Nikolai Bucharin

 

Imperialismus und Weltwirtschaft

 

Vierter Abschnitt
Die Zukunft der Weltwirtschaft und der Imperialismus

Dreizehntes Kapitel
Der Krieg und die wirtschaftliche Entwicklung

 

1. Die Änderung der wirtschaftlichen Wechselbeziehung der staatskapitalistischen Trusts (die gestiegene Bedeutung Amerikas, der Ausfall der kleinen Staaten). 2. Die Weltwirtschaft und die wirtschaftliche Autarkie. 3. Die Änderung der inneren Struktur der staatskapitalistischen Trusts (das Aussterben der Mittelschichten, die Zunahme der Macht des Finanzkapitals, die Zunahme der staatlichen Einmischung, die Staatsmonopole usw.). 4. Der Staatskapitalismus und die Verschärfung des Kampfes unter den staatskapitalistischen Trusts . 5. Der Staatskapitalismus und die Klassen.

Der Krieg, der unvermeidlich ausbrechen mußte, da er durch den gesamten Gang der Ereignisse vorbereitet worden war, übte notwendigerweise einen gewaltigen Einfluß auf das Wirtschaftsleben der Welt aus. Innerhalb jedes einzelnen Landes und in den Beziehungen unter den Ländern, in den „Volkswirtschaften“ und in der Weltwirtschaft bewerkstelligte der Krieg einen wahren Umsturz. Neben der ganzen barbarischen Plünderung der Produktivkräfte, der Vernichtung der materiellen Produktionsmittel und der lebendigen Arbeitskraft, neben der Aussaugung der Wirtschaft durch ungeheuerliche gesellschaftlich schädliche Ausgaben hat der Krieg wie eine gewaltige Krise die Grundtendenzen der kapitalistischen Entwicklung verschärft, die Ausbreitung finanzkapitalistischer Verhältnisse und der Zentralisation des Kapitals im internationalen Ausmaße außerordentlich beschleunigt. Der (auf eine imperialistische Weise) zentralisierende Charakter des gegenwärtigen Krieges unterliegt keinem Zweifel. Hier ist vor allem der Zusammenbruch der selbständigen kleinen Staaten zu verzeichnen, ganz gleich ob es Staaten von höherem Typus sind (horizontale Konzentration und Zentralisation) oder Agrarstaaten (vertikale Zentralisation); als verhältnismäßig minder wichtige Form ist auch eine Aufsaugung schwächerer (und auch rückständiger) Formationen zu beobachten. Die selbständige Existenz Belgiens, das ein sehr entwickeltes Land ist und eine eigene Kolonialpolitik betreibt, wird in Frage gestellt; ganz klar tritt der Prozeß der zentralisierenden Neuverteilung auf dem Balkan in Erscheinung; eine Änderung der Besitzverhältnisse im Kolonialbesitz in Afrika ist zu erwarten. Andererseits sehen wir eine sehr starke Annäherung (nach Art der festen Abmachungen zwischen Syndikaten) zwischen Deutschland und Österreich. Welches auch der konkrete Ausgang des Krieges sein mag, es ist schon jetzt klar (und das konnte auch a priori angenommen werden), daß die politische Landkarte sich in der Richtung einer größeren staatlichen Einheitlichkeit wird, und gerade darin kommt der das Wachstum der imperialistischen „Nationalitätenstaaten“ zum Ausdruck.

Wenn die allgemeine Entwicklungstendenz, die der Krieg nur verschärft hat, in einem weiteren Zentralisationsprozeß besteht. so hat dieser Krieg auch das Hervortreten eines der größten staatskapitalistischen Trusts, der eine außerordentlich starke innere Organisation besitzt, gewaltig beschleunigt. Wir meinen die Vereinigten Staaten.

Der Krieg hat die Vereinigten Staaten unter ganz besondere Bedingungen gestellt. Mit dem Aufhören der Ausfuhr von russischem Getreide usw. ist die Nachfrage nach Erzeugnissen der amerikanischen Landwirtschaft gewachsen. Andererseits wendete sich auch die ungeheuerlich große Nachfrage nach Produkten der Rüstungsindustrie Amerika zu. [1] Endlich hat sich auch die Nachfrage nach Leihkapital (auswärtige Anleihen usw.) hierher gewandt. Während Amerika im allgemeinen bisher der Schuldner Europas gewesen ist, hat der Krieg dieses Verhältnis binnen kurzer Zeit auf den Kopf gestellt.

Die allgemeine Verschuldung Amerikas begann rasch getilgt zu werden, und auf dem Gebiete der laufenden Verpflichtungen und des kurzfristigen Kredits wurde Amerika zum Gläubiger Europas. Diese wachsende finanzielle Rolle der Vereinigten Staaten hat auch eine andere sehr wichtige Seite. Wir wissen bereits, daß die zweitrangigen amerikanischen Staaten Kapital aus Europa einführten, hauptsächlich aus England und Frankreich, und daß die Kapitaleinfuhr aus den Vereinigten Staaten, die selbst europäisches Kapital importierten, erst in zweiter Linie kam. Während des Krieges aber wurden die Anleihen Kanadas, Argentiniens, Panamas, Boliviens und Costa Ricas nicht in Europa, sondern in den Vereinigten Staaten aufgenommen.

Die amerikanischen Länder erhielten eine geringfügige Summe. Charakteristisch ist aber, daß die aufgezählten Länder gewöhnlich Kunden des Londoner Marktes sind. New York hat somit in der Kriegszeit London ersetzt und gewissermaßen die Verwirklichung des finanziellen Teils des panamerikanischen Programms in die Wege geleitet. [2]

Der weitere Verlauf des Krieges, die Deckung der Kriegskosten und die Anleihen und weiter die gewaltige Nachfrage nach Kapital in der Nachkriegszeit (im Zusammenhang mit der Wiederherstellung des fixen Kapitals usw.) werden die finanzielle Bedeutung der Vereinigten Staaten noch mehr verstärken, ihren Einfluß im übrigen Amerika ausdehnen und die Rolle der Vereinigten Staaten im internationalen Konkurrenzkampfes rasch steigern. [3]

Am Beispiel der Vereinigten Staaten sehen wir die Konsolidierung und das Wachstum eines großen staatskapitalistischen Trusts, welcher Länder und Gebiete, die früher von Europa abhingen, assimiliert. Neben der Ausbreitung der Verbindungen Amerikas sehen wir hier ein äußerst intensives Wachstum des „nationalen“ Zusammenschlusses.

