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WIR HABEN BEREITS GESEHEN, dass es etliche verschiedene Stränge oder Strömungen gibt, die sich durch die Idee des Sozialismus von oben ziehen. Sie sind normalerweise miteinander verflochten, aber lasst uns dennoch einige der wichtigeren Aspekte herausfiltern, um sie genauer zu betrachten.
(1) Die Menschenfreundlichkeit: Der Sozialismus (oder die „Freiheit“ oder was immer du möchtest) muss von den Reichen und Mächtigen aus reiner Herzensgüte nach unten gereicht werden, um den Menschen Gutes zu tun. Bezogen auf die frühen utopischen Sozialisten wie Robert Owen heißt es im Kommunistischen Manifest: „Nur unter dem Gesichtspunkt der leidendsten Klasse existiert das Proletariat für sie.“ Aus Dankbarkeit müssten die geknechteten Armen vor allem vermeiden aufzumucken – und von wegen dieser Unsinn von Klassenkampf und Selbstbefreiung. Dieser Aspekt könnte als ein besonderer Fall des Elitedenkens betrachtet werden.
(2) Das Elitedenken: Wir haben mehrere Fälle dieser Überzeugung erwähnt, dass der Sozialismus die Angelegenheit einer neuen herrschenden Minderheit sei, welche von Natur aus nicht kapitalistisch und deshalb garantiert rein ist, die ihre Dominanz entweder vorübergehend (bloß für eine historische Ära) oder sogar permanent den Menschen aufzwingt. In beiden Fällen wird diese neue herrschende Klasse ihr Ziel begreifen als eine Erziehungsdiktatur über die Massen – um ihnen Gutes zu tun natürlich; eine Diktatur, die von einer Partei der Elite ausgeübt wird und jede Kontrolle von unten unterdrückt; oder die Diktatur eines wohlwollenden Despoten oder Retterführers irgendeiner Art; oder die eines „Übermenschen“ nach Shaw'schem Muster; die von Gen-Manipulatoren; die Diktatur von Proudhons „anarchistischem“ Manager oder Saint-Simons Technokraten oder ihrer moderneren Gegenstücke – gekleidet in moderne Begriffe und neue Wortschleier, die als frische Gesellschaftstheorie dem „Marxismus aus dem 19. Jahrhundert“ gegenübergestellt werden kann.
Auf der anderen Seite sind die revolutionär-demokratischen Befürworter des Sozialismus von unten ebenfalls immer eine Minderheit gewesen, aber die Kluft zwischen dem elitären Ansatz und dem Avantgardeansatz ist entscheidend, wie wir im Falle von Debs sehen konnten. Für ihn wie für Marx und Luxemburg besteht die Funktion der revolutionären Avantgarde darin, die Massenmehrheit anzuregen, sich selbst zu befähigen, die Macht in eigenem Namen zu übernehmen durch ihre eigenen Kämpfe. Es geht nicht darum, die entscheidende Bedeutung von Minderheiten zu leugnen, sondern ein anderes Verhältnis zwischen der fortgeschrittenen Minderheit und der rückständigeren Mehrheit zu bilden.
(3) Der Planismus: Die Schlüsselwörter sind Effizienz, Ordnung, Planung, System – sowie Reglementierung. Sozialismus wird auf Sozialtechnologie reduziert, durchgeführt durch eine Macht, die über der Gesellschaft steht. Auch hier geht es nicht darum zu leugnen, dass ein wirkungsvoller Sozialismus umfassende Planung verlangt (oder dass Effizienz und Ordnung an sich eine gute Sache sind); aber die Reduzierung des Sozialismus auf die geplante Produktion ist etwas ganz anderes. Auch eine effektive Demokratie erfordert das Wahlrecht, aber das Reduzieren der Demokratie auf das Wahlrecht alle Jubeljahre macht sie zum Betrug.
In der Tat wäre es wichtig zu zeigen, dass die Trennung der Planung von der demokratischen Kontrolle von unten die Planung selbst zum Hohn macht; denn die äußerst komplizierten Industriegesellschaften von heute lassen sich nicht wirkungsvoll durch die Erlasse eines allmächtigen Zentralkomitees planen, welches das freie Spiel der Initiative und die Korrektur von unten hemmt und terrorisiert. Dies ist tatsächlich der grundsätzliche Widerspruch des neuen Typus ausbeutender Sozialsysteme wie das des sowjetischen bürokratischen Kollektivismus. Aber wir können dieses Thema an dieser Stelle nicht weiterentwickeln.
