Otto Bauer

 

Das Weltbild des Kapitalismus


Marxistische Geschichtsauffassung und Philosophie

Die marxistische Geschichtsauffassung ist erwachsen aus der dialektischen Philosophie Hegels. In dem Maße, als sie sich aus diesem Mutterboden herauslöste, verknüpfte sie sich mit der herrschenden Philosophie ihrer Entstehungszeit, mit dem Materialismus; dieser Verknüpfung verdankt sie ihren Namen. Als aber mit der mechanistischen Naturauffassung auch der Materialismus zersetzt ward, versuchten jüngere Marxisten, Marxens Geschichtsauffassung mit den späteren Erkenntnistheorien zu verknüpfen, bald mit dem Neukantianismus, bald mit dem Positivismus Machs. Die Macht der philosophischen Systeme, die auf die Naturauffassung des Kapitalismus gegründet waren, war noch so groß, daß selbst die Theorie des Sozialismus, schon im heftigsten Kampf gegen die kapitalistische Welt, doch die ideellen Spiegelbilder dieser kapitalistischen Welt noch gläubig hinnahm, sie nicht zu zerstören wagte, sondern sich mit ihnen zu verknüpfen suchte. Erst die Selbstauflösung des Weltbildes der kapitalistischen Geschichtsepoche bricht seine Macht über uns, erst sie gibt uns den Mut, die marxistische Geschichtsauffassung nicht mehr mit philosophischen Systemen der bürgerlichen Philosophie zu verknüpfen, sondern diese Systeme selbst mit den Mitteln der marxistischen Geschichtsauffassung in ihrer geschichtlichen Abhängigkeit, in ihrer zeitlichen Bedingtheit zu begreifen und uns dadurch von ihrem Banne zu befreien.

In der Zeit, in der die marxistische Geschichtsauffassung entstand, war der Glaube an die mechanistische Naturauffassung unerschüttert. Der Materialismus erschien daher als das letzte, unanfechtbare Resultat der großen Entwicklung der Naturwissenschaft. Erst nachdem die Zersetzung der mechanistischen Naturauffassung dem Materialismus die Basis entzogen hat, gewinnen wir zu ihm ein kritisches Verhältnis. Jetzt erst begreifen wir, daß er nichts anderes war als die Projektion des kapitalistischen Konkurrenzsystems in das Weltall. Erst damit zerreißt das Band, das die Geschichtsauffassung des Sozialismus mit dem letzten dogmatischen System des Kapitalismus verknüpft hatte.

Aber auf der mechanistischen Naturauffassung ruhte nicht nur das dogmatische System des Materialismus, sondern auch das kritische System Kants. Auch zu ihm gewinnen wir nun ein anderes Verhältnis. Die Physiokraten und die Klassiker der politischen Ökonomie betrachteten den Kapitalismus als die natürliche Ordnung der Gesellschaft. Erst Marx hat uns gelehrt, als „historische Kategorien“ des Kapitalismus zu erkennen, was Physiokraten und Klassiker für „natürliche Kategorien“ aller menschlichen Wirtschaft angesehen hatten. Kant war ein Zeitgenosse der Physiokraten. Ihm waren die Denkformen der Epoche des individualistischen Kapitalismus die Denkformen des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt. Erst die Selbstauflösung der Naturauffassung des individualistischen Kapitalismus befähigt uns, die Formen der Anschauung und des Denkens, die Kant für Anschauungen und Denkformen des Menschen schlechthin hielt, als „historische Kategorien“, als Anschauungs- und Denkformen einer bestimmten Geschichtsepoche, einer bestimmten Gesellschaftsordnung, einer bestimmten Klasse zu erkennen. Erst der moderne Relativismus, der die Raum- und Zeitvorstellungen Newtons überwunden hat, befähigt uns, zu begreifen, daß Kants apriorische Formen der Anschauung nur die apriorischen Anschauungsformen der Naturwissenschaft einer heute bereits überwundenen Entwicklungsphase waren.

Die Auflösung der mechanistischen Naturauffassung ist vollzogen in der Erkenntnistheorie der Modernen, vor allem Machs. Aber indem diese Auflösung uns ermutigt hat, die auf die mechanistische Naturauffassung gegründeten Systeme in ihren gesellschaftlich-historischen Zusammenhang zu rücken, hat sie uns auch über die Modernen, auch über Mach hinausgeführt.

Auf der Entwicklungsstufe des organisierten Kapitalismus ordnet der Staat das Wirtschaftsleben durch seine Gesetze. Die Kapitalistenklasse erklärt, diese Gesetze seien Mittel, allgemeine gesellschaftliche Zwecke zu erreichen, das Wirtschaftsleben in der gesellschaftlich zweckmäßigsten, wirtschaftlichsten Weise zu gestalten. Mach, in dieser Gesetzesvorstellung befangen, wendet sie auf die Naturgesetze an: die Naturgesetze sind Mittel, unsere Erfahrungen in der zweckmäßigsten, wirtschaftlichsten Weise zu ordnen. Aber in Wirklichkeit dienen die Gesetze des kapitalistischen Staates nicht allgemeinen gesellschaftlichen Zwecken, sondern den besonderen Bedürfnissen der herrschenden Klassen. So ordnen auch die Naturgesetze unsere Erfahrungen nicht in der zweckmäßigsten, wirtschaftlichsten Weise, sondern in derjenigen Weise, die den besonderen geistigen Bedürfnissen einer bestimmten Gesellschaftsordnung und innerhalb ihrer einer bestimmten Klasse entspricht.

Mach betrachtet die Wissenschaft als ein Unternehmen, unsere Erfahrungen in der einfachsten Weise zu ordnen. Marxens Geschichtsauffassung führt uns dazu, sie als ein Unternehmen zu betrachten, das die Erfahrungen in derjenigen Weise ordnet, die den Neigungen der Menschen eines konkreten Gesellschaftszustandes, einer bestimmten Klasse am vollkommensten entspricht. Mach betrachtet die Geschichte der Naturwissenschaft als eine fortschreitende Anpassung der Gedanken aneinander und an die Naturtatsachen; der Marxismus muß sie betrachten als eine fortschreitende Anpassung der Gedanken an die gesellschaftlichen Zustände und an die durch sie bestimmten geistigen Bedürfnisse. So fordert der Marxismus eine Erkenntnislehre, der Mach und Avenarius, Poincaré und James nicht genügen können: sie müßte im einzelnen das Verfahren aufzeigen, den geistigen Prozeß, mittels dessen die Menschen nach dem Vorbilde ihrer eigenen Arbeit, nach dem Ebenbilde der Gesellschaftsordnung, in der sie leben, oder der Gesellschaftsordnung, um die sie ringen, nach den Bedürfnissen ihrer wirtschaftlichen und sozialen, politischen und nationalen Kämpfe ihr Weltbild schaffen. Wir haben, freilich nur andeutungsweise, gezeigt, wie eine solche historisch-soziale Erkenntnislehre möglich ist; was wir hier nur skizzieren konnten, wäre, ausgebaut, eine marxistische Erkenntnistheorie.

 


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008