Noch deutlicher sind die „Nationalisierungstendenzen“ bei den kriegführenden Gruppen: der internationale Warenaustausch ist gestört, die Bewegung des Kapitals und der Arbeitskräfte zwischen den kriegführenden Ländern hat aufgehört, fast alle Verbindungen unter ihnen sind abgebrochen. Im Rahmen der „nationalen“ Wirtschaft (als bestes Beispiel kann hier Deutschland dienen, da es am dichtesten abgeschlossen ist) erfolgt eine eilige Umgruppierung der Produktivkräfte. Und nicht nur eine Umstellung auf die Rüstungsindustrie (es ist bekannt, daß in Deutschland selbst Klavierfabriken den neuen Aufgaben angepaßt werden, sie fabrizieren Patronen), sondern auch auf die Produktion von Lebensmitteln und auf die Landwirtschaft überhaupt. Somit hat der Krieg die Tendenz zur wirtschaftlichen Autarkie, zur Verwandlung der „nationalen“ Wirtschaft in ein selbstgenügsames, mehr oder minder von den internationalen Verbindungen isoliertes Ganzes, ungeheuer verschärft. Folgt aber daraus, daß diese Tendenz stets vorliegen, und daß die Weltwirtschaft in eine Reihe selbständiger und vollständig voneinander isolierter Teile zerfallen werde. So oder fast so denkt der utopische Imperialismus. Die Ideologen des Imperialismus sind ja gerade bestrebt, alles „selbst“ zu produzieren, um nicht „von den Ausländern abhängig“ zu sein usw. Es gelte, die passende „wirtschaftliche Ergänzung“ zu erwerben, sich Rollstoffe zu sichern und die Aufgabe ist ihrer Meinung nach gelöst. Solche Erörterungen halten aber keiner Kritik stand. Die Herren Imperialisten vergessen hier vollständig, daß ihre Raubpolitik selbst das Wachstum der internationalen wirtschaftlichen Verbindungen, die Ausdehnung der Ausfuhr von Waren und Kapital, die Ausdehnung der Rohstoffeinfuhr usw. voraussetzt. Deshalb ist die Politik des Imperialismus von einem bestimmten Gesichtspunkt widerspruchsvoll: einerseits muß die imperialistische Bourgeoisie die internationalen Verbindungen in denkbar umfassendster Weise ausdehnen (siehe z.B. das. Dumping der Kartelle), andererseits sperrt sie sich durch eine Zollmauer ab; einerseits exportiert sie Kapital, andererseits klagt sie über das Eindringen der Ausländer; mit einem Worte: einerseits internationalisiert sie das Wirtschaftsleben, andererseits ist sie mit allen Kräften bestrebt, es in den „nationalen“ Rahmen einzuzwängen. Trotz aller Hindernisse dehnt sich aber die Grundlage der internationalen Beziehungen immer mehr aus. Deshalb ist folgende Bemerkung F. Pinners. ganz richtig.

Bedenkt man, daß die außerordentliche Ausdehnung des Außenhandels gerade in die Epoche einer streng nationalistischen Wirtschaftspolitik gefallen ist, so muß man annehmen, daß der Krieg bzw. die durch den Krieg ausgelöste politische Strömung der großen Wirtschaftsstaaten die internationalen Beziehungen ebensowenig zu stören vermag, wie es die wirtschaftlichen Absperrungstendenzen bisher vermocht haben. [4]

In der Tat ist bereits während des Krieges das Verschwinden oder die Schwächung der wirtschaftlichen Beziehungen an der einen Stelle von einer gewissen Stärkung dieser Beziehungen an anderen Stellen begleitet. Der deutsche Einfluß in Rußland ist nur verschwunden, um den Einfluß der Entente Platz zu machen. Aber das ist natürlich nicht alles. Wir müssen bedenken, daß die Gewinnung von Profit das regulierende Moment der kapitalistischen Betätigung ist. Der Krieg ist eine der „Geschäftsmethoden“ des „modernen Bourgeois“; ist er beendigt, dann wird der Bourgeois mit der früheren Geschäftstätigkeit die alten Beziehungen wieder anknüpfen. (Wir gehen hier gar nicht auf die Schmuggelgeschäfte während des Krieges ein.) Denn so verlangt es die kapitalistische Berechnung. Die internationale Arbeitsteilung, die Verschiedenheit der natürlichen und sozialen Bedingungen ist eine wirtschaftliche Voraussetzung, die nicht durch einen Weltkrieg nicht vernichtet werden kann. Ist dem aber so, so sind auch bestimmte Wertverhältnisse und folglich auch bestimmte Bedingungen der Realisierung eines Maximalprofits im Prozeß des internationalen Verkehrs gegeben. Nicht die wirtschaftliche Autarkie, sondern die Verstärkung der internationalen Beziehungen bei gleichzeitigem „nationalen“ Zusammenschluß und gleichzeitiger Entwicklung neuer Konflikte auf der Grundlage der internationalen Konkurrenz, das ist die weitere Entwicklung.

Kann der Krieg somit den allgemeinen Gang der Entwicklung des Weltkapitalismus nicht aufhalten, drückt er im Gegenteil die maximale Ausdehnung des Zentralisationsprozesses aus, so wirkt er auch auf die Struktur der „einzelnen“ nationalen Wirtschaften in der Weise ein, daß er die Zentralisation im Rahmen jedes „nationalen“ Organismus verstärkt und neben einer kolossalen Verschwendung der Produktivkräfte die „Volkswirtschaft“ organisiert, wobei er sie in immer größerem Maße der vereinigten Macht des Finanzkapitals und des Staates unterwirft.

