Karl Kautsky

Karl Marx’
Oekonomische Lehren


III. Abschnitt
Arbeitslohn und Kapitaleinkommen

Drittes Kapitel
Einfache Reproduktion


Die einfache Reproduktion ist nur Wiederholung des Produktionsprozesses auf gleicher Stufenleiter. Indeß erhält dieser durch die Wiederholung eine Reihe neuer Merkmale.

Nehmen wir an, ein Geldbesitzer, der sein Geld irgend wie, vielleicht durch Arbeit, erworben, verwandle dies in Kapital. Er besitze 10.000 Mark, 9.000 lege er in konstantem Kapital aus, 1.000 in variablem, in Arbeitslohn. Mit Anwendung dieses Kapitals erzeuge er eine Produktenmenge im Werth von 11.000 Mark, die er auch zu ihrem vollen Werth verkaufe. Der Mehrwerth von 1.000 Mark wird von ihm konsumirt, die Reproduktion geht auf der alten Stufeuleiter weiter: 9.000 Mark werden in konstantem, 1.000 Mark in variablem Kapital ausgelegt. Wir sehen aber jetzt einen Unterschied gegen früher: die 1.000 Mark, die während des ersten Produktionsprozesses in Arbeitslohu ausgegeben wurden, waren nicht durch die Arbeit der in dem Unternehmen beschäftigten Arbeiter erzeugt worden, sie waren aus einer anderen Quelle geflossen; vielleicht hatte sie der Kapitalist selbst erarbeitet. Woher stammen dagegen die 1.000 Mark, die bei der Wiederholung des Produktionsprozesses in Arbeitslohn verausgabt werden? Sie sind die Realisirung eines von den Arbeitern während des früheren Produktionsprozesses erzeugten Werthes. Die Arbeiter haben nicht nur den Werth des konstanten Kapitals (9.000 Mark) auf das Produkt übertragen, sondern neuen Werth (im Betrag von 2.000 Mark) geschaffen, davon ein Theil (1.000 Mark) gleich dem Werth ihrer Arbeitskraft, ein Theil Mehrwerth.

Betrachten wir den kapitalistischen Produktionsprozeß als einmaligen Produktionsprozeß (oder erstmaligen, bei der ersten Anlage eines Kapitals), dann erscheint der Arbeitslohn als Vorschuß aus der Tasche des Kapitalisten. Betrachten wir den kapitalistischen Produktionsprozeß als Reproduktionsprozeß, dann sehen wir den Arbeiter aus dem Produkt seiner eigenen Arbeit bezahlt. In diesem Sinne ist es richtig, daß der Arbeiter im Lohn einen Antheil am Produkt seiner Arbeit erhält. Nur ist es das bereits verkaufte Produkt einer früheren Produktionsperiode, von dem er im Arbeitslohn einen Antheil erhält.

Kehren wir zu unserem Beispiel zurück. Nehmen wir an, jede Produktionsperiode nehme ein halbes Jahr in Anspruch. In jedem Jahr sackt unser Kapitalist 2.000 Mark Mehrwerth ein und konsumirt sie. Nach 5 Jahren hat er 10.000 Mark konsmnirt, einen Werth, gleich dem seines ursprünglichen Kapitals. Er besitzt aber nach wie vor einen Kapitalwerth von 10.000 Mark.

Dieser neue Kapitalwerth ist an Größe dem ursprünglichen gleich, aber seine Grundlage ist eine andere. Die ursprünglichen 10.000 Mark stammten nicht aus der Arbeit der in seinem Betrieb beschäftigten Arbeiter, sondern aus einer anderen Quelle. Aber diese 10.000 Mark hat er innerhalb 5 Jahren verzehrt; wenn er daneben noch 10.000 Mark besitzt, so stammen sie aus dem Mehrwerth. So verwandelt sich jedes Kapital, möge es aus welcher Quelle immer entsprungen sein, schon vermöge einfacher Reprodnktion nach einer gewissen Zeit in kapitalisirten Mehrwerth, in den Ertrag überschüssiger fremder Arbeit, in akkumulirtes Kapital.

Der Ausgangspunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses ist die Scheidung des Arbeiters von den Produktionsmitteln, die Anhäufung besitzloser Arbeiter auf der einen, die Anhäufung von Produktionsmitteln und Lebensmitteln auf der anderen Seite. Im kapitalistischen Reproduktionsprozeß erscheinen diese Ausgangspunkte als Resultate des Produktionsprozesses. Der kapitalistische Reproduktionsprozeß selbst erzeugt immer wieder und erhält damit seine eigenen Bedingungen, das Kapital und die Klasse der Lohnarbeiter.

Die Lebensmittel und Produktionsmittel, welche die Lohnarbeiter erzeugen, gehören nicht ihnen, sondern den Kapitalisten. Die Lohnarbeiter kommen beständig wieder aus dem Produktionsprozeß heraus, wie sie in ihn eintraten, als besitzlose Proletarier; die Kapitalisten dagegen finden sich am Ende jeder Produktionsperiode immer wieder von Neuem im Besitz von Lebensmitteln die Arbeitskräfte kaufen, von Produktionsmitteln, die Produzenten anwenden.

