Karl Kautsky

Die direkte Gesetzgebung durch das Volk
und der Klassenkampf [1]

1893)


In: Die Neue Zeit, 11. Jg. (1892/93), 2. Bd., S. 516–527.
Abgedruckt in Detlef Joseph (Hrsgb.): Rechtsstaat und Klassenjustiz. Texte aus der sozialdemokratischen Neuen Zeit 1883–1914, S. 136 ff.
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Wir glauben nachgewiesen zu haben, daß in einem modernen Großstaat der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit naturnotwendig in seinem Parlament liegt, wir glauben auch nachgewiesen zu haben, daß diese Tatsache für das Proletariat kein Unglück ist, da dieses durch seine Klassenkämpfe eine Reihe von Fähigkeiten entwickelt, die es ihm ermöglichen, den Parlamentarismus seinen Zwecken dienstbar zu machen.

Die direkte Gesetzgebung durch das Volk kann nur in jenem Sinne noch in Frage kommen, in dem sie in der Schweiz bereits besteht, in welchem sie auch das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie fordert:

nicht als Mittel, das Repräsentativsystem zu beseitigen, sondern nur als Mittel, es demokratischer zu gestalten, der Kontrolle der Bevölkerung mehr zu unterwerfen. Die direkte Gesetzgebung durch das Volk in diesem Sinne – Referendum und Initiative [2] –, die allerdings passender bloß direkte Anteilnahme des Volkes an der Gesetzgebung zu nennen wäre, spielt naturgemäß eine bescheidenere Rolle in der Politik als z. B. das Wahlrecht. Denn sie beläßt den Schwerpunkt der politischen Tätigkeit im Parlament, für dessen Charakter ist aber das Wahlrecht, welches seine Zusammensetzung und damit sein Wirken bestimmt, von viel größerem Einfluß als ein Recht der Kontrolle oder Anregung, welches nur hie und da zur Geltung kommt und welches von denselben Leuten geübt wird, die bereits im Wahlakt ihren Willen kundgegeben haben.

Es bleibt uns nur noch übrig zu untersuchen, welche Bedeutung die direkte Gesetzgebung durch das Volk in diesem bescheideneren Sinne für den Klassenkampf des Proletariats gewinnen kann.

Die radikale Demokratie alter Schule muß natürlich in der direkten Gesetzgebung – wir gebrauchen das Wort im Folgenden nur in dem eben ausgeführten engeren Sinne – unter allen Umständen als eine höchst vorteilhafte Einrichtung ansehen. Denn für sie kommt ja nur das „Volk“ in Betracht, die Macht des Volkes wird aber durch die direkte Gesetzgebung augenscheinlich auf jeden Fall gesteigert.

Für die Sozialdemokratie liegt die Sache nicht so einfach. Die Demokratie war das Kind einer Situation, in der es galt, alle Klassen der Bevölkerung gegenüber dem aristokratisch-absolutistischen Regime zusammenzufassen. Sie konnte diese Aufgabe nur lösen durch Ignorierung der Klassengegensätze innerhalb der Volksmasse.

Die Sozialdemokratie bildet sich dort, wo das aristokratisch-absolutistische Regime gebrochen ist, aus dem Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der nun naturnotwendig zutage tritt. Gebot der Demokratie ihre historische Aufgabe, den Klassengegensatz zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie zu verschleiern, so gebietet der Sozialdemokratie die ihr eigentümliche historische Aufgabe, diesen Klassengegensatz zu enthüllen und dem Proletariat auf das schärfste zum Bewußtsein zu bringen. Sie ist die Vertreterin der Interessen des Proletariats – das Proletariat ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Volk. Nicht etwa, daß die Sozialdemokratie bloß ausschließlich proletarische Interessen vertreten könnte. Ihre historische Aufgabe weist sie darauf hin, die gesellschaftliche Entwicklung auf allen Gebieten zu fördern, auf denen sie eingreifen kann, und die Sache aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu führen. Es ist auch zu erwarten, daß überall, wo die Sozialdemokratie eine mächtige politische Partei geworden ist, Kleinbürger und Bauern sich ihr in Masse anschließen. Denn sie sind unfähig, eigene politische Parteien zu bilden, sie haben nur die Wahl, sich einer der Parteien der Besitzenden oder der Partei der Besitzlosen anzuschließen, und sie werden um so mehr zu dieser neigen, je mehr sie von der kapitalistischen Ausbeutung bedrängt werden, je mehr sie selbst sich als Besitzlose fühlen.