Die Ersetzung des Sozialismus durch den Planismus hat eine lange Geschichte, ganz getrennt von seiner Verkörperung im sowjetischen Mythos, dass Verstaatlichung gleich Sozialismus bedeute. Dieser Lehrsatz wurde, wie schon oben gesehen, zuerst vom sozialdemokratischen Reformismus systematisiert (besonders von Bernstein und den Fabiern). Während der Dreißigerjahre wurde der Planungsmystizismus, teilweise von der sowjetischen Propaganda übernommen, zum maßgeblichen Thema des rechten Flügels der Sozialdemokratie, wo Henri de Man als sein Prophet und als Nachfolger von Marx bejubelt wurde. De Man ist von der historischen Bildfläche verschwunden und jetzt in Vergessenheit geraten, weil er den Fehler beging, seine revisionistischen Theorien bis hin zum Korporatismus zu treiben und dann zur Zusammenarbeit mit den Nazis.
Abgesehen von der theoretischen Konstruktion erscheint der Planismus in der sozialistischen Bewegung in einem bestimmten psychologischen Typus eines Radikalen am häufigsten verkörpert. Ehre, wem Ehre gebührt: Ein erster Umriss dieses Typus wurde sichtbar in Hilaire Bellocs Buch The Servile State, der dabei die Fabier vor Augen hatte. Dieser Typus, schreibt Belloc:
„... liebt das kollektivistische Ideal an sich ..., weil es eine geordnete und regelmäßige Form der Gesellschaft ist. Er betrachtet sehr gern das Ideal eines Staats, worin Beamte Land und Kapital in ihren Händen halten, die anderen Menschen befehligen werden und sie so vor den Konsequenzen ihrer Fehler, Unwissenheit und Torheit schützen.“ Belloc schreibt weiter: „In ihm erregt die Ausbeutung des Menschen keine Entrüstung. Tatsächlich ist er nicht der Typ, dem Entrüstung oder irgendeine andere Leidenschaft bekannt wäre ...“ Belloc hat hier Sidney Webb vor Augen. „... die Aussicht auf eine riesige Bürokratie, worin das gesamte Leben nach bestimmten einfachen Schemata verplant und verregelt werden wird, gibt seinem kleinen Magen eine endgültige Befriedigung.“
Was zeitgenössische Vertreter mit prostalinistischer Färbung betrifft, lassen sich unzählige Beispiele in Paul Sweezys Magazin Monthly Review finden. In einem Artikel über die Beweggründe des Sozialismus, den er 1930 verfasste, zu einer Zeit, als er sich immer noch als Leninist betrachtete, beschrieb Max Eastman diesen Typus als fixiert auf „Effizienz und intelligente Organisation ... eine wahre Leidenschaft für den Plan ... geschäftsmäßige Organisation“. Stalins Russland übe auf diesen Typus große Anziehungskraft aus, kommentierte er:
Für diese Region muss man sich in anderen Ländern vielleicht entschuldigen – sicherlich aber kann sie nicht vom Standpunkt eines verrückten Traums wie Emanzipation der Arbeiter und damit der ganzen Menschheit angeprangert werden. Dagegen war für diejenigen, welche die marxistische Bewegung aufbauten und die ihren Sieg in Russland organisierten, dieser verrückte Traum der zentrale Beweggrund. Sie waren, was einige nun zu vergessen geneigt sind, extreme Rebellen gegen die Unterdrückung. Lenin wird vielleicht herausragen, wenn der Aufruhr um seine Ideen nachlässt, als der größte Rebell der Geschichte. Seine größte Leidenschaft galt der Befreiung der Menschen ... Will man das Ziel des Klassenkampfs, wie es in Marx’ Schriften und besonders in den Schriften von Lenin definiert wird, auf einen einzigen Begriff bringen, dann heißt er: Freiheit des Menschen ...
Es könnte hinzugefügt werden, dass Lenin mehr als einmal den Drang zur totalen Planung als „bürokratische Utopie“ verwarf.