In seinen wirtschaftlichen Auswirkungen erinnert der Krieg in vielem an die industriellen Krisen, wobei er sich natürlich von diesen durch die größere Intensität der Erschütterungen und Verwüstungen unterscheidet. Ökonomisch wirken diese Verwüstungen vor allem auf die mittleren Schichten der Bourgeoisie zurück, die ebenso wie während der industriellen Krisen unter solchen Bedingungen viel schneller aussterben. Wenn die Märkte verloren gehen, ganze Industriezweige zugrunde gehen, weil die zahlungskräftige Nachfrage fehlt, bisher feste Beziehungen zerstört werden, das gesamte Kreditsystem erschüttert wird usw. usw., dann werden vor allem (natürlich wenn wir von den Arbeitern absehen) die Zwischenschichten der Bourgeoisie in Mitleidenschaft gezogen. Sie sind es vor allem, die bankrott machen. Die größere kartellierte Industrie fühlt sich im Gegenteil gar nicht so schlecht. Man könnte ein sehr großes Zahlenmaterial zusammenbringen, das illustrieren würde, wie die Profite einer ganzen Reihe der größten Unternehmen, vor allem aber der Unternehmen, die mit Heereslieferungen zu tun haben, d.h. in erster Linie der Unternehmen der Schwerindustrie gestiegen sind (die sogenannten „Kriegsgewinne“). Obwohl die Gesamtsumme des erzeugten Mehrwerts nicht größer wird (sie sinkt infolge des Abflusses eitler gewaltigen Zahl von Arbeitskräften in die Armee), steigen die Profite der großbürgerlichen Gruppen. Das erfolgt in einem bedeutenden Maße auf Kosten der Profite der anderen Gruppen der Bourgeoisie, der kleinen und der nicht kartellierten. (Andererseits erklärt sich das Steigen der Profite auch aus dem Steigen der Papierwerte, die Wechsel auf die Zukunft darstellen.) Bei der kollossalen Verschwendung der Produktivkräfte, bei der „Aufzehrung“ des fixen Kapitals der Gesellschaft [5] ist eine beschleunigte Umschichtung und ein relatives Wachstum der großbürgerlichen Kategorien unzweifelhaft. Diese Tendenz wird keineswegs durch den Krieg abgeschlossen werden. Wenn die Großbourgeoisie ihre Positionen im Prozeß des Krieges behauptet und befestigt, so wird nach dem Kriege der ungeheure Kapitalbedarf ein beschleunigtes Wachstum der Großbanken und folglich auch eine beschleunigte Zentralisation und Konzentration des Kapitals begünstigen. Es wird eine Periode der fieberhaften Heilung der Wunden, die der Krieg geschlagen hat, beginnen, des Wiederaufbaus der zerstörten und abgenutzten Eisenbahnen, Werkstätten und Fabrikgebäude, der Maschinen und Apparate, der Transportmittel; die Wiederherstellung und Erweiterung des staatlichen Militärapparates wird dabei nicht den geringsten Raum einnehmen. Alles das wird die Nachfrage nach Kapital in sehr großem Maße steigern und die Position der Bankkonsortien verstärken. [6]

Neben der Verstärkung der finanzkapitalistischen Gruppen ist eine kolossale Verstärkung der Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben hervorzuheben. [7]

Hierher gehören: Die Schaffung von staatlichen Monopolen (in Produktion und Handel), die Organisierung von sog. „gemischten Betrieben“, in denen Staat oder Kommune neben privaten Syndikaten oder Trusts als Teilhaber figurieren; die staatliche Kontrolle über den Produktionsprozeß der privaten Betriebe (Zwang zur Produktion, Regulierung der Erzeugnismethoden usw.), Regelung der Verteilung (Zwang zur Lieferung und Annahme von Produkten. Organisierung von staatlichen „zentralen“ Verteilungsstellen“, staatliche Lager für Rohstoffe, Brennstoffe, Lebensmittel, Festsetzung von Höchstpreisen, Brot-, Fleisch- und sonstige Karten, Verbot der Ein- und Ausfuhr usw.), die Organisierung des staatlichen Kredits und endlich die Organisierung der Konsumtion durch den Staat (städtische Küchen). [8]

In England sind außerdem eingeführt worden: die staatliche Versicherung von Schiffsfrachten, die staatliche Garantie für Handelswechsel, die staatliche Auszahlung von Auslandsguthaben englischer Kaufleute, die zur Zeit nicht realisierbar sind usw. Ähnliche Maßregen sind in mehr oder minder großem Umfange von allen kriegführenden Staaten durchgeführt worden.

Die „Mobilmachung der Industrie“, d.h. ihre Militarisierung, erfolgte um so leichter, je stärker die Unternehmerorganisationen, die Kartelle, Syndikate und Trusts entwickelt waren. Diese wirtschaftlichen Verbände, in deren Interesse ja im Grunde genommen der Krieg geführt wurde, stellten ihren ganzen regulierenden Apparat in den Dienst des imperialistischen Staats, mit dem sie auf das naheste verwandt sind. Sie sicherten auf diese Weise die technisch-ökonomische Möglichkeit der Militarisierung des gesamten Wirtschaftslebens von dem unmittelbaren Produktionsprozeß bis zu den Feinheiten des Kreditverkehrs. Und gerade dort, wo die Industrie durch Kartelle organisiert war, nahm ihre „Mobilmachung“ den gewaltigen Umfang an.

... Neben den freien wirtschaftlichen Vereinigungen – schreibt Herr Pinner über Deutschland – der Industrie und der Landwirtschaft waren weite Kreise des Erwerbslebens schon seit Jahrzehnten bereits in engsten Vereinigungen mit fast gemeinwirtschaftlichem Charakter in Tätigkeit, hatten ihr Gewerbe zu großem Teil in sich aufgenommen und unter eine einheitliche Verwaltung gebracht: die Kartelle und Syndikate. [9]

Die Ziele der wirtschaftlichen Mobilmachung und ihre Bedeutung sind klar aus der Rede ersichtlich, die der englische Minister Lloyd George am 3. Juni in Manchester hielt:

Das Gesetz über die Landesverteidigung – sagte der Minister – gibt uns [d.h. der Regierung, N.B.] die volle Verfügungsgewalt über alle Betriebe. Es gibt uns die Möglichkeit, in erster Linie die Arbeit leisten zu lassen, die die Regierung braucht. Wir können über den gesamten Betrieb verfügen. Wir können über jede Maschine verfügen, und wenn wir irgendwo auf Schwierigkeiten stoßen, dann kann das Munitionsministerium mit Hilfe dieses Gesetzes die wirksamsten Maßregeln treffen. [10]