Es kann also sehr wohl einmal so weit kommen, daß die Sozialdemokratie die Mehrheit des Volkes auch in Ländern für sich gewinnt, in denen die Lohnarbeiter nicht die Majorität bilden. Aber heute sind wir noch ziemlich weit von jenem Zustand entfernt; und wie rasch wir uns auch ihm nähern mögen, das Rückgrat der Partei wird stets das kämpfende Proletariat bilden, dessen Eigenschaften werden ihren Charakter, dessen Kraft wird ihre Macht bestimmen. Bürger und Bauern sind hoch willkommen, wenn sie sich uns anschließen und mit uns marschieren, aber den Weg wird stets das Proletariat weisen.

Wenn aber nicht bloß Lohnarbeiter, sondern auch Bauern und Kleinbürger – Handwerker, Zwischenhändler aller Art, kleine Beamte usw., kurzum das gesamte sogenannte „gemeine Volk“ – die Masse bilden, aus der die Sozialdemokratie ihre Anhänger rekrutiert, so bilden doch diese Klassen, mit Ausnahme der klassenbewußten Lohnarbeiter, auch Rekrutierungsgebiete für unsere Gegner, in ihrem Einfluß auf diese Klassen lag und liegt heute noch die Hauptwurzel ihrer politischen Macht.

Dem Volke politische Rechte erteilen heißt daher keineswegs von vornherein die Wahrung der Interessen des Proletariats oder die der gesellschaftlichen Entwicklung herbeiführen. Das allgemeine Wahlrecht hat bekanntlich noch nirgends eine sozialdemokratische Majorität geliefert, es kann mitunter rückständigere Majoritäten geben als ein Zensuswahlrecht unter sonst gleichen Umständen, es kann ein liberales Regiment beseitigen, um an seine Stelle ein konservatives oder ultramontanes zu setzen. In diesem Falle erklären die Liberalen, das Volks sei noch nicht „reif zur Freiheit.

Trotzdem muß das Proletariat unter allen Umständen demokratische Einrichtungen fordern, aus demselben Grunde, aus dem es, einmal zur politischen Macht gelangt, seine Klassenherrschaft nur dazu benutzen kann, aller Klassenherrschaft ein Ende zu machen. Es ist die unterste der sozialen Schichten, es kann politische Rechte nicht erlangen, wenigstens nicht in seiner Gesamtheit, wenn sie nicht alle erlangen. Jede der andern Klassen kann unter Umständen zu einer privilegierten werden, das Proletariat nicht. Die Sozialdemokratie, die Partei des klassenbewußten Proletariats, ist darum auch die sicherste Stütze der demokratischen Bestrebungen, viel sicherer als – die Demokratie selbst.

Aber ist sie auch die entschiedenste Kämpferin für die Bestrebungen der Demokratie, so darf sie doch nicht deren Illusionen teilen. Sie muß sich dessen bewußt bleiben, daß jedes Volksrecht, das sie erringt, eine Waffe ist nicht nur für sie, sondern auch für ihre Gegner; sie muß unter Umständen darauf gefaßt sein, daß die demokratischen Errungenschaften diesen zunächst mehr nützen als ihr selbst; allerdings nur zunächst, denn schließlich muß freilich die Einführung demokratischer Einrichtungen im Staate zum Vorteile der Sozialdemokratie ausschlagen, sie muß ihr den Kampf erleichtern und sie zum Siege führen. Das kämpfende Proletariat hat so viel Vertrauen zur gesellschaftlichen Entwicklung, so viel Vertrauen zu sich selbst, daß es keinen Kampf fürchtet, auch nicht den mit der Übermacht; es verlangt nur nach einem Schlachtfeld, auf dem es sich frei rühren kann. Der demokratische Staat bietet dieses Schlachtfeld; dort wird der letzte Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausgefochten werden.

