Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

Dritter Abschnitt
Der Imperialismus als erweiterte Reproduktion der kapitalistischen Konkurrenz

Zehntes Kapitel
Die Reproduktion der Prozesse der Konzentration und der Zentralisation des im Imperialismus

 

1. Die Konzentration des Kapitals. Die Konzentration des Kapitals in den individuellen Unternehmen. Die Konzentration des Kapitals in den Trusts. Die Konzentration des Kapitals in den organisierten „nationalen Wirtschaften“ (in den „staatskapitalistischen Trusts“). 2. Die Zentralisation des Kapitals. 3. Der Kampf der individuellen Unternehmen. Der Kampf der Trusts; der Kampf der „staatskapitalistischen Trusts“. 4. Die kapitalistische Expansion der Gegenwart als Sonderfall der Zentralisation des Kapitals. Die Angliederung gleichartiger Strukturen (horizontale Zentralisation). Die Angliederung agrarischer Gebiete (vertikale Zentralisation und Kombination).

Die beiden wichtigsten Prozesse der kapitalistischen Entwicklung sind die Prozesse der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die oft durcheinander geworfen werden, die aber streng unterschieden werden müssen. Marx gibt folgende Definition dieser Begriffe:

Jedes individuelle Kapital – sagt er – ist eine größere oder kleinere Konzentration von Produktionsmitteln mit entsprechendem Kommando über eine größere oder kleinere Arbeiterarmee. Jede Akkumulation wird das Mittel neuer Akkumulation. Sie erweitert mit der vermehrten Masse des als Kapital funktionierenden Reichtums seine Konzentration in den Händen individueller Kapitalisten, daher die Grundlage der Produktion auf großer Stufenleiter und der spezifisch kapitalistischen Produktionsmethoden. Das Wachstum des gesellschaftlichen Kapitals vollzieht sich im Wachstum vieler individuellen Kapitale... Zwei Punkte charakterisieren diese Art Konzentration, welche unmittelbar auf der Akkumulation beruht oder vielmehr mit ihr identisch ist. [von mir unterstrichen N.B.] Erstens: Die wachsende Konzentration der gesellschaftlichen Produktionsmittel in den Händen individueller Kapitalisten ist, unter sonst gleichbleibenden Umständen, beschränkt durch den Wachstumsgrad des gesellschaftlichen Reichtums. Zweitens: Der in jeder besondren Produktionssphäre ansässige Teil des gesellschaftlichen Kapitals ist verteilt unter viele Kapitalisten, welche einander als unabhängige und miteinander konkurrierende Warenproduzenten gegenüberstehn. ... Dieser Zersplitterung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in viele individuelle Kapitale oder der Repulsion seiner Bruchteile voneinander [Marx untersucht die Teilung der Vermögen usw. N.B.] wirkt entgegen ihre Attraktion. Es ist dies nicht mehr einfache, mit der Akkumulation identische Konzentration von Produktionsmitteln und Kommando über Arbeit. Es ist Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer individuellen Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale. Dieser Prozeß unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß er nur veränderte Verteilung der bereits vorhandnen und funktionierenden Kapitale voraussetzt, sein Spielraum also durch das absolute Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums oder die absoluten Grenzen der Akkumulation nicht beschränkt ist. Das Kapital schwillt hier in einer Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verlorengeht. Es ist die eigentliche Zentralisation im Unterschied zur Akkumulation und Konzentration. [Von mir unterstrichen N.B.] [1]

Unter Konzentration verstehen wir also die Vergrößerung des Kapitals durch Kapitalisierung des Mehrwerts, die von demselben Kapital vorgenommen wird; unter Zentralisation die Vereinigung verschiedener individueller Kapitale zu einem einzigen. Die Konzentration und die Zentralisation des Kapitals machen verschiedene Entwicklungsphasen durch, die wir untersuchen müssen. Dabei wollen wir bemerken, daß beide Prozesse, sowohl Konzentration, als auch Zentralisation, ständig einander beeinflussen. Eine größere Konzentration des Kapitals beschleunigt die Aufsaugung kleinerer Unternehmen und umgekehrt: die Zentralisation verstärkt die Akkumulation des individuellen Kapitals und verschärft somit den Prozeß der Konzentration.

