Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

10. Auf welcher Seite stehst du?

VOM STANDPUNKT DER INTELLEKTUELLEN, die ihre Rolle im gesellschaftlichen Kampf wählen können, hat die Perspektive des Sozialismus von unten historisch wenig Anziehungskraft gehabt. Sogar innerhalb der sozialistischen Bewegung hatte sie wenige konsequente Befürworter und nicht viele inkonsequente gehabt. Außerhalb der sozialistischen Bewegung lautet die Standardbehauptung natürlich, solche Vorstellungen seien eine schöne Fantasie, nicht umsetzbar, unrealistisch, „utopisch“; idealistisch vielleicht, aber versponnen. Die Masse der Bevölkerung sei angeboren dumm, korrupt, apathisch und im Allgemeinen hoffnungslos; fortschrittliche Veränderung müsste vielmehr durch überlegene Menschen wie (zufälligerweise) dem Intellektuellen kommen, der diese Gedanken von sich gibt. Dies wird dann in eine Theorie vom Eisernen Gesetz der Oligarchie oder das blecherne Gesetz der Elitedenkens verwandelt und beinhaltet auf gewisse Weise die grobe Theorie der Unvermeidlichkeit – der Unvermeidlichkeit der „Veränderung nur von oben“.

Ohne mir anzumaßen, in wenigen Worten die Argumente für und wider diese weit verbreitete Ansicht erörtern zu können, können wir die gesellschaftliche Funktion, die sie als sich selbst rechtfertigendes Ritual einer Elite hat, zur Kenntnis nehmen. Zu „normalen“ Zeiten, wenn sich die Massen nicht bewegen, verlangt diese Theorie lediglich, verächtlich mit dem Finger auf sie zu zeigen, während die ganze Geschichte der Revolution und der revolutionären Umwälzungen einfach als veraltet abgetan wird. Aber ein neuer Aufschwung revolutionärer Bewegungen und gesellschaftlicher Unruhen, die sich gerade dadurch definieren, dass die zuvor untätigen Massen auf der historischen Bühne auftreten, und die charakteristisch sind für Perioden, wenn grundlegende soziale Veränderungen auf der Tagesordnung stehen, ist genauso „normal“ in der Geschichte wie die dazwischenliegenden Perioden des Konservatismus. Wenn der Elitetheoretiker deshalb die Haltung des wissenschaftlichen Beobachters aufgeben muss, der bloß vorhersagt, dass die Masse der Bevölkerung immer weiter untätig bleiben wird, wenn er mit der entgegengesetzten Wirklichkeit einer revolutionären Masse konfrontiert ist, die droht, die Machtstrukturen zu stürzen, zögert er typischerweise nicht, sich auf eine ganz andere Schiene zu begeben: Er denunziert die Einmischung der Massen von unten als das Übel an sich.

Tatsache ist, dass die Wahl zwischen dem Sozialismus von oben und dem Sozialismus von unten für den Intellektuellen grundsätzlich eine moralische Wahl ist, während es für die arbeitenden Massen, die keine gesellschaftliche Alternative haben, eine Frage der Notwendigkeit ist. Der Intellektuelle mag die Möglichkeit haben, „in das Establishment aufzusteigen“, der Arbeiter nicht; die gleiche Möglichkeit steht auch den Führern der Arbeiterbewegung offen, die, wenn sie aus ihrer Klasse aufsteigen, vor einer ähnlichen Wahl stehen, die es vorher nicht für sie gab. Der Druck zur Übereinstimmung mit den Sitten der herrschenden Klasse, der Druck zur Verbürgerlichung wird stärker je mehr sich die persönlichen und organisatorischen Verbindungen zu ihrer Basis lockern. Für einen Intellektuellen oder bürokratisierten Funktionär ist es nicht schwierig sich davon zu überzeugen, dass das Eindringen in und die Anpassung an die bestehende Macht ein kluger Weg ist, wenn (zufälligerweise) dieser Weg auch ermöglicht, an den Vergünstigungen, die Einfluss und Geldfluss bieten, teilzuhaben.