Wenn die Sozialdemokratie nicht die Illusionen der Demokratie teilt, so unterscheidet sie sich auch von dieser in dem Maßstab, den sie an die einzelnen demokratischen Einrichtungen legt. Sie fragt bei deren Beurteilung nicht bloß, ob sie die Macht des Volkes im allgemeinen erhöhen, sondern auch, ob und inwieweit sie die Macht und den Entwicklungsgang des Proletariats insbesondere beeinflussen. Von diesem Standpunkt aus legt sie besonderes Gewicht auf manche demokratische Forderungen, welche die bürgerliche Demokratie keineswegs in den Vordergrund stellt, und umgekehrt. Das Koalitionsrecht bildet z. B. eine Lebensbedingung für das Proletariat, nicht aber für Kleinbürger und Bauern, am allerwenigsten für die Kapitalisten, denen es höchst unbequem ist. Die bürgerliche Demokratie hat sich daher nie mit besonderem Eifer für diese Forderung eingesetzt; die Französische Revolution brachte sogar ein direktes Verbot aller Koalitionen. Dagegen bildet das Koalitionsrecht eine der ersten Forderungen des aufstrebenden Proletariats.

Wir werden uns daher bei der Frage des Referendums und der Initiative nicht mit der Versicherung begnügen dürfen, daß die Macht des Volkes dadurch erhöht werde. Wir müssen fragen: Wie wird die Macht und der Entwicklungsgang des Proletariats dadurch beeinflußt? Von der Antwort auf diese Frage hängt es vor allem ab, welcher Wert der direkten Gesetzgebung durch das Volk beizulegen ist.

Wir haben gezeigt, daß das moderne Repräsentativsystem dem Bauerntum und dem Kleinbürgertum namentlich der Landstädte nicht sehr günstig ist. Die Klassen, die im Repräsentativsystem am ehesten zur Geltung kommen, sind die des großen Besitzes – an Kapitalien oder Grund und Boden –, die Gebildeten und – unter einem demokratischen Wahlsystem – der kämpfende und der klassenbewußte Teil des industriellen Proletariats. Im allgemeinen kann man also sagen: Der Parlamentarismus begünstigt die großstädtische Bevölkerung gegenüber der ländlichen. Alle die oben genannten Volksschichten, auch z. B. die Großgrundbesitzer, die auf dem Lande wohnen, stehen zu den Großstädten in den mannigfaltigsten Beziehungen, erhalten von dort ihre Anregungen.

Aber unter den Großstädten des Landes selbst übt wieder die Hauptstadt einen besonderen Einfluß auf das Parlament. Wir haben bereits in einem früheren Kapitel darauf hingewiesen, daß die zentralisierenden Tendenzen der modernen Produktionsweise es der hauptstädtischen Bevölkerung ermöglichen, in höherem Maße als die übrige Bevölkerung des Landes die Regierung zu beeinflussen, die notwendigerweise ihren Sitz im ökonomischen und politischen Mittelpunkt des Landes, der Hauptstadt, hat. Aber ebenso notwendigerweise wie die Regierung, muß in einem parlamentarischen Lande auch das Parlament seinen Sitz in der Hauptstadt nehmen. Die mittelalterlichen gesetzgebenden Versammlungen, die Hoftage und Landstände, waren an keine bestimmte Örtlichkeit gebunden, ebensowenig wie die Regierung. Dagegen sind alle Versuche reaktionärer Regierungen in unserem Jahrhundert, das Parlament dem Einfluß der Hauptstadt zu entziehen und es in ein Landstädtchen zu verweisen, nur kurzlebige Experimente gewesen. In Frankreich mußte die reaktionäre Kammer von 1871 trotz ihrer Furcht vor dem revolutionären Paris doch fast unter seinen Kanonen verbleiben, in Versailles.