Ähnliche Maßregeln wurden sowohl in Frankreich [11] als auch in Rußland zur Anwendung gebracht. Außer einer solchen direkten Kontrolle der Staatsmacht über die Produktion der privaten Unternehmen schuf der Krieg auch eine gewisse Reihe von staatlichen Monopolen. In England wurden die Eisenbahnen zum Staatseigentum. In Deutschland wurden Monopole für Getreide, Kartoffeln, Stickstoff usw. geschaffen. Eine ganze Reihe von anderen ist vorgesehen (wir werden darauf noch zurückkommen). Selbst die Kohlenindustrie wurde in ein „gemischtes“ Kartell verwandelt, in dem das Syndikat mit dem Staate zusammenarbeitet. [12] Wenn die angeführten Beispiele eine unmittelbare Einmischung des Staates in das Gebiet der Produktion zeigen, so erfolgt andererseits diese Einmischung in beträchtlichem Maße auch mit Hilfe der Kreditverhältnisse. Typisch ist dafür die Organisierung der „finanziellen Mobilmachung“ und der damit verbundenen Operationen in Deutschland. Wenn die Reichsbank zu Anfang des Krieges durch die Vermittlung einer Reihe von anderen Großbanken operierte, so stieg ihre Bedeutung späterhin auch auf andere Weise. Hierher gehört z.B. die Schaffung von sog. „Darlehenskassen“, die staatliche Institutionen, die von der Reichsbank abhängen, darstellen, und die binnen kurzer Zeit zu einem bedeutenden Faktor in den Kreditoperationen des Landes geworden sind. [13] Eine ungeheure Rolle spielten weiter die inneren Kriegsanleihen, die unmittelbar durch die Reichsbank im Publikum untergebracht wurden. Auf diese Weise hat die Reichsbank, die auch vor dem Kriege eine ganz außerordentliche Rolle im Wirtschaftsleben Deutschlands spielte, diese Rolle äußerst verstärkt und ist zu einem sehr starken Sammelpunkt freiwerdenden Kapitals geworden. Andererseits spielt sie selbst in immer größeren Maße die Rolle einer Institution, die die wachsenden staatlichen Unternehmen und staatlichen Wirtschaftsorganisationen finanziert. Auf diese Weise wird das zentrale Bankinstitut des Staates zur „goldenen Spitze“ des gesamten staatskapitalistischen Trusts.

Man soll nicht glauben, daß eine ähnliche Entwicklung, nur in Deutschland erfolge. Mutatis mutandis spielt sich dieser Prozeß in allen kriegführenden Ländern ab (er erfolgt auch in den nichtkriegführenden Ländern, aber natürlich in schwächerem Maße).

Wir müssen uns hier ausführlicher mit einer, unserer Auffassung nach sehr wichtigen Fragen beschäftigen, und zwar mit der Frage der staatlichen Monopole und ihrer Zukunft.

Nach genauen Untersuchungen – erklärte Dr. Helfferich im August 1915 im Reichstag – sind die Gesamtkosten dieses Weltkrieges bei allen Beteiligten täglich auf nahezu 300 Millionen zu schätzen, auf das Jahr etwa 100 Milliarden Mark. [Hört! Hört!] Es ist die größte Wertzerstörung und Wertverschiebung, die jemals die Weltgeschichte gesehen hat. [14]

Selbstverständlich geben die Zahlen des „Finanzmarschalls“ Dr. Helfferich keine Vorstellung von den wirklichen „Gesamtkosten des Krieges“, denn sie beziehen sich nur auf die unmittelbaren Kriegsausgaben der Staatsmacht. Aber in diesem Zusammenhang interessieren uns gerade diese Ausgaben, und es wird deshalb nicht unnütz sein, wenn wir mehr Einzelheiten über die Kriegsanleihen anführen. Obwohl die Staaten auch einen Teil der regulären Einnahmen für den Krieg ausgeben, kann man sich dennoch auch an Hand der im folgenden angeführten Zahlen eine gewisse Vorstellung von dem gewaltigen Umfang der Kriegskosten machen. [15]

Die Kriegsanleihen der sechs kriegführenden Großmächte

Großbritannien
(in tausend
Pfd.St.)

Frankreich
(in tausend
Franken)

Rußland
(in tausend
Rubel)

Italien
(in tausend
Lire)

Deutschland
(in Millionen
Mark)

Österreich-Ungarn
(in Millionen
Kronen)

3½% Anleihe
XI/1914

350.000

Darlehen der Bank von Frankreich

7.000.000

5% Obligat. diskontiert von der Staatsbank

2.650.000

4½% Anleihe
XII/1914

1,000,000

6% Anleihe
XI/1914

3.492

5½%
Anleihe XI/1914

2.300

3% Bons
III/1915

33.600

Darlehen der Bank von Frankreich an die Alliierten unter Garantie der Staatskasse

530.000

4% Anleihe
X/1914

500.000

5% Anleihe
VII/1915

1.000.000

5% Schatz-
anweisungen
IX/1914

1.000

6% Anleihe
XI/1914

1.170

4½% Anleihe
VII/1915

585.000

5% Anleihe
II/1915

500.000

Darlehen der Banca d'Italia

1.216.350

5% Anleihe
II/1915

9.103

5½% Anleihe
V/1915

2.780

5% amerik.
Anleihe
X/1915

50.000

5½% Anleihe
V/1915

1.000.000

 

5% Anleihe
IX/1915

12.101

6% Anleihe
VI/1915

1.124

Schatz-
anweisungen

214.000

3½% Anleihe
VII/1914

500.000

4% Serie
VIII/1914

300.000

Schatz-
anweisungen

4.304

6% Anleihe
in Deutschland – (Val.)
XI/1914

248

 

Bons

7.871.000

4% Serie
III/1915

300.000

 

Obligationen

2.241.000

Diskont
der Schatz-
anweisungen in England

1.248.324

dito
VII/1915

253

Englische
Anleihen

1.250.000

dito
in Frankreich

234.750

Schwebende
Schuld

5.112

Anleihen
aus den Vereinigten
Staaten

1.250.000

Valuta-
anleihe
IV/1915

200.000

 

 

5½% Anleihe
XI/1915 [16]