Als Ironie der Geschichte ist das „Eiserne Gesetz der Oligarchie“ deshalb hauptsächlich eisern für die intellektuellen Elemente, die es formuliert haben. Als soziale Schicht (abgesehen von außergewöhnlichen Individuen) hat sich die Intelligenz niemals in auch nur annähernd vergleichbarer Weise gegen die bestehende Macht erhoben wie es die moderne Arbeiterklasse immer wieder während der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens getan hat. Da sie üblicherweise als ideologische Lakaien der herrschenden Klasse arbeiten, neigen die Kopfarbeiter aus dem nicht besitzenden Mittelstand auf Grund dieses Verhältnisses gleichzeitig zu Unzufriedenheit und Missstimmung. Wie viele andere Diener denkt dieser Admirable Crichton: „Ich bin ein besserer Mensch als mein Herr, und wenn die Lage anders wäre, würden wir schon sehen, wer das Knie beugen müsste.“ (4) Angesichts des zunehmend sinkenden Ansehens des kapitalistischen Systems in der Welt träumt er heute mehr denn je von einer Gesellschaftsform, in der er zeigen kann, was in ihm steckt, wo das Gehirn und nicht die Hand oder die Geldbeutel das Sagen haben; wo er und seinesgleichen vom Druck des Eigentums durch die Ausschaltung des Kapitalismus und vom Druck der viel größeren Masse durch die Ausschaltung der Demokratie befreit würden.

Er muss nicht einmal sehr weit träumen, denn Versionen einer solchen Gesellschaft scheinen vor seinen Augen zu existieren: die kollektivistischen Länder im Osten. Selbst wenn er diese Versionen aus verschiedenen Gründen einschließlich des Kalten Kriegs ablehnt, kann er seine eigene Version einer „guten“ Art des bürokratischen Kollektivismus theoretisieren, die in den USA „Meritokratie“ oder „Managerismus“ oder „Industrialismus“ oder was auch immer genannt werden kann; oder in Ghana „afrikanischer Sozialismus“ oder in Kairo „arabischer Sozialismus“ oder verschiedene andere Arten des Sozialismus in anderen Teilen der Welt.

Das Wesen der Wahl zwischen dem Sozialismus von oben und dem Sozialismus von unten wird am deutlichsten in der Verbindung mit einer Frage, über die es heute ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung unter liberalen, sozialdemokratischen und stalinoiden Intellektuellen gibt: Das ist die angebliche Unvermeidlichkeit autoritärer Diktaturen (wohlwollenden Despotien) in den Schwellenländern besonders Afrikas und Asiens – z.B. Nkrumah, Nasser, Sukarno u.a. – Diktaturen, die unabhängige Gewerkschaften wie jede politische Opposition zerschlagen und die maximale Ausbeutung der Arbeiterschaft organisieren, um aus den Häuten der Arbeiterklasse ausreichend Kapital für eine beschleunigte Industrialisierung gemäß dem Tempo, das die neuen Herrscher begehren, zu wringen. So sind in beispiellosem Maße „fortschrittliche“ Kreise, die einst gegen Ungerechtigkeit überall protestiert hätten, zu mechanischen Verteidigern jedes autoritären Regimes geworden, das für nicht kapitalistisch gehalten wird.

Abgesehen von der ökonomisch-deterministischen Begründung, die normalerweise für diese Haltung gegeben wird, gibt es zwei Aspekte der Frage, die anschaulich machen, was hier auf dem Spiel steht.

(1.) Das wirtschaftliche Argument für die Diktatur, mit dem vorgeblich die Notwendigkeit der halsbrecherischen Industrialisierung bewiesen werden soll, ist zweifelsohne sehr gewichtig für die neuen bürokratischen Herrscher – die inzwischen mit dem eigenen Einkommen und der eigenen Glorifizierung nicht knausern –, aber es kann nicht den Arbeiter unten an der Basis davon überzeugen, dass er und seine Familie sich der Superausbeutung und dem Superschuften für die folgenden Generationen beugen muss zu Gunsten einer schnellen Akkumulation von Kapital. (Genau deswegen erfordert die halsbrecherische Industrialisierung diktatorische Kontrollen.)