Die Beeinflussung des Parlaments durch die Hauptstadt ist höchst mannigfacher Art. In revolutionären Zeiten kann es so weit kommen, daß die Bevölkerung der Hauptstadt der Kammer ihren Willen direkt diktiert, daß diese nur das Werkzeug der hauptstädtischen Bevölkerung ist. Aber auch in den friedlichsten Zeiten wird kaum ein Abgeordneter sich den Einwirkungen der Hauptstadt völlig entziehen können. Die Sitteneinfalt der ländlichen Deputierten mag darunter oft arg leiden; aber sicher wird ihr politischer Horizont erweitert werden.

Die direkte Gesetzgebung durch das Volk wirkt diesen Tendenzen des Parlamentarismus entgegen. Strebt dieser danach, den politischen Schwerpunkt in die großstädtische Bevölkerung zu legen, so verlegt sie ihn in die Masse der Bevölkerung, diese wohnt aber mit Ausnahme Englands heute noch überall vorwiegend auf dem flachen Lande und in den Landstädtchen. Die direkte Gesetzgebung nimmt der großstädtischen Bevölkerung ihren besonderen politischen Einfluß und unterwirft sie der Landbevölkerung.

Wir haben bereits früher gesehen, wie die bäuerliche Produktion die Menschen isoliert. Die kapitalistische Produktionsweise und der moderne Staat wirken allerdings mächtig darauf hin, durch Steuerzettel und Kriegsdienste, Eisenbahnen und Zeitungen die dörfliche Abgeschlossenheit der Bauern aufzuheben. Aber die Vermehrung der Berührungspunkte zwischen Stadt und Land bewirkt in der Regel nur, daß der Bauer seine Verödung und Vereinsamung schmerzlich empfindet. Sie erhebt ihn nicht als Bauer, sondern erweckt in ihm die Sehnsucht nach der Stadt, sie treibt alle energischen und selbständig denkenden Elemente vom Lande in die Städte und raubt jenem seine besten Kräfte. So wirkt der Aufschwung des modernen Verkehrslebens dahin, die Verödung und Vereinsamung des flachen Landes zu fördern, statt sie zu beheben.

Tatsache ist es, daß in jedem modernen Kulturlande die ländliche Bevölkerung ökonomisch und politisch die rückständigste ist; das bedeutet nicht einen Vorwurf für sie; es ist ihr Unglück, aber es ist eine Tatsache, mit der man rechnen muß. Wo und solange sie besteht, haben wir kaum einen Grund, uns für die direkte Gesetzgebung besonders ins Zeug zu legen.

Vielleicht die vorgeschrittenste Landbevölkerung Europas ist die der Schweiz. Ein gutes Volksschulwesen, vielfach lange demokratische Gewöhnung, endlich die Zerstreuung eines großen Teils der kapitalistischen Industrien über das flache Land – zu welchem „flachen“ Land allerdings auch tiefeingeschnittene Gebirgstäler zählen – machen den schweizerischen Landmann geistig regsam und erweitern seinen Gesichtskreis. Anderseits ist der schweizerische Lohnarbeiter im allgemeinen konservativer als die meisten seiner Genossen in Europa. Was den Bauern hebt, hält ihn zurück, die Zerstreuung der Industrie über das Land. Auch ökonomisch steht er oft noch dem Bauern sehr nahe, nennt noch ein Stückchen Land sein eigen. Überdies fehlt der Schweiz eine führende Großstadt. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist da also viel weniger entwickelt als in einem modernen Großstaat. Und trotzdem schreiben viele Politiker in der Schweiz dem Referendum eine konservative Wirkung zu. [3]

Zu dieser für das revolutionäre Proletariat nachteiligen Wirkung gesellt sich noch eine andere.