Die ursprüngliche Form des Konzentrationsprozesses ist die Konzentration des Kapitals in dem individuellen Unternehmen. Diese Form überwog bis zum letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Die Akkumlation des gesellschaftlichen Kapitals erscheint hier als Akkumulation des Kapitals in den einzelnen Unternehmen, die einander als Konkurrenten gegenüberstehen. Die Entwicklung der Aktiengesellschaften, die die Möglichkeit gegeben hat, die Kapitale einer großen Zahl von einzelnen Unternehmen in Gang zu setzen und die das Prinzip des individuellen Unternehmens radikal untergraben hat, hat gleichzeitig die Voraussetzungen für mächtige monopolistische Unternehmerverbände geschaffen. Die Konzentration des Kapitals hat hier eine andere Form angenommen, und zwar die Form der Konzentration in den Trusts. Die Akkumulation des Kapitals vergrößert nicht mehr die Kapitale der individuellen Produzenten, sie ist zu einem Mittel der Vergrößerung der Kapitale der Unternehmerverbände geworden. Das Tempo der Akkumulation wird ungeheuer beschleunigt. Gewaltige Massen von Mehrwert, die die Bedürfnisse der unbedeutenden Kapitalistengruppe weit übertreffen, werden in Kapital verwandelt, um in einen neuen Zyklus der Bewegung einzugehen. Aber die Entwicklung bleibt auch dabei nicht stehen. Auf verschiedenen Wegen werden die einzelnen Produktionszweige zu einer einheitlichen, in bedeutendem Maße organisierten Körperschaft zusammengefaßt. Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die „Volkswirtschaft“ verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust, dessen Teihaber die Finanzgruppen und der Staat sind. Solche Bildungen nennen wir staatskapitalistische Trusts. Es ist natürlich unmöglich, ihre Struktur mit der Struktur eines Trusts im engeren Sinne des Wortes zu identifizieren; dieser ist eine mehr zentralisierte und weniger anarchische Organisation. Aber bis zu einem gewissen Grade und besonders im Vergleich zu der vorhergehenden Phase des Kapitalismus haben die wirtschaftlich entwickelten Staaten sich in einem bedeutenden Grade bereits dem Punkt genähert, wo man sie als eine Art von trustähnlichen Organisationen oder, wie wir sie genannt haben, als staatskapitalistische Trusts betrachten kann. Deshalb kann man jetzt von einer Konzentration des Kapitals in staatskapitalistischen Trusts als den Bestandteilen eines viel bedeutenderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Feldes, der Weltwirtschaft, sprechen.

Freilich haben auch die frühesten Ökonomen von einer „Akkumulation des Kapitals im Lande“ gesprochen, das war einer ihrer Lieblingsthemen, und schon der Titel des wichtigsten Werkes von Adam Smith deutete darauf hin. Aber damals hatte dieser Ausdruck einen wesentlich anderen Sinn, denn die „Volkswirtschaft“ oder die „Wirtschaft des Landes“ stellte keineswegs ein kollektives kapitalistisches Unternehmen dar, einen einheitlichen kombinierten Trust; dies aber ist die Form, die die fortgeschrittenen Länder des modernen Kapitalismus in bedeutendem Maße angenommen haben.

Parallel mit der Veränderung der Formen der Konzentration erfolgte eine Veränderung der Formen der Zentralisation. Bei individueller Form der Unternehmen standen sich im Konkurrenzkampf einzelne Kapitalisten gegenüber. Die „Volkswirtschaft“ und die „Weltwirtschaft“ waren nur die Gesamtheit dieser verhältnismäßig kleinen Einheiten, die miteinander durch den Austausch verbunden waren und deren Konkurrenz hauptsächlich im „nationalen“ Rahmen erfolgte. Der Zentralisationsprozeß erfolgte in der Form der Aufsaugung der kleinen Kapitalisten, des Wachstums der großen individuellen Unternehmen. Nach Maßgabe des Wachstums der großen und größten Unternehmen nahm der extensive Charakter der Konkurrenz (in den gegebenen territorialen Grenzen) immer mehr ab; die Zahl der Konkurrenten nahm parallel mit dem Zentralisationsprozeß ab. Aber die Intensität der Konkurrenz nahm in ungeheurem Maße zu, denn eine geringere Anzahl größerer Unternehmen warf nunmehr eine solche Menge von Waren auf den Markt, wie man sie in früheren Epochen nie gekannt hatte. Die Konzentration und die Zentralisation der Kapitale führte schließlich zur Bildung von Trusts. Der Konkurrenzkampf erreichte eine noch höhere Stufe. Aus der Konkurrenz zahlreicher individueller Unternehmen verwandelte er sich in eine erbitterte Konkurrenz einiger gewaltiger kapitalistischer Vereinigungen, die eine komplizierte und in bedeutendem Maße im voraus berechnete Politik betreiben. Endlich hört die Konkurrenz in dem ganzen Produktionszweig auf. Um so heftiger entbrennt der Kampf um die Teilung des Mehrwerts unter den Syndikaten der verschiedenen Produktionszweige: Organisationen, die Fertigwaren erzeugen, erheben sich zum Kampf gegen die Syndikate in der Rohstofferzeugung und umgekehrt. Der Zentralisationsprozeß entwickelt sich Schritt für Schritt weiter. Gemischte Unternehmungen und Bankkonzerne fassen die gesamte nationale Produktion zusammen, die die Form eines Verbandes der Verbänden annimmt und sich somit in einen staatskapitalistischen Trust verwandelt. Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der „nationalen“ Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs neue zu entbrennen. Eine Konkurrenz unter den „nationalen Wirtschaften“, d.h. unter ihren herrschenden Klassen, hat es natürlich auch vorher gegeben. Aber sie hatte einen ganz anderen Charakter, da die innere Struktur dieser „nationalen“ Wirtschaften eine ganz andere war. Die „nationale Wirtschaft“ trat auf dem Weltmarkt nicht als ein einheitliches organisiertes, wirtschaftlich ungewöhnlich mächtiges Ganzes auf: in ihrem Innern herrschte die unbedingte freie Konkurrenz. Und umgekehrt: die Konkurrenz auf dem Weltmarkt war äußerst schwach. Heute, in der Epoche des Finanzkapitalismus, ist das alles ganz anders: der Schwerpunkt liegt jetzt in der Konkurrenz von gewaltigen, geschlossenen und organisierten wirtschaftlichen Organismen, die aber eine kolossale Kampfkraft im internationalen Wettbewerb der „Nationen“ verfügen. Hier feiert die Konkurrenz ihre wildesten Orgien, und zugleich mit ihr verwandelt sich der Prozeß der Zentralisation des Kapitals und erreicht eine höhere Phase. Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen „Nation“ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht. Als Schauplatz dieses Kampfes dient die Weltwirtschaft, seine wirtschaftliche und politische Schranke ist der die ganze Welt umspannende Trust, das einheitliche Weltreich, das dem Finanzkapital der Sieger unterworfen ist, die alles übrige assimiliert haben, – ein Ideal, von dem die feurigsten Köpfe vergangener Epochen nicht einmal zu träumen wagten.