Es gibt eine Unterabteilung in der planistischen Strömung, die auch einen Namen verdient: Nennen wir sie den Produktionismus. Natürlich sind alle „für“ die Produktion, ebenso wie alle für die Tugend und das gute Leben sind; aber für diesen Typus ist die Produktion der entscheidende Prüfstein und das Endziel einer Gesellschaft. Der russische bürokratische Kollektivismus ist „fortschrittlich“ auf Grund der Statistik über die Herstellung von Roheisen (der gleiche Typus ignoriert normalerweise die beeindruckenden Statistiken über die gesteigerte Produktion unter dem nazistischen oder japanischen Kapitalismus). Unter Nasser, Castro, Sukarno oder Nkrumah ist es in Ordnung, freie Gewerkschaften zu zerschlagen oder ihre Entstehung zu verhindern, weil etwas, das sich „wirtschaftliche Entwicklung“ nennt, unbedingt Vorrang vor Menschenrechten hat. Dieser hartgesottene Standpunkt wurde natürlich nicht von diesen „Radikalen“ erfunden, sondern von den gefühllosen Ausbeutern während der kapitalistischen industriellen Revolution; und die sozialistische Bewegung entstand im verbissenen Kampf gegen diese Theoretiker der „fortschrittlichen“ Ausbeutung. Auch in dieser Hinsicht neigen Apologeten moderner „linker“ autoritärer Regimes dazu, diese uralte Lehre als die neueste Offenbarung der Soziologie zu betrachten.
(4) Der „Kommunionismus“: In seinem oben erwähnten Artikel von 1930 bezeichnete Max Eastman diesen als „das Muster der vereinigten Brüderschaft“ der „Herdensozialisten oder der Sozialisten der menschlichen Solidarität“ – „derjenigen, die sich aus einer Mischung aus religiöser Mystik und tierischem Geselligkeitstrieb nach der menschlichen Solidarität sehnen“. Diese Vorstellung sollte nicht mit dem Begriff der Solidarität in Streiks usw. verwechselt werden, und sie ist auch nicht notwendigerweise identisch mit dem, was in der sozialistischen Bewegung die Genossenschaft ist oder anderswo der „Gemeinschaftssinn“. Sein spezifischer Inhalt, sagt Eastman, liegt in der „Suche nach dem Eintauchen in eine Gesamtheit, eine Totalität, um sich ganz am Busen eines Gottersatzes zu verlieren“.
Eastman verweist hier auf Max Gold, einen Schriftsteller aus der Kommunistischen Partei; ein anderes ausgezeichnetes Beispiel ist Harry F. Ward, der abgehärtete geistliche Mitläufer der Kommunistischen Partei, in dessen Büchern diese Art der „gewaltigen“ Sehnsucht nach der Aufgabe der Individualität des Einzelnen theoretisiert ist. Bellamys Notizbücher enthüllen ihn als klassischen Fall: Er schreibt über die Sehnsucht „nach dem vollkommenen Aufgehen in der großen Allmacht des Universums“; seine „Religion der Solidarität“ spiegelt sein Misstrauen gegenüber dem Individualismus der Persönlichkeit, sein Verlangen, das Selbst in der Gemeinschaft mit etwas Größerem aufzulösen.
Diese Strömung ist sehr auffällig bei einigen der autoritärsten Sozialismen von oben und nicht selten anzutreffen bei den menschenfreundlichen Eliteanhängern mit christlich-sozialistischen Ansichten. Natürlich wird diese Form eines „kommunionistischen“ Sozialismus immer als „ethischer Sozialismus“ begrüßt und gepriesen, weil er den Klassenkampf verabscheut; denn es darf keinen Konflikt innerhalb eines Bienenstocks geben. Er neigt dazu, den „Kollektivismus“ grob dem „Individualismus“ gegenüberzustellen (ein falscher Gegensatz von einem humanistischen Standpunkt aus gesehen), aber was er wirklich bestreitet, ist die Individualität.
(5) Die Strategie des Durchdringens: Der Sozialismus von oben erscheint in vielen verschiedenen Formen aus dem einfachen Grund, weil es immer mehrere Alternativen zur Selbstaktivität der Massen von unten gibt, aber die hier diskutierten Fälle lassen sich im Wesentlichen in zwei Familien aufteilen.