Wir haben gesehen, daß der Parlamentarismus notwendigerweise große, staatliche, geschlossene Parteien bedingt. Nur durch ihren Zusammenschluß zu solchen Parteien können die einzelnen Klassen im parlamentarischen Staat zur Geltung kommen. Bei den Wahlen wird die ganze wahlberechtigte Bevölkerung in die Parteikämpfe aufs lebhafteste hineingezogen. Nicht als Individuen, sondern als Vertreter bestimmter Parteien treten die Kandidaten vor die Wähler hin, entwickeln vor ihnen ihre Parteiprogramme und fordern sie auf zu entscheiden. In Zeiten eines verkommenden Parlamentarismus, das heißt, wenn im Parlament sich nur Parteien gegenüberstehen, die durch keine grundsätzlichen Gegensätze geschieden werden, die ihre Kämpfe nicht führen, um ihre besonderen prinzipiellen Forderungen zur Geltung zu bringen, sondern nur um zur Staatskrippe zu gelangen, da sind alle die kleinlichen Verschiedenheiten, welche die Kandidaten vor den Wählern auskramen, um sich von ihren Gegnern zu unterscheiden, freilich nur Humbug; der Wahlkampf führt nicht zur Aufklärung, sondern zur Täuschung der Wähler.

Aber ganz anders gestaltet sich der Wahlkampf dort, wo große Gegensätze einander gegenübertreten, in unserer Zeit also namentlich dort, wo die Sozialdemokratie eingreift. Sie steht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu allen andern Parteien, ihr Lebensinteresse gebietet ihr, diesen Gegensatz voll zur Geltung zu bringen. Wo sie auftritt, werden daher die Wahlkämpfe naturnotwendig immer mehr Kämpfe zwischen großen Prinzipien. Die Bevölkerung lernt neue Ideen kennen und wird gezwungen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Selbst wenn hie und da weichherzige oder überschlaue Sozialdemokraten versuchen sollten, ihre revolutionären Ziele zu verbergen, so würde es ihnen nichts nützen. Die Gegner selbst würden dafür sorgen, der Bevölkerung begreiflich zu machen, daß zwischen dem sozialdemokratischen und dem bürgerlichen Kandidaten nicht nur in dem einen oder andern Nebenpunkt, sondern in der ganzen Weltanschauung die tiefsten Gegensätze bestehen.

Die Entwicklung der großen Gegensätze wirkt aber auch dahin, daß die kleinen Unterschiede, mitunter auch Gegensätze, die zwischen den verschiedenen Berufen und Schichten innerhalb derselben Klasse bestehen, die kleinen Sonderinteressen und Augenblicksinteressen hinter den großen, dauernden, allgemeinen Interessen zurücktreten. Fördern die parlamentarischen Kämpfe, namentlich die Wahlkämpfe, überall dort, wo sie Klassenkämpfe darstellen, die Scheidung der einzelnen Klassen voneinander, so fördern sie anderseits auch das Zusammenschließen der einzelnen Elemente innerhalb jeder der kämpfenden Klassen. Sie sind ein mächtiges Mittel, das Klassenbewußtsein zu erwecken und zu stärken, ein mächtiges Mittel, die Proletarier unter einer Fahne zu vereinigen, Enthusiasmus und Begeisterung für weite Ziele in ihnen zu erwecken und sie in geschlossener Phalanx in den Kampf dafür eintreten zu lassen.