So erzeugt der Arbeiter selbst immer wieder die Vorbedingungen seiner Abhängigkeit und seines Elends.

Der Reproduktionsprozeß des Kapitals macht aber auch die Reproduktion der Arbeiterklasse nothwendig.

So lange wir den Produktionprozeß als einmaligen und damit vereinzelten Vorgang untersuchten, hatten wir es nur zu thun mit dem einzelnen Kapitalisten und dem einzelnen Arbeiter. Hier schien die Arbeitskraft und damit der Arbeiter, der von ihr nicht losgelöst werden kann, dem Kapitalisten nur während der Zeit ihres produktiven Konsums zu gehören, während des Arbeitstages. Die andere Zeit über gehörte der Arbeiter sich selbst und seiner Familie. Wenn er aß, trank, schlief, so that er das blos für sich selbst, nicht für den Kapitalisten.

Sobald wir aber die kapitalistische Produktionsweise in ihrem Fluß und Zusammenhang betrachten, also als Reproduktionsprozeß, so haben wir es von vornherein zu thun nicht mit dem einzelnen Kapitalisten und Arbeiter, sondern mit der Klasse der Kapitalisten und der Klasse der Arbeiter. Der Reproduktionsprozeß des Kapitals erheischt die Verewigung der Arbeiterklasse, das heißt, damit der Produktionsprozeß immer wieder erneuert werden könne, müssen die Arbeiter ihre verausgabte Arbeitskraft immer wieder herstellen und für den steten Nachwuchs frischer Arbeiter sorgen. Das Kapital befindet sich in der angenehmen Lage, die Erfüllung dieser wichtigen Verrichtungen getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen zu können.

Die Arbeiter leben anscheinend außerhalb der Arbeitszeit nur für sich; sie leben aber in Wirklichkeit, auch wenn sie „müssig gehen,“ für die Kapitalistenklasse. Wenn sie nach gethaner Arbeit essen, trinken, schlafen u. s. w., so erhalten sie dadurch die Klasse der Lohnarbeiter und damit die kapitalistische Produktionsweise. Wenn der Kapitalist – der Brotherr, wie man ihn in patriarchalischen Zeiten nannte, der Arbeitgeber, wie ihn die deutsche Katheder-Oekonomie getauft hat – wenn der dem Arbeiter seinen Lohn auszahlt, so giebt er ihm damit nur die Mittel, sich, und soweit an ihm, seine Klasse, für die Kapitalistenklasse zu erhalten.

Dadurch aber, daß die Arbeiter die Lebensmittel konsumiren, die sie für ihren Lohn kaufen, werden sie immer wieder von Neuem gezwungen, ihre Arbeitskraft feilzubieten.

So ist, vom Standpunkt der Reproduktion aus, der Arbeiter nicht nur während seiner Arbeitszeit, sondern auch während seiner „freien“ Zeit im Interesse des Kapitals thätig. Er ißt und trinkt nicht mehr für sich, sondern um der Kapitalistenklasse seine Arbeitskraft zu erhalten. Wie der Arbeiter ißt und trinkt, ist daher dem Kapitalisten gar nicht gleichgiltig. Wenn Jener am Sonntag sich besäuft, so daß er am Montag einen Katzenjammer hat, statt seine Arbeitskraft auszuruhen und zu erneuern, so erscheint ihm das nicht als eine Schädigung der eigenen Interessen des Arbeiters, sondern als ein Verbrechen am Kapital, eine Veruntreuung von Arbeitskraft, die dem Kapital gebührt.

Nicht mehr die jeweilig gekaufte Arbeitskraft, sondern der ganze Arbeiter, die ganze Arbeiterklasse erscheint vom Standpunkt des Reproduktionsprozesses als Zubehör des Kapitals. Wo der Arbeiter das nicht einsieht, und die Mittel hat, sich dem zu entziehen, z. B. durch Auswanderung, trägt der Kapitalist unter Umständen kein Bedenken, ihm durch gesetzlichen Zwang darzuthun, daß er sich nicht für sich, sondern für das Kapital zu erhalten und fortzupflanzen habe. So war früher z. B. die Auswanderung geschickter Arbeiter in den meisten Staaten durch Zwangsgesetze verboten. Heute ist das nicht nothwendig. Die kapitalistische Produktionsweise ist so stark geworden, daß ihre Gesetze sich in der Regel als ökonomische Zwangsgesetze ohne politische Nachhilfe vollziehen. Der Arbeiter ist heute mit unsichtbaren Fesseln an das Kapital gebunden, und er findet das Kapital überall, wohin er sich wendet.

Unseren „Sozialreformern“ erscheint diese Abhängigkeit von der Kapitalistenklasse im Allgemeinen freilich nicht weitgehend genug. Fesselung des Arbeiters an den einzelnen Kapitalisten durch Einschränkung der Freizügigkeit, Einrichtung raffinirter Systeme von Arbeiterhäusern und ähnliche „Reformen“ bilden ihre Heilmittel zur „Lösung der sozialen Frage.“


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2011