Zwei Arten der Zentralisation können unterschieden werden: die erste Art, wenn eine wirtschaftliche Einheit eine andere verschluckt, die ihr ähnlich ist; der zweite Fall ist die vertikale Zentralisation, wen die betreffende wirtschaftliche Einheit eine andere verschluckt, die nicht von der gleichen Art ist. In diesem Falle haben wir es mit einer „wirtschaftlichen Ergänzung“ oder Kombination zu tun. Jetzt, da die Konkurrenz und Zentralisation der Kapitale im Weltausmaß reproduziert wird, finden wir auch diese beiden Typen wieder. Wenn ein Land, wenn ein staatskapitalistischer Trust einen anderen, weniger starken aber mit annähernd derselben wirtschaftlichen Struktur verschluckt, so liegt in diesem Falle eine horizontale Zentralisation des Kapitals vor. Wenn aber in den staatskapitalistischen Trust eine ihn ergänzende wirtschaftliche Einheit, wie z.B. ein Agrarland einbezogen wird, so haben wir es mit der Bildung einer Kombination zu tun. Im Grunde genommen kommen hier dieselben Widersprüche zum Ausdruck und sind dieselben Kräfte am Werk wie auch im Rahmen der „nationalen Wirtschaften“; insbesondere führt ja die Verteuerung der Rohstoffe zur Entstehung gemischter, kombinierter Unternehmungen. Im höchsten Stadium des Kampfes wird also derselbe Widerspruch zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, aber in bedeutend größerem Ausmaß reproduziert.

Der konkrete Entwicklungsprozeß der modernen Weltwirtschaft kennt beide Formen. Als Beispiel einer horizontalen imperialistischen Annexion kann die Eroberung von Belgien durch Deutschland, als Beispiel einer vertikalen Annexion die Besetzung von Ägypten durch England dienen. Trotzdem wird der Imperialismus gewöhnlich als bloße koloniale Eroberungspolitik behandelt Eine solche ganz falsche Vorstellung konnte früher in einem gewissen Maße dadurch gerechtfertigt werden, daß die Bourgeoisie, die sich in der Richtung des geringsten Widerstandes bewegte, bestrebt war, ihr Gebiet auf Kosten der freien oder nur schwachen „Widerstand leistenden“ Länder auszudehnen. Jetzt aber bricht die Zeit einer wahren Weltumteilung an. Ähnlich wie die im Rahmen des Staates miteinander konkurrierenden Trusts anfangs auf Kosten „dritter Personen“ (der Außenseiter) wachsen und erst nach Vernichtung dieser Gruppen den Kampf untereinander mit besonderer Heftigkeit aufnehmen, entwickelt sich auch der Konkurrenzkampf unter den staatskapitalistischen Trusts: erst kämpfen sie miteinander um die freien Länder, um das jus primi occupantis; dann gehen sie an eine Umteilung der Kolonien; bei einer weiteren Zuspitzung des Kampfes wird auch das Gebiet der Metropole in den Prozeß der Umteilung einbezogen. Auch hier folgt die Entwicklung der Linie des geringsten Widerstandes, und als erste verschwinden die allerschwächsten staatskapitalistischen Trusts. So wirkt sich das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Produktion aus, das nur mit der Aufhebung der kapitalistischen Produktion selbst aufgehoben werden kann.

 

Anmerkung

1. Karl Marx: Kapital, Bd.1, S.589 u. 590.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003