Die eine hat den Sturz der gegenwärtigen kapitalistischen hierarchischen Gesellschaft zum Ziel, um sie durch eine neue nicht kapitalistische hierarchische Gesellschaft zu ersetzen, die sich auf eine neue Gattung einer herrschenden Klasse der Elite stützt. (Diese Varianten werden normalerweise in der Sozialismusgeschichte als „revolutionär“ bezeichnet.) Die andere verfolgt die Strategie, die Machtzentren der bestehenden Gesellschaft zu durchdringen, um sie – allmählich, unvermeidlich – in einen verstaatlichten Kollektivismus zu verwandeln, vielleicht Molekül für Molekül, wie Holz sich in Achat versteinert. Das ist das charakteristische Merkmal der reformistischen, sozialdemokratischen Spielarten des Sozialismus von oben.
Der Begriff Einsickerungsstrategie wurde von der Tendenz zur Selbstkennzeichnung eingeführt, die wir schon als „reinste“ je gesehene Variante des Reformismus bezeichnet haben: dem Fabianismus von Sidney Webb. Alle sozialdemokratischen Strategien des Einsickerns beruhen auf einer Theorie der mechanischen Unvermeidlichkeit: das unvermeidliche Sich-selbst-Kollektivieren des Kapitalismus von oben, das dann dem Sozialismus gleichgesetzt wird. Druck von unten (wo er als zulässig betrachtet wird) kann den Prozess beschleunigen und glätten, vorausgesetzt, er bleibt unter Kontrolle, um die Selbstkollektivierer nicht zu verängstigen. Daher sind die sozialdemokratischen Anhänger des Einsickerns nicht nur bereit, sondern begierig, „dem Establishment beizutreten“ anstatt es zu bekämpfen, welche Rolle auch immer ihnen zugewiesen wird, ob als Kabinenjunge oder Kabinettsminister. Typischerweise besteht für sie die Funktion ihrer Bewegung von unten hauptsächlich darin, die herrschenden Mächte zu erpressen, damit diese sie mit einem Posten für das Einsickern bestechen können.
Die Tendenz zur Kollektivierung des Kapitalismus ist tatsächlich real: Wie gesehen, bedeutet sie die bürokratische Kollektivierung des Kapitalismus. Während sich dieser Prozess fortsetzte, erlebte die heutige Sozialdemokratie selbst eine Verwandlung. Der führende Theoretiker dieses Neoreformismus, C.A.R. Crosland, prangert heute die milden Äußerungen zu Gunsten der Verstaatlichung an, die ursprünglich für das Programm der britischen Labour Party von Sidney Webb selbst (mit Hilfe von Arthur Henderson) geschrieben wurden! Die Zahl der europäischen Sozialdemokratien, die inzwischen ihre Programme von allen spezifisch antikapitalistischen Inhalten gesäubert haben – eine nagelneue Erscheinung in der sozialistischen Geschichte –, spiegelt wider, inwieweit der bestehende Prozess der bürokratischen Kollektivierung als Schritt zum versteinerten „Sozialismus“ akzeptiert wird.
Das ist das Einsickern als große Strategie. Sie führt natürlich zum Einsickern als politischer Taktik, ein Thema, das wir hier nicht verfolgen können, außer seine gegenwärtig auffallendste amerikanische Form zu erwähnen: die Politik der Unterstützung der Demokratischen Partei und die Koalition der Liberalen und Arbeiterbewegung um den „Johnson-Konsens“, seine Vorgänger und seine Nachfolger.
Die Unterscheidung zwischen diesen beiden „Familien“ des Sozialismus von oben gilt für alle hausgemachten Sozialismen von Babeuf zu Harold Wilson; das heißt für Fälle, in denen die soziale Basis der jeweiligen sozialistischen Strömung innerhalb des nationalen Systems liegt, sei es die Arbeiteraristokratie, deklassierte Elemente oder irgendeine andere Schicht. Der Fall liegt etwas anders bei den „Sozialismen von außen“, deren Träger die Kommunistischen Parteien sind, deren Strategie und Taktik letztendlich von einer Machtbasis außerhalb jeder einheimischen gesellschaftlichen Schicht abhängen – das heißt, von den bürokratisch-kollektivistischen herrschenden Klassen im Osten.