1.000.000

Insgesamt: 1.232.600

Insgesamt: 20.642.000

Insgesamt:
9.933.074.000 Rubel

Insgesamt: 3.216.350

Insgesamt: 30.000 

Insgesamt: 12.987

= 11.660.596.000 Rubel
1 Rubel = RM 2,16

= 7.766.000.000 Rubel

= 1.206.129.000 Rubel

= 13.290.000.000 Rubel

= 5.112.982.000 Rubel

Insgesamt 47.452.581.000 Rubel (15 Jahresbudgets des Russischen Staates)

Wir benutzen hier eine Zusammenstellung, die in Nr.44 des Wjestnik Finansow, Jahrgang 1915, gebracht ist und betonen, daß die angeführten Zahlen sich nur auf die Kriegsanleihen der sechs größten (von insgesamt 12) kriegführenden Mächten beziehen. Es ist verständlich, daß bei solchen unerhörten Ausgaben, die übrigens zur weiteren Zerstörung von Werten bestimmt sind, die Staatsschuld außerordentlich steigt und die finanzielle Organisation des Staates aus dem Geleise gerät. Das Gleichgewicht des Staatshaushalts wird so gestört, daß es notwendig ist, zusätzliche Quellen zu suchen, um den Staatssäckel zu füllen, denn sonst würden die kolossalen Ausgaben, die auch nach dem Kriege bleiben werden (Zahlung von Zinsen für die Staatsanleihen, Hilfe für die Familien der Invaliden usw.), ohne Deckung bleiben. In Deutschland wird es z.B. notwendig sein, die Staatseinnahmen auf mindestens das Doppelte zu erhöhen. [17] Bei Aufrechterhaltung der gewöhnlichen Arten der staatlichen Einnahmen (eigene Staatsbetriebe, direkte und indirekte Besteuerung) ist die Deckung der Ausgaben unmöglich und die Staaten werden zur Ausdehnung der Monopole schreiten müssen. Die führenden Kreise der Bourgeoisie gewöhnen sich immer mehr an diesen Gedanken, denn die Macht des Staates ist letzten Endes ihre eigene Macht. Folgendes schreibt Dr. Felix Pinner im „wissenschaftlichen“ Organ der deutschen Banken:

Scharfe prinzipielle Gegensätze, die vor dem Kriege hinsichtlich der Monopole überhaupt oder hinsichtlich dieses oder jenes bestimmten Monopols die Meinungen getrennt hatten, sind – wie das ja auch bei anderen bisher für unüberwindlich gehaltenen Gegnerschaften der Fall war – über Nacht verschwunden, und ziemlich allgemein rechnet man damit, daß Projekte, wie das Spiritus-, Petroleum-, Elektrizitätsstrom- und Zündholzmonopol, vielleicht auch das Kohlen-, Speisesalz-, Kali-, Tabak- und Versicherungsmonopol der Verwirklichung nahe sind. [18]

Bei einer solchen Lage der Dinge ist eine weitere Ausbreitung der monopolisierenden Tendenz äußerst wahrscheinlich. Nehmen wir z.B. die Erzeugung von Elektrizität; mit ihr konkurriert die Erzeugung von Gas: auch ein Gasmonopol ist also wahrscheinlich. Noch wahrscheinlicher ist die Ausdehnung der Macht des Staates auf die den Monopolen benachbarten Betriebe. Bei der Monopolisierung der Kohlenindustrie durch den Staat wird auch die Roheisenerzeugung in Mitleidenschaft gezogen. Es lassen sich ziemlich viele solcher Beispiele anführen. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob nicht alle diese Projekte auf dem Papier bleiben werden, ab sie nicht auf den Widerstand der Bourgeoisie selbst stoßen werden?

Wir haben eben die Änderung des Tons gegenüber den staatlichen Monopolen erwähnt. Es gibt freilich auch heute verschiedene Unterklassen der Bourgeoisie, deren in der einen oder anderen Beziehung auseinanderstreben. Aber die wirtschaftliche Entwicklung, die in diesem Punkte durch den Krieg verstärkt wird, muß dazu führen und führt dazu, daß die Bourgeoisie als Ganzes die monopolistische Einmischung der Staatsmacht immer wohlwollender betrachtet. Die Hauptursache dieser Erscheinung ist darin zu suchen, daß die Staatsmacht tatsächlich in eine immer engere Verbindung zu den führenden Kreisen des Finanzkapitals tritt.

Die staatlichen und die privatmonopolistischen Unternehmen verschmelzen sich im Rahmen des staatskapitalistischen Trusts.

Die Interessen des Staates und die Interessen des Finanzkapitals fallen immer mehr zusammen. Andererseits erfordert die ungeheure Anspannung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt eine maximale Zentralisierung und eine maximale Macht des Staates. Diese zwei Ursachen einerseits, fiskalische Erwägungen andererseits sind die Hauptfaktoren der Verstaatlichung der Produktion im kapitalistischen Rahmen.

Die Bourgeoisie verliert nichts, wenn sie die Produktion aus einer Hand in die andere nimmt, denn die moderne Staatsgewalt ist nichts anderes als ein ungeheuer mächtiger Unternehmerverband, an dessen Spitze sogar dieselben Personen wie an der Spitze der Banken und Syndikate stellen. Der Unterschied ist nur, daß sie dann ihre Einnahmen nicht aus dem Syndikat, sondern von den staatlichen Banken erhält. Aber andererseits gewinnt die Bourgeoisie sehr viel bei einer solchen Übergabe, den sie kann nur bei Vorhandensein einer zentralisierten, militarisierten und folglich verstaatlichten Produktion darauf hoffen, als Sieger aus dem blutigen Streit hervorzugehen.

Für den modernen Krieg ist nicht nur eine finanzielle „Fundierung“ notwendig. Für seine erfolgreiche Führung ist es notwendig. daß die Betriebe, die Bergwerke, die Landwirtschaft, die Banken und Börsen, daß alles für den Krieg „arbeitet“. „Alles für den Krieg“ ist die Losung der Bourgeoisie. Die Bedürfnisse des Krieges und der imperialistischen Kriegsvorbereitungen drängen die Bourgeoisie zu einer neuen Form des Kapitalismus, zur Verstaatlichung der Produktion und Verteilung, zur endgültigen Vernichtung des alten bürgerlichen Individualismus.

