialdemokratie zu unterstützen. Denn der Nutzen, den die Gewinnung eines Mandats im deutschen Gebiete der tschechoslawischen Sozialdemokratie bringen könnte, steht in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den ein Wahlkampf zwischen deutschen und tschechischen Genossen der ganzen österreichischen Internationale, wie dem Gedanken der proletarischen Internationalität selbst zufügt. Die Aufstellung tschechischer sozialdemokratischer Kandidaten in deutschen Wahlbezirken nützt nur dem Nationalismus, dem tschechischen sowohl wie dem deutschen. Wir gestehen gern zu, dass die tschechischen Arbeiter in den meisten Wahlbezirken ihre proletarische Pflicht treu erfüllt haben, obwohl die gehässigen Angriffe gegen die deutsche Partei, die mitten im Wahlkampf in den tschechischen Parteiblättern zu lesen waren, ihnen dies schwer genug gemacht haben mögen. Aber in den Bezirken Brüx-Land, Dux-Land und Leitmeritz haben die tschechoslawischen Sozialdemokraten die Pflicht, die die internationale Solidarität ihnen gebot, zum Schaden der ganzen österreichischen Arbeiterbewegung grob verletzt.
Die tschechoslawischen Genossen können diesen schweren Fehler auch damit nicht entschuldigen, dass den tschechoslawischen Kandidaten in Mähren die Kandidaten der tschechischen Zentralisten entgegengetreten seien. Denn erstens hat nicht die deutsche Partei den Bruderkrieg in den tschechischen Wahlbezirken Mährens herbeigeführt; diese Verantwortung belastet diejenigen, die die mährischen Zentralisten aus der tschechoslawischen Partei ausgeschlossen und die dem Genossen Homof nur darum, weil er Zentralist ist, seinen Wahlbezirk genommen haben. Zweitens aber ist ein Kampf zwischen zwei tschechischen Sozialdemokraten immer weit weniger gefährlich, als ein Wahlkampf zwischen einem deutschen und einem tschechischen Sozialdemokraten. Denn jener bleibt ein Kampf der Ideen und Programme innerhalb einer Nation; dieser wird unvermeidlich zum nationalen Kampfe und dadurch zur Gefährdung der internationalen Gesinnung der Arbeiterschaft. Die tschechischen Zentralisten in Mähren haben die Einheit der tschechoslawischen Partei zerrissen, um der Sache der Internationale zu dienen; die tschechoslawischen Separatisten in Deutschböhmen haben die Pflicht der internationalen Solidarität verletzt und die Erziehung der Arbeiterschaft zu internationaler Gesinnung erschwert. Jene haben aus Liebe zur Internationale geirrt, diese haben an der Internationale gesündigt.
Leztztes Update: 6. April 2024