Die Kommunistischen Parteien haben gezeigt, dass sie sich in einer einzigartigen Weise von jeder Art der hausgemachten Bewegung unterscheiden in ihrer Fähigkeit, die Taktiken der „revolutionären“ Opposition sowie des Einsickerns abwechselnd zu verwenden oder sie zu kombinieren, wie es ihnen beliebte. So konnte die amerikanische Kommunistische Partei von ihrer linksradikalen abenteuerlichen Politik der „Dritten Periode“ zwischen 1928 und 1934 zur ultraeinsickernden Taktik der Volksfrontperiode schwenken, und dann zurück zu einem Feuer speienden „Revolutionismus“ während der Periode des Hitler-Stalin-Pakts, und wiederum während der Auf-und-ab-Bewegungen des Kalten Krieges zu verschiedenen Graden der Kombination beider Taktiken. Angesichts der gegenwärtigen kommunistischen Spaltung entlang der Moskau/Peking-Linie neigen die „Chruschtschowisten“ und die Maoisten dazu, jeweils eine der Taktiken anzuwenden, die früher abwechselnd eingesetzt wurden.
In der Innenpolitik tendieren die offiziellen Kommunistischen Parteien und die Sozialdemokraten häufig dazu, sich in einer Politik des Einsickerns einander zu nähern, wenn auch von der Position unterschiedlicher Sozialismen von oben.
(6) Sozialismus von außen: Die oben erwähnten Formen des Sozialismus von oben rechnen mit der Macht an der Spitze ihrer Gesellschaft: Jetzt kommen wir zur Erwartung des Beistands von außen.
Der Kult der fliegenden Untertassen ist eine pathologische, der Messianismus eine traditionellere Form, bei der „außen“ außerhalb dieser Welt bedeutet; aber für unseren Zweck heißt „außen“ außerhalb des gesellschaftlichen Kampfes im Inland. Für die Kommunisten Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg musste die neue Ordnung auf russischen Bajonetten importiert werden; die deutschen Sozialdemokraten im Exil konnten sich letztendlich die Befreiung der eigenen Bevölkerung nur von Gnaden der militärisch siegreichen Alliierten vorstellen.
Die Variante während der Friedenszeit ist der „Sozialismus als Musterbeispiel“. Dies war natürlich die Methode der alten Utopisten, die ihre Musterkolonien im amerikanischen Hinterwald aufbauten, um die Überlegenheit ihres Systems zu demonstrieren und die Ungläubigen zu bekehren. Heute liegt in dieser Art Ersatz für den gesellschaftlichen Kampf zu Hause zunehmend die wesentliche Hoffnung der westlichen kommunistischen Bewegung.
Als Musterbeispiel gilt Russland (oder China für die Maoisten); und während es schwierig ist, die Lage der russischen Proletarier den Arbeitern im Westen selbst mit einer großzügigen Dosis von Lügen halbwegs schmackhaft zu machen, lässt sich durch zwei andere Herangehensweisen mehr Erfolg erwarten:
(a) Die relativ privilegierte Stellung der leitenden, bürokratischen und intellektuell-lakaienhaften Elemente im russischen kollektivistischen System können der Lage im Westen spitzfindig gegenübergestellt werden, wo diese gleichen Elemente den Kapitaleigentümern und den Manipulateuren des Reichtums untergeordnet sind. Auf dieser Ebene trifft sich die Anziehungskraft des sowjetischen Systems einer verstaatlichten Ökonomie mit der historischen Anziehungskraft des Mittelstands-Sozialismus für gekränkte Klassenelemente unter den Intellektuellen, Technologen, Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Angestellten, den Verwaltungsbürokraten und Organisationsmenschen aller Art, die sich am leichtesten mit einer neuen herrschenden Klasse identifizieren können, die auf Staatsmacht und nicht auf Geldmacht und Eigentum beruht, und die sich deshalb als die neuen Machtmenschen in einem nicht kapitalistischen aber elitären System vorstellen können.
