Karl Kautsky

Karl Marx’
Oekonomische Lehren


II. Abschnitt
Der Mehrwerth

Erstes Kapitel
Der Vorgang der Produktion


Wir haben uns im ersten Abschnitt meist auf dem Waarenmarkt bewegt; wir haben gesehen, wie Waaren ausgetauscht, verkauft und gekauft werden; wie das Geld die verschiedensten Funktionen verrschtet, wie aus dem Geld Kapital wird, sobald es auf dem Markt die Waare Arbeitskraft vorfindet.

Der Kapitalist hat die Arbeitskraft gekauft, und zieht sich mit der neuen Acquisition vom Markt zurück, wo sie ihm vorläufig gar nichts nützt, dorthin, wo er sie konsumiren, verwenden kann, in die Arbeitsstätte. Folgen wir ihm dahin. Verlassen wir das Gebiet der Waarenzirkulation und sehen wir uns auf dem Gebiete der Produktion um. Auf diesem Gebiete sollen sich die folgenden Ausführungen bewegen.

„Der Gebrauch der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst.“ Der Kapitalist konsumirt die Arbeitskraft, die er gekauft, indem er deren Verkäufer für sich arbeiten, Waaren produziren läßt.

Die Waaren produzirende Arbeit hat, wie wir schon im ersten Abschnitt gesehen, zwei Seiten: sie ist Bildnerin von Gebrauchswerthen und von Waarenwerthen. Als Bildnerin von Gebrauchswerthen ist die Arbeit keine der Waarenproduktion besondere Eigenthümlichkeit, sondern eine beständige Nothwendigkeit für das Menschengeschlecht, unabhängig von jeder besonderen gesellschaftlichen Form. Als solche zeigt die Arbeit drei Momente: 1. eine zweckbewußte und zweckmäßige Thätigkeit des Menschen; 2. den Arbeitsgegenstand; 3. das Arbeitsmittel.

Die Arbeit ist eine zweckmäßige und zweckbewußte Thätigkeit des Menschen, ein Wirken des Menschen auf den Naturstoff, um diesem eine für seine Bedürfnisse brauchbare Form zu geben. Die Elemente einer solchen Thätigkeit finden wir schon im Thierreich, aber erst auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts streift sie ihre instinktartige Form völlig ab und wird zu einer zweckbewußten Thätigkeit. Jede Arbeit ist nicht blos Muskel-, sondern auch Hirn- und Nervenarbeit. Treffend bemerkt Marx: „Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckgemäße Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und umsomehr, je weniger sie durch den eigenen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.“

Der Arbeiter wirkt auf einen Gegenstand, den Arbeitsgegenstand; er wendet bei dieser Thätigkeit Hilfsmittel an, Dinge, deren mechanische, physikalische oder chemische Eigenschaften er auf den Arbeitsgegenstand seinen Zwecken gemäß wirken läßt; diese Hilfsmittel sind die Arbeitsmittel. Das Ergebniß der Bearbeitung des Arbeitsgegenstandes mit Hilfe des Arbeitsmittels ist das Produkt. Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand sind Produktionsmittel.

Wenn ein Tischler einen Tisch verfertigt, so verarbeitet er hierbei Holz. Ist der Arbeitsgegenstand nicht von Natur vorgefunden, wie z. B. der Baum im Urwald, sondern ist bereits Arbeit zu seiner Erlangung nothwendig gewesen, z. B. im vorliegenden Fall die Arbeit des Fällens und Transportirens des Holzes, dann heißt er Rohmaterial. Das Holz in unserem Beispiel ist Rohmaterial, ebenso der Leim, die Farbe, der Lack, die bei der Herstellung des Tisches verarbeitet werden. Das Holz ist das Hauptmaterial, Leim, Farbe, Lack sind Hilfsstoffe. Hobel, Säge u. s. w. sind dagegen Arbeitsmittel, der Tisch ist das Produkt.

„Ob ein Gebrauchswerth als Rohmaterial, Arbeitsmittel oder Produkt erscheint, hängt ganz und gar ab von seiner bestimmten Funktion im Arbeitsprozesse, von der Stelle, die er in ihm einnimmt, und mit dem Wechsel dieser Stelle wechseln jene Bestimmungen.“

Ein Stück Vieh z. B. kann nach einander fungiren als Produkt (der Viehzüchtung), Arbeitsmittel (z. B. als Zugthier) und Rohmaterial (bei der Mast).