Natürlich werden nicht alle Maßregeln der Kriegszeit auch nach dem Kriege bestehen bleiben. Solche Maßregeln wie etwa die Rationierung des Brot- und Fleischverbrauchs, das Verbot der Herstellung einer ganzen Reihe von Produkten, das Verbot der Ausfuhr usw., alles das wird nach dem Friedensschluß verschwinden. Aber ebenso unzweifelhaft ist, daß die Tendenz zur Beherrschung der Produktion durch den Staat immer stärker werden wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird in einer ganzen Reihe von Industriezweigen eine Zusammenarbeit zwischen Staat und privatkapitalistischen Monopolen nach dem Muster der gemischten Betriebe eingeführt werden. In der Rüstungsindustrie ist dagegen der rein staatliche Typus am wahrscheinlichsten. Cunow bestimmt die Zukunft der nationalen Staaten sehr richtig als die „Vorherrschaft der Bankfinanz, Zunahme der industriellen Konzentration, Vermehrung der Staatskontrolle und der Staatsbetriebe“. [19]

Der Prozeß der Organisierung der Industrie unter Verstärkung der wirtschaftlichen Betätigung des Staates stellt die Frage nach dem sozialen Sinn dieser, wie der Professor Jaffé sagt, prinzipiellen Änderung der wirtschaftlichen Struktur. Vor allem melden sich hier die sog. Staatssozialisten, die ihre Anhänger hauptsächlich unter den Professoren der deutschen Universitäten zählen. Karl Ballod stellt ganz ernsthaft die Frage der Wiedergeburt der Utopien und glaubt, daß die staatlichen Monopole usw. bereit eine andere Struktur der Produktion verwirklichen. [20] Jaffé schreibt, daß die Militarisierung des Wirtschaftslebens sich von dem Sozialismus hauptsächlich dadurch unterscheide, daß mit dem Begriff Sozialismus „eudomonistische Gedankengänge“ verbunden würden, während hier die Persönlichkeit ganz in den Dienst der „Gesamtheit“ gestellt sei. [21] Sehr interessant ist die Ansicht des Professors Krahman. Er schreibt folgendes über die Zukunft des Bergbaus:

Der gegenwärtige kräftige Zusammengriff aller staatserhaltenden und landverteidigenden Mittel durch die Hand der von militärischen Rücksichten geleiteten Staatsgewalt bringt und natürlich auch in der Montanindustrie dem Staatssozialismus ein gutes Stück näher. Aber doch in anderer Weise, als man vor dem Kriege hier gefürchtet, dort gehofft hatte. Es ist kein international verwässerter, sondern ein national gestärkter Sozialismus, dem wir näher kommen. Es ist kein demokratischer Kommunismus, noch weniger eine aristokratische Klassenregierung, sondern ein klassenversöhnender Nationalismus, dem wir uns seit dem 1. August 1914 mit früher ganz unmöglich gehaltenen Riesenschritten genähert haben ... [22]

Was aber stellt das „prinzipiell veränderte“ Bild des modernen „Staatssozialismus“ dar? Nach unserer Darlegung drängt sich die Antwort von selbst auf: Wir haben es mit einem Prozeß der beschleunigten Zentralisierung im Rahmen des staatskapitalistischen Trusts zu tun, der sich zu seiner höchsten Form entwickelt, und zwar in der Form nicht des Staatssozialismus, sondern des Staatskapitalismus. Eine prinzipiell neue Struktur der Produktion, d.h. eine Änderung des Klassenverhältnisses liegt hier keineswegs vor. Wir haben es im Gegenteil mit einer potenzierten Macht der Klasse zu tun, die über Produktionsmittel in einem bisher nie gekannten Umfange verfügt. Deshalb ist es nicht nur sehr gewagt, sondern auch äußerst unsinnig, diesem Zustand der Dinge eine Terminologie beizulegen, die auf nicht mehr kapitalistische Verhältnisse hinweist. „Kriegssozialismus“ und „Staatssozialismus“ sind Bezeichnungen, die zu dem direkten Zweck in Umlauf gebracht wurden, irrezuführen und durch ein „schönes“ Wort den wirklichen und durchaus nicht schönen Inhalt zu verdecken. Die kapitalistische Produktionsweise beruht darauf, daß die Produktionsmittel durch die Klasse der Kapitalisten auf der allgemeinen Grundlage der Warenwirtschaft monopolisiert sind. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob die Staatsmacht der unmittelbare Ausdruck dieser Monopolisierung ist, oder ob diese Monopolisierung auf „privatem Wege“ organisiert ist. In dem einen wie im anderen Falle bleibt die Warenwirtschaft (vor allem der Weltmarkt) bestehen und, was noch wichtiger ist, das Klassenverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie. [23]

Die Zukunft gehört also (soweit der Kapitalismus überhaupt bestehen bleibt) Wirtschaftsformen, die dem Staatskapitalismus nahe stehen. Diese weitere Entwicklung der staatskapitalistischen Trusts, die in hohem Maße durch den Krieg beschleunigt wird, wirkt ihrerseits auch auf den internationalen Kampf unter den staatskapitalistischen Trusts zurück. Wir haben bereits gesehen, wie die Tendenz zur Verwandlung der kapitalistischen Staaten in staatskapitalistische Trusts auf die gegenseitigen Beziehungen dieser Staaten zurückwirft. Die monopolisierenden Bestrebungen innerhalb des „nationalen“ Organismus riefen sofort monopolisierende Raubbestrebungen nach außen hervor, wodurch die Konkurrenz und ihre Folgen äußerst verschärft wurden. Mit der weiteren inneren Zentralisierung wird diese verschärfte Lage aufs äußerste gesteigert. Hierher gehört auch der beschleunigte Prozeß der Einengung des freien Feldes der kapitalistischen Betätigung. Die Tatsache unterliegt keinem Zweifel, daß die nächste Zukunft die schärfsten Konflikte mit sich bringen, daß die gesellschaftliche Atmosphäre von einer ständigen Kriegsgefahr erfüllt sein wird. Ein äußerer Ausdruck dieses Umstandes ist das ungewöhnliche Wachstum des Militarismus und der imperialistischen Stimmungen. England, das Land der „Freiheit“ und des „Individualismus“, hat bereits Zölle eingeführt und schafft ein stehendes Heer. Sein Staatshaushalt wird militarisiert. Amerika bereitet direkt gewaltige militärische Rüstungen vor. Das gleiche erfolgt überall, in Deutschland, Frankreich und Japan. Die Zeit des idyllischen, „friedlichen“ Daseins ist unwiderruflich vorbei, und die kapitalistische Gesellschaft ist in den wahnsinnigen Strudel der Weltkriege hineingeraten ...