(b) Während die offiziellen Kommunistischen Parteien dazu benötigt werden, die orthodoxe Fassade eines so genannten „Marxismus-Leninismus“ aufrechtzuerhalten, befreien sich immer häufiger ernsthafte Theoretiker des Neostalinismus, die nicht an die Partei gebunden sind, von der Verstellung. Eine Entwicklung ist das offene Aufgeben jeder Perspektive des Siegs durch den gesellschaftlichen Kampf innerhalb der kapitalistischen Länder. Die „Weltrevolution“ wird einfach gleichgesetzt mit der Demonstration der kommunistischen Länder, dass ihr System überlegen ist. Jetzt haben zwei führende Theoretiker des Neostalinismus, Paul Sweezy und Isaac Deutscher, diese Vorstellung in Thesenform entwickelt.
Das Buch Der Monopolkapitalismus von Baran und Sweezy (1966) lehnt rundweg „die Antwort der traditionellen marxistischen Orthodoxie ab, dass sich das industrielle Proletariat letztendlich revolutionär gegen seine kapitalistischen Unterdrücker erheben muss“. Das Gleiche gilt für alle anderen „Rand“-Gruppen der Gesellschaft – Arbeitslose, Landarbeiter, die Massen in den Ghettos usw.; sie können keine „zusammenhängende Kraft in der Gesellschaft bilden“. Das lässt niemanden übrig; der Kapitalismus lässt sich nicht wirksam von innen herausfordern. Was dann? Eines Tages, erklären die Autoren auf der letzten Seite, „vielleicht nicht in diesem Jahrhundert“, werden die Menschen ihre Illusionen in den Kapitalismus verloren haben, „in dem Maße wie sich die Weltrevolution ausbreitet und die sozialistischen Länder durch ihr Beispiel zeigen, dass es möglich ist“, eine rationale Gesellschaft aufzubauen [meine Hervorhebung; d.A.]. Das ist alles. So werden die marxistischen Phrasen, welche die anderen 366 Seiten dieses Essays füllen, einfach zu einem Zauberspruch ebenso wie die Lesung der Bergpredigt im Petersdom.
Dieselbe Perspektive wird weniger grob von einem etwas weitschweifigerem Autor, von Isaac Deutscher in seinem Buch The Great Contest („Der große Wettkampf“), unterbreitet. Deutscher übermittelt die neue sowjetische Theorie, „... dass der westliche Kapitalismus weniger – oder nicht unmittelbar – wegen seiner eigenen Krisen und ihm innewohnenden Widersprüche untergehen wird, sondern wegen seiner Unfähigkeit, mit den Errungenschaften des Sozialismus [d.h. der kommunistischen Staaten] gleichzuziehen“; und weiter: „Man könnte sagen, dass diese Vorstellung bis zu einem gewissen Grad die marxistische Perspektive einer permanenten sozialen Revolution ersetzt hat.“ Hier haben wir eine theoretische Begründung für das, was seit langer Zeit die Funktion der kommunistischen Bewegung im Westen ist: als Grenzschützer und Lockvogel für das konkurrierende rivalisierende Establishment im Osten zu dienen. Vor allem wird die Perspektive des Sozialismus von unten diesen Professoren des bürokratischen Kollektivismus ebenso fremd wie den Apologeten des Kapitalismus in den amerikanischen Akademien.
Dieser Typus neostalinistischer Ideologen steht dem bestehenden sowjetischen Regime meistens kritisch gegenüber – dafür ist Deutscher ein gutes Beispiel, der so weit wie vermeidet, zu einem unkritischen Apologeten Moskaus zu werden, wie es die offiziellen Kommunisten sind. Sie müssen als Anhänger des Einsickerns in Bezug auf den bürokratischen Kollektivismus begriffen werden.
Was als „Sozialismus von außen“ erscheint, wenn er von der kapitalistischen Welt aus betrachtet wird, wird zu einer Art Fabianismus, wenn er im Rahmen des kommunistischen Systems betrachtet wird.
In diesem Zusammenhang ist die „Veränderung nur von oben“ ein ebenso festes Prinzip für diese Theoretiker, wie sie es für Sidney Webb war. Das zeigte sich beispielhaft an Deutschers feindseliger Reaktion auf den Aufstand in der DDR 1953 und die ungarische Revolution von 1956, die er klassisch damit begründete, solche Umwälzungen von unten würden das sowjetische Establishment von seinem Kurs der „Liberalisierung“ durch die Unvermeidlichkeit des Allmählichen abschrecken.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003