Die Arbeitsmittel sind für die Entwicklung des Menschengeschlechts von der höchsten Bedeutung. Die Art und Weise des Produzirens hängt in erster Linie von ihnen ab; jede Produktionsweise bedingt aber ihr eigenthümliche gesellschaftliche Verhältnisse mit einem entsprechenden juristischen, religiösen, philosophischen und künstlerischen Ueberbau.

Unter jeder Produktionsweise bilden Produktionsmittel (Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel) und die Arbeitskraft die nothwendigen Elemente der Produktion von Gebrauchswerthen, d. h. des Arbeitsprozesses. Der gesellschaftliche Charakter dieses Prozesses (Vorganges) ist aber unter den verschiedenen Produktionsweisen ein verschiedener.

Untersuchen wir nun, wie er sich unter der kapitalistischen Produktionsweise gestaltet.

Dem Waarenproduzenten ist die Produktion von Gebrauchswerthen nur Mittel zum Zweck der Produktion von Waarenwerthen. Die Waare ist Einheit von Gebrauchswerth und Werth, er kann also nicht Werthe produziren, wenn er nicht Gebrauchswerthe produzirt. Die Waaren, die er erzeugt, müssen ein Bedürfniß befriedigen, müssen einen Nutzen für irgend Jemand haben, sonst kann er sie nicht absetzen. Der Umstand, daß seine Waare Gebrauchswerth sein muß, ist jedoch für den Waarenproduzenten nur ein nothwendiges Uebel, nicht der Endzweck seiner geschäftlichen Thätigkeit.

Der Produktionsprozeß der Waarenproduktion ist daher gleichzeitig der Prozeß der Produktion von Gebrauchswerthen und Waarenwerthen, er ist Einheit von Arbeitsprozeß und Werthbildungsprozeß.

Dies gilt für die Waarenproduktion überhaupt. Jetzt haben wir aber den Produktionsprozeß bei einer besonderen Art von Waarenproduktion zu beobachten: der Produktion von Waaren vermittelst gekaufter Arbeitskraft zum Zweck der Erzielung eines Mehrwerths.

Wie gestaltet sich da der Arbeitsprozeß?

Zunächst wird er durch die Dazwischenkunft des Kapitalisten im Wesentlichen nicht verändert.

Denken wir uns z. B. einen Weber, der für sich arbeitet. Sein Webstuhl gehört ihm; er kauft das Garn selbst; er kann arbeiten, wann und wie ihm beliebt; das Produkt seiner Arbeit ist sein Eigenthum. Aber er verarmt und muß seinen Webstuhl verkaufen. Wovon soll er nun leben? Es bleibt ihm nichts übrig, als sich einem Kapitalisten zu verdingen und für diesen zu weben. Dieser kauft seine Arbeitskraft, kauft auch den Webstuhl und das nöthige Garn und setzt nun den Weber an seinen, des Kapitalisten, Webstuhl, damit er das gekaufte Garn verarbeite. Vielleicht ist der Webstuhl, den der Kapitalist kaufte, derselbe, den der Weber in seiner Noth veräußern mußte. Auch wenn dies nicht der Fall, so webt doch der Weber in derselben Weise, wie vorher, der Arbeitsprozeß hat sich äußerlich nicht verändert.

Aber doch sind zwei große Aenderungen eingetreten: der Weber arbeitet nicht mehr für sich, sondern für den Kapitalisten; dieser kontrolirt jetzt den Arbeiter bei der Arbeit, giebt Acht, daß er nicht zu säumig oder zu schleuderhaft arbeitet u. s. w. Und – das Produkt der Arbeit des Arbeiters gehört jetzt nicht diesem, sondern dem Kapitalisten.

Dies die nächsten Wirkungen auf den Arbeitsprozeß, sobald das Kapital sich des Produktionsprozesses bemächtigt. Wie gestaltet sich aber jetzt der Werthbildungsprozeß?

Berechnen wir zunächst, wie hoch sich der Werth des Produktes beläuft, welches als Waare für den Kapitalisten von gekaufter Arbeitskraft mit gekauften Produktionsmitteln produzirt worden.