Wir müssen noch einige Worte über die zukünftige Gestaltung der Klassenverhältnisse sagen, da es schon a priori ganz klar ist, daß die neuen Formen der kapitalistischen Verhältnisse auf die Lage der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zurückwirken müssen. Die wichtigste ökonomische Frage ist, welches Schicksal die verschiedenen Teile des „Nationaleinkommmens“ haben werden. Die Frage besteht mit anderen Worten darin, wie das „nationale“ Produkt unter den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen werden und vor allem, wie sich der „Anteil“ der Arbeiterklasse entwickeln wird. Dabei setzen wir voraus, daß der Prozeß in allen entwickelten Ländern fast gleichmäßig verlaufen wird, und daß die Gesetze, die für die „nationalen“ Wirtschaften zutreffen, auch für die Weltwirtschaft gelten.

Vor allem ist eine tiefgehende Tendenz zum Fall des realen Arbeitslohns hervorzuheben. Die Teuerung, die im Wesen auf der Disproportionalität der kapitalistischen Produktion beruht, wird nicht nur nicht verschwinden, sondern im Gegenteil zunehmen. (Wir sprechen natürlich nicht von der spezifischen „Kriegssteuerung“.) Die Disproportionalität zwischen Weltindustrie und Weltlandwirtschaft wird immer mehr zunehmen, da wir in das Stadium einer beschleunigten Industrialisierung der Agrarländer eingetreten sind. Die Zunahme des Militarismus und die Kriege werden die Steuerlast auf das äußerste steigern. „Alles, was besteuert werden kann, wird besteuert werden. Alles, was besteuert werden wird, wird die höchste Steuerlast tragen.“ So schrieb die Torgowo-Promyschlennaja-Gaseta [24]. Das ist keine leere Phrase. Bei den kolossalen unproduktiven Ausgaben und der Umstellung des Staatshaushalts ist eine Zunahme der direkten wie der indirekten Besteuerung unausbleiblich. Die Verschärfung der Teuerung geht auch auf anderem Wege vor sich: Erstens steigen die Preise infolge der Erhöhung der Zollsätze. Zweitens kommt hierzu die Steigerung der Monopolpreise in den kartellierten Industriezweigen. Die staatlichen Monopole verteuern die Produkte aus fiskalischen Erwägungen. Im Ergebnis wird ein immer größerer Teil des Produkts der Bourgeoisie und ihrem Staat zufallen.

Andererseits wird die entgegengesetzte Tendenz, die von der Arbeiterkasse ausgeht, auf den wachsenden Widerstand der konsolidierten und organisierten, unmittelbar mit dem Staat verwachsenen Bourgeoisie stoßen. Die in der vorhergegangenen Epoche üblichen Errungenschaften der Arbeiter werden fast unmöglich. Auf diese Wiese kommt es zu einer nicht mehr nur relativen sondern auch absoluten Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse. Die Klassengegensätze verschärfen sich unvermeidlich. Sie verschärfen sich auch aus einem anderen Grunde. Die staatskapitalistische Struktur der Gesellschaft führt außer zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse auch zu ihrer tatsächlichen Versklavung durch den imperialistischen Staat. In der Tat, schon vor dem Kriege waren die Arbeiter und Angestellten der Staatsbetriebe einer Reihe der elementarsten Rechte beraubt: des Koalitionsrechts, des Streikrechts usw. Ein Streik auf der Eisenbahn oder bei der Post wurde fast als Hochverrat angesehen. Der Krieg hat diese Kategorien des Proletariats noch mehr in die Gewalt ihrer Unternehmer gegeben. Aber insofern der Staatskapitalismus fast alle Industriezweige zu „lebenswichtigen“ macht, soweit diese unmittelbar den Interessen des Krieges dienen, insofern wird auch die Strafgesetzgebung auf die gesamte Produktion ausgedehnt. Die Arbeiter verlieren die Freizügigkeit, das Streikrecht, das Recht der Zugehörigkeit zu sogenannten „staatsfeindlichen“ Parteien, das Recht der freien Wahl des Betriebs, in dem sie arbeiten wollen usw. Sie verwandeln sich in Leibeigene, die nicht an den Boden, sondern an den Betrieb gefesselt sind. Sie werden zu weißen Sklaven des imperialistischen Raubstaates, der die gesamte Produktion in den Rahmen seiner Organisation hineingedrängt hat.

Auf diese Weise erreichen die Klassengegensätze eine früher nie möglich gewesene prinzipielle Höhe. Die Verhältnisse zwischen den Klassen nehmen die klarste, durchsichtigste Form an. Der mystische „über den Klassen stehende“ Staat verschwindet sogar aus den Köpfen der Menschen, da er sich unmittelbar in einen Unternehmer und einen Organisator der Produktion verwandelt. Die durch eine Reihe von Zwischengliedern verdeckten Eigentumsverhältnisse treten in unverhüllter Nacktheit hervor. Wenn dies die Lage der Arbeiterklasse in den kurzen Zwischenräumen zwischen den Kriegen sein wird, so wird es unzweifelhaft während der Kriege noch schwerer sein. Und deshalb war die Zeitschrift der englischen Finanz, der Economist ganz im Recht, als er ganz zu Anfang des Krieges schrieb, daß die Welt mit dem Kriege in eine Epoche der schärfsten sozialen Konflikte eintritt ...

 

 

Anmerkungen

1. Hier die Zunahme der amerikanischen Ausfuhr in den ersten vier Monaten der Jahre 1914 und 1915: Januar 1914 – 204,2; Januar 1915 – 267,9; Februar 173.9 und 299,8; März 187,5 und 296.5; April 162,5 und 294,5 Millionen Dollar (Wjestnik Finansow, Nr.38). Charakteristisch ist die Erklärung des Vorstehers des Bureau of Foreign and Domestic Commerce. Pratt: „Wir stehen vor einer neuen Phase, in der die Bezeichnung ‚innerer Markt‘ veraltet und an ihre Stelle die Losung ‚Weltmarkt‘ tritt.“ (Nach Wjestnik Finansow, Nr. 16.)