Mit dem ökonomisch-deterministischen Argument wird der Standpunkt einer herrschenden Klasse „vernünftig“ begründet; es macht allein vom Standpunkt einer herrschenden Klasse aus Sinn, deren Interessen natürlich immer mit den Bedürfnissen der „Gesellschaft“ gleichgesetzt werden. Es ist ebenso sinnvoll zu argumentieren, dass die Arbeiter an der Basis sich bewegen müssen, um diese Superausbeutung zu bekämpfen, um ihre elementare menschliche Würde und ihr Wohl zu verteidigen. So war es auch während der kapitalistischen industriellen Revolution, als die „Schwellenländer“ in Europa lagen.

Es geht nicht einfach um ein technisch-ökonomisches Argument, sondern um die Seite, die im Klassenkampf eingenommen wird. Die Frage ist: Auf welcher Seite stehst du?

(2.) Es wird behauptet, die Masse der Menschen in diesen Ländern sei zu rückständig, um die Gesellschaft und ihre Regierung selbst zu lenken. Das ist zweifellos wahr, und nicht nur dort. Aber was folgt daraus? Wie wird ein Volk oder eine Klasse fähig, im eigenen Namen zu herrschen?

Nur durch den Kampf darum. Nur indem sie ihren Kampf gegen die Unterdrückung führen – Unterdrückung durch diejenigen, die ihnen erklären, sie seien unfähig zur Herrschaft. Nur im Kampf um die demokratische Macht erziehen sie sich selbst und erheben sich zu dem Niveau, von dem aus sie diese Macht ausüben können. Es hat niemals einen anderen Weg für welche Klasse auch immer gegeben.

Obwohl wir uns mit einer bestimmten Rechtfertigungsideologie beschäftigt haben, gelten die beiden aufgekommenen Punkte überall in der Welt, in jedem Land, sei es industriell entwickelt oder Entwicklungsland, kapitalistisch oder stalinistisch. Als die Demonstrationen und Boykotts der Schwarzen des amerikanischen Südens den demokratischen Präsidenten Johnson während seines Wahlkampfes in Verlegenheit zu bringen drohten, hieß die Frage: Auf welcher Seite stehst du? Als sich das ungarische Volk gegen die russische Besatzungsmacht erhob, hieß die Frage: Auf welcher Seite stehst du? Als das algerische Volk für die Befreiung gegen die „sozialistische“ Regierung von Guy Mollet kämpfte, hieß die Frage: Auf welcher Seite stehst du? Als die Marionetten Washingtons in Kuba einmarschierten, hieß die Frage: Auf welcher Seite stehst du? Und als die kubanischen Gewerkschaften von den Kommissaren der Diktatur übernommen wurden, hieß die Frage ebenfalls: Auf welcher Seite stehst du?

Seit den Anfängen der menschlichen Gesellschaft hat es einen endlosen Strom von Theorien gegeben, mit denen „bewiesen“ werden sollte, dass die Tyrannei unvermeidlich und die Freiheit in Demokratie unmöglich sei; es gibt keine angenehmere Ideologie für eine herrschende Klasse und ihre intellektuellen Lakaien. Dies sind sich selbst erfüllende Vorhersagen, denn sie bleiben nur solange wahr, wie sie für wahr gehalten werden. Der einzige Weg, sie als falsch bloßzustellen, besteht letzten Endes im Kampf selbst. Dieser Kampf von unten wurde noch nie durch die Theorien von oben aufgehalten und er hat immer wieder die Welt verändert. Irgendeine Form des Sozialismus von oben zu wählen heißt, auf die alte Welt, auf die „alte Scheiße“ zurückzuschauen. Den Weg des Sozialismus von unten zu wählen heißt, den Beginn einer neuen Welt zu bejahen.

 

Anmerkung

4. Der Admirable Crichton (der „Bewundernswürdige Crichton“) ist eine Figur aus einem Schauspiel von J.M. Barrie, der auch der Schöpfer von Peter Pan ist. [d.Übers.]

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003