Der Kapitalist kaufe die Arbeitskraft, nehmen wir an, für einen Tag. Die zur Erhaltung des Arbeiters nothwendigen Lebensmittel werden in 6 Stunden gesellschaftlich nothwendiger Arbeitszeit erzeugt. Ebensoviel und ebensolche Arbeitszeit sei in 8 Mark verkörpert. Der Kapitalist kaufe die Arbeitskraft zu ihrem Werth; er zahle dem Arbeiter für den Arbeitstag 3 Mark. [1]

Nehmen wir an, der Kapitalist halte Baumwollengarn für einen Gebrauchswerth, der sehr gesucht sei und leicht verkauft werden könne; er beschließt also, Garn produziren zu lassen, kauft Arbeitsmittel – der Einfachheit wegen wollen wir diese hier von einzelnen Spindeln dargestellt ansehen – und Baumwolle. In einem Pfund Baumwolle seien vielleicht zwei Arbeitsstunden enthalten, es koste also 1 Mark. Aus einem Pfund Baumwolle werde ein Pfund Garn gesponnen. Bei dem Verspinnen von je 100 Pfund Baumwolle werde je eine Spindel verbraucht, abgenützt; bei dem Verspinnen von 1 Pfund also 1/100 Spindel. In einer Spindel stecken 20 Arbeitsstunden = 10 Mark. In einer Arbeitsstunde werden 2 Pfund Baumwolle versponnen, in 6 Stunden also 12 Pfund – stets normale, durchschnittliche, gesellschaftlich nothwendige Produktionsbedingungen vorausgesetzt.

Wie viel Werth wird unter diesen Umständen in einem Pfund Garn stecken?

Zunächst der Werth der bei dessen Herstellung konsumirten Baumwolle und Spindeln. Dieser geht ohne Verkürzung oder Vergrößerung in das Produkt ein. Der Gebrauchswerth der Baumwolle und Spindel ist ein anderer geworden, ihr Werth ist unberührt geblieben. Es wird dies klar, wenn man die verschiedenen, zur Herstellung des schließlichen Produkts erforderlichen Arbeitsprozesse als aufeinanderfolgende Theile eines uud desselben Arbeitsprozesses betrachtet. Nehmen wir an, daß der Spinner auch Baumwollenpflanzer ist und die Baumwolle unmittelbar nach ihrer Gewinnimg versponnen wird; das Garn erscheint jetzt als das Produkt der Pflanzer- und Spinnerarbeit, sein Werth wird gemessen durch die zur Herstellung der Baumwolle und deren Verarbeitung in Garn gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit. Am Werth des Produkts wird nichts geändert, wenn unter sonst gleichen Verhältnissen die zu dessen Herstellung nothwendigen Arbeitsprozesse für Rechnung verschiedener Leute betrieben werden. Der Werth der verarbeiteten Baumwolle erscheint also im Garn wieder; das Gleiche gilt von dem Werth der verbrauchten Spindeln. Von Hilfsstoffen sehen wir hier der Einfachheit wegen ab.

Zu diesem übertragenen Werth gesellt sich noch der Werth, welchen die Spinnerarbeit der Baumwolle zusetzt. In einer Arbeitsstunde werden 2 Pfund versponnen – nehmen wir an, in einer Mark stecken 2 Arbeitsstunden. Eine Arbeitsstunde bildet also einen Werth von ½ Mark.

Der Werth von 1 Pfund Garn ist also gleich dem Werth von 1 Pfund Baumwolle (= 1 Mark) + 1/100 Spindel (= 1/10 Mark) + ½ Arbeitsstunde (= ¼ Mark), oder in Mark ausgedrückt: 1 + 1/10 + ¼ = 1 Mark 35 Pfennige.

In 6 Stunden werden hiernach 12 Pfund Garn gesponnen, von einem Werthe von 16 Mark 20 Pfennig. Wie viel hat es aber den Kapitalisten gekostet, um dies Resultat zu erzielen? Er mußte hergeben 12 Pfund Baumwolle = 12 Mark, 12/100 Spindeln = 1 Mark 20 Pfennig und 1 Arbeitskraft = 3 Mark, zusammen 16 Mark 20 Pfennig, ebensoviel, als er an Garnwerth besitzt.

Er hat also bisher umsonst arbeiten lassen; die gekaufte Waare Arbeitskraft hat ihm bisher keinen Mehrwerth verschafft.

Doch unser Kapitalist läßt sich nicht verblüffen. Er hat den Gebrauchswerth der Arbeitskraft für den ganzen Tag gekauft; er hat sie ehrlich und redlich gekauft, zu ihrem vollen Werth; dafür steht ihm aber auch das Recht zu, ihren Gebrauchswerth voll und ganz zu verwenden. Es fällt ihm nicht ein, dem Arbeiter zu sagen: „Ich habe Deine Arbeitskraft mit einem Geldbetrag gekauft, in dem 6 Arbeitsstunden stecken. Du hast 6 Arbeitsstunden für mich gearbeitet; wir sind quitt, Du kannst gehen.“ Er sagt vielmehr: „Ich habe Deine Arbeitskraft für den ganzen Tag gekauft, den ganzen Tag gehört sie mir; also frisch weiter gearbeitet, so lange Du kannst, keinen Augenblick der Zeit vergeudet, die nicht Deine, sondern meine Zeit ist.“ Und er läßt, anstatt 6, vielleicht 12 Stunden arbeiten.