2. M. Bogolepow: „Der amerikanische Kapitalmarkt“, Wjestnik Finansow, Nr.39, S.501. Siehe auch seine Artikel über das gleiche Thema in Nr.37 u. 38 des Wjestnik Finansow.

3. Schon zu Beginn des Krieges wies Kautsky in der Neuen Zeit auf die wachsende Rolle Amerikas hin.

4. Felix Pinner: Die Konjunktur des wirtschaftlichen Sozialismus in Die Bank, 1915, April, S.113 u. 114.

5. Die Kriegsanleihen sind nichts anderes, als die Aufzehrung von Bestandteilen des fixen Kapitals, die durch Papier ersetzt werden; der reale Wert in seiner sachlichen Form wird in die Luft geschossen und so unproduktiv verbraucht.

6. Siehe Cunow: Vom Wirtschaftsmarkt, Neue Zeit, 33. Jahrg., Bd.II, Nr.22; Der Bank und Geldmarkt im ersten Kriegsjahr. Siehe auch Dr. Weber: Krieg und Banken, Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Krieg und Volkswirtschaft, Heft 7. Verlag von Leonhard Simion, 1915, S.27.

7. Über Deutschland siehe die Zusammenstellung in Joh. Müllers Nationalökonomischer Gesetzgebung. Die durch den Krieg hervorgerufenen Gesetze, Verordnungen, Bekanntmachungen usw. in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1915.

8. Siehe Jaffé: Die Militarisierung unseres Wirtschaftslebens in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1915, Bd.XI, Heft 3.

9. Pinner: Organisierte Arbeit in der Handelszeitung des Berliner Tageblatt, 28. August, 1915.

10. Nach Wjestnik Finansow, 1915, Nr.21, S.518.

11. Siehe Yves Gugot: Les problèmes ècononiques aprês la guerre in Journal des économistes, 15. August 1915.

12. Siehe E. Meyer: Die Drohung mit dem Zwangssyndikat in Neue Zeit, 33. Jahrg., Bd.II, Nr.18. Siehe auch Die Bergwerksdebatte im Reichstag in Handelszeitung des Berliner Tageblatts, Nr.435 (26. August).

13. Dr. Weber: Krieg und Banken, S.14.

14. Zitiert nach Vorwärts vom 21. August 1915.

15. Diese Zahlen sind auch in einer anderen Beziehung ungenügend. Die Staaten setzen die Notenpresse in Bewegung und geben Papiergeld heraus, was eine Art von eigenartiger zinsloser Anleihe ist. In der Tabelle wird gezeigt, daß Österreich-Ungarn bis zum August 1915 (und da die Ziffern für Deutschland bis zum September 1915 einschließlich weitergeführt sind, so kann man auch annehmen, daß dies bis zum Oktober weitergeht) etwa 13 Milliarden Kronen durch Anleihen gewonnen hat. Zur gleichen Zeit betrugen die Kriegsausgaben der österreichisch-ungarischen Regierung etwa 18 Milliarden Kronen, und bis Ende September bereits mehr als 19 Milliarden Kronen. Es ist klar, daß hier irgendwelche Quellen zur Deckung dieser Ausgaben vorhanden sein mußten! Auf diese Weise unterliegt es keinem Zweifel, daß die Gesamtsummen der Tabelle viel geringer sind als in Wirklichkeit.

16. Diese Anleihe ist im Augenblick der Zusammenstellung der Tabelle erst aufgelegt. Im Wjestnik Finansov wird sie nicht erwähnt.

17. Siehe z.B. Adolf Braun in Neue Zeit. 33. Jahrg., Bd.I. S.581.

18. F. Pinner: Die Konjunktur des wirtschaftlichen Sozialismus in Die Bank, April 1915, S.326 u. 327. Über die konkreten Monopole in Deutschland siehe Adolf Braun Elektrizitätsmonopol in Neue Zeit, 33. Jahrg., Bd.I, S.583 u. 620. Edmund Fischer: Das Werden des Elektrizitätsmonopols in Sozialistische Monatshefte, S.443ff. und teilweise Kautsky: Zur Frage der Steuern und Monopole in Neue Zeit 1914/15, 33. Jahrg., Bd.I, S. 682ff.

19. H. Cunow: Die Wirtschafsgestaltung nach dem Kriege im Correspondenzblatt der Gewerkschaften Deutschlands, 25. Jahrg., Nr.37, vom 11. September 1915. Wir bemerken, daß Cunow daraus ganz falsche liberale Schlüsse zieht.

20. Karl Ballod: Einiges aus der Utopienliteratur der letzten Jahre im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, herausgegeben von C. Grünberg, 6. Jahrg., Heft 1. S.117 u. 118.

21. Jaffé, ebenda, S.523.

22. Max Krahman: Krieg und Montanindustrie, S.22 u. 23. Den entgegengesetzten Standpunkt nimmt Liefmann ein (siehe seine Schrift: Stehen wir dem Sozialismus näher?); übrigens ist seine Arbeit überhaupt gegen alle Illusionen gerichtet, was er keineswegs verbirgt.

23. Wenn der Warencharakter der Produktion vernichtet wäre (z.B. bei einer Organisierung der gesamten Weltwirtschaft in einem einzigen ungeheuren Trust, (die, wie wir im Kapitel über den Ultraimperialismus gezeigt haben, unmöglich ist), dann hätten wir es mit einer ganz besonderen Wirtschaftsform zu tun. Das wäre kein Kapitalismus mehr, denn die Produktion von Waren wäre verschwunden. Aber das wäre erst recht kein Sozia1ismus, denn die Herrschaft einer Klasse über die andere bliebe bestehen (ja, wäre sogar noch verlieft). Eine solche Wirtschafsstruktur würde am meisten an eine geschlossene Sklavenwirtschaft bei fehlendem Sklavenmarkt erinnern.

24. Handels- und Industriezeitung, Nr.217, 1915.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003