Nach weiteren 6 Stunden, am Ende des Arbeitstages, rechnet er wieder. Er besitzt jetzt 24 Pfund Garn im Werth von 32 Mark 40 Pfennig. An Ausgaben zählt er 24 Pfund Baumwolle = 24 Mark, 24/100 Spindeln = 2 Mark 40 Pfennig, und 1 Arbeitskraft = 3 Mark, zusammen 29 Mark 40 Pfennig. Schmunzelnd legt er sein Rechnungsbuch bei Seite. Er hat 8 Mark gewonnen, oder, wie er sich ausdrückt, „verdient.“ Er hat sie verdient, Mehrwerth erworben, ohne die Gesetze des Waarenaustausches zu verletzen. Die Baumwolle, die Spindeln, die Arbeitskraft, sie alle wurden zu ihrem Werth gekauft. Wenn er Mehrwerth erlangt, so nur dadurch, daß er diese gekauften Waaren konsumirte, allerdings nicht als Genußmittel, sondern als Produktionsmittel, und dadurch, daß er den Gebrauchswerth der von ihm gekauften Arbeitskraft über einen gewissen Punkt hinaus konsumirte.

Der Produktionsprozeß ist unter dem System der Waarenproduktion stets Werthbildungsprozeß; einerlei, ob er mit gekaufter oder mit eigener Arbeitskraft betrieben wird; aber nur, wenn er über einen gewissen Zeitpunkt hinausdauert, ist der Werthbildungsprozeß auch Bildner von Mehrwerth, und als solcher Verwerthungsprozeß. Der Produktionsprozeß muß länger dauern, als bis zum Ersatz des Werthes der gekauften Arbeitskraft durch neugeschaffenen Werth, wenn Mehrwerth produzirt werden soll.

Auch der sein eigenes Feld bearbeitende Bauer, auch der für eigene Rechnung arbeitende Handwerker kann über die Zeit hinaus arbeitm, die er zum Ersatz der von ihm verbrauchten Lebensmittel zu arbeiten genöthigt ist. Auch er kann also Mehrwerth erzeugen, seine Arbeit kann Verwerthungsprozeß werden. Aber sobald der Verwerthungspwzeß mit gekaufter fremder Arbeitskraft betrieben wird, ist er kapitalistischer Produktionsprozeß; dieser ist von vornherein, seiner Natur nach, mit Nothwendigkeit und Absicht, Verwerthungsprozeß.


Fußnote

1. Diese und die folgenden Zahlen sind natürlich ganz willkürlich, der leichteren Anschaulichkeit wegen gewählt. Es scheint sich das von selbst zu verstehen; aber mancher von den Vielen, die über das Kapital geschrieben, hat unterstellt, daß Marx Beispiele von der Art des gegebenen als Thatsachen angeführt habe. Was die Kapital-Kommentatoren zu leisten vermögen, zeigt Folgendes: Im 57. Band der Preußischen Jahrbücher des Herrn vonTreitschke veröffentlichte ein Herr Dr. R. Stegemann einen von Seichtigkeit überströmenden Artikel über die Oekonomische Grundanschauung von Karl Marx. Unmittelbar, nachdem er das „Werthprinzip“ als Grundforderung von Marx vorgeführt, erzählt er uns (S. 227): „Marx behauptet, die menschliche Gesellschaft würde nur etwa sechs Stunden täglicher Arbeit zur Beschaffung der für Alle unentbehrlichen Subsistenzmittel benöthigen, wenn nämlich Jeder und zwar nach seinen Kräften arbeiten würde.“ Von alledem steht im Kapital kein Wort. Hätte Herr Stegemann weniger Phantasie und mehr Aufmerksamkeit verwendet, so würde er auf Seite 209 (2. Aufl.) des Kapital gefunden haben, daß Marx die nothwendige Arbeit berechnete, die ein Spinner in einer bestimmten Spinnerei in den sechsziger Jahren thatsächlich zu leisten hatte, auf Grund von Daten, die ihm ein Fabrikant aus Manchester geliefert. Er kam zu dem Ergebniß, daß bei zehnstündiger Arbeitszeit die nothwendige Arbeitszeit des Spinners nicht ganz vier Stunden betrug, die überschüssige Arbeitszeit, während der er Mehrwerth produzirte, etwas über sechs Stunden. – Wir werden später sehen, daß die zur Erhaltung des Arbeiters nothwendige Arbeitszeit eine sehr wechselnde Größe ist.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2011