So fördert die Wahlbewegung die Scheidung der Parteien im Volke, so wird sie ein gewaltiger Hebel der Organisierung und Disziplinierung wie der Aufklärung und Propaganda. So wichtig ist diese Seite des Wahlkampfes, daß hauptsächlich deswegen die Sozialdemokratie für das allgemeine Wahlrecht in entschiedenster Weise auch in Ländern eintritt, wo das Parlament keineswegs der entscheidende Faktor ist und der Regierung gegenüber eine sehr bescheidene Rolle spielt, wo also die Möglichkeit einer positiven Beeinflussung der Gesetzgebung und Staatsverwaltung durch das Parlament sehr gering ist. Deswegen aber auch überall, wo es eine kraftvolle sozialdemokratische Bewegung gibt, welche die gesetzliche Möglichkeit hat, in die Wahlen einzugreifen, die Angst der bürgerlichen Parteien von jedem Wahlkampf.

In entgegengesetzter Richtung wirkt die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Hier wird die Bevölkerung nicht angerufen, über ganze umfassende Programme einer politischen und sozialen Neugestaltung abzustimmen, sondern nur über eine einzelne Maßregel, einen einzelnen Vorschlag, der überdies stets den augenblicklichen Machtverhältnissen in Staat und Gesellschaft angepaßt sein muß, wenn er ein „praktischer“ sein und nicht eine bloße Demonstration bezwecken soll.

Wir haben oben gesehen, daß ein Gesetz in der Regel das Ergebnis eines Kompromisses ist. Das gilt namentlich heute, wo so viele Parteien auf der politischen Bühne auftauchen und die alten bürgerlichen Parteien so zerklüftet sind. Aus dieser Notwendigkeit des „Kompromisseins“, die mit der gesetzgeberischen Tätigkeit verknüpft ist, haben manche die parlamentarische Korruption abgeleitet. Wir halten das für übertrieben. In die Parlamente schicken doch die Parteien ihre scharfsichtigsten und erfahrensten Politiker; diese wissen in der Regel ganz gut, was sie tun, wenn sie einen Kompromiß abschließen; sie werden dadurch weder irregeführt noch in ihren prinzipiellen Anschauungen erschüttert. Wenn bei Kompromissen über Gesetzesvorschläge Charakterschwäche und Grundsatzlosigkeit zutage treten, dann sind sie schon vorher dagewesen. Der Kompromiß hat sie nicht erzeugt, sondern bloß an den Tag gebracht.

Die Anhänger der direkten Gesetzgebung sind anderer Ansicht, aber sie vertreiben den Teufel durch Beelzebub, wenn sie die Abstimmungen über Gesetzesvorlagen dem Volk übertragen, denn das heißt doch nichts anderes, als daß sie die Ursache der Korruption aus dem Parlament ins Volk verlegen! Denn ohne Kompromisse gibt es keine Gesetzgebung; die große Masse, die nicht aus geschulten Politikern besteht, muß aber durch einen Kompromiß viel leichter verwirrt und auf Abwege gebracht werden als die Politiker des Parlaments. Wenn der Kompromiß bei den Abstimmungen über Gesetzesvorlagen wirklich korrumpieren würde, müßte er also bei der direkten Gesetzgebung durch das Volk noch viel schädlicher wirken als bei der Gesetzgebung durch das Parlament.

Sicher aber ist folgendes: Es gibt kaum eine praktische Forderung an die heutige Gesetzgebung, die einer einzelnen Partei besonders eigentümlich wäre. Selbst die Sozialdemokratie weist kaum eine solche Forderung auf. Wodurch sie sich von den andern Parteien unterscheidet, das ist die Gesamtheit ihrer praktischen Forderungen und das sind die Ziele, auf welche diese hinweisen. Der Achtstundentag z. B. ist an sich keine revolutionäre Forderung; er ist es im Rahmen des sozialdemokratischen Programms als Mittel, die Arbeiterklasse zu heben und beizutragen zu ihrer politischen und sozialen Reife, zu ihrer Fähigkeit, das Werk der Befreiung, der sozialen Umgestaltung selbst in die Hand zu nehmen. Derselbe Achtstundentag kann eine konservative Forderung sein im Rahmen des Programms einer sozialreformerischen Partei, die sich in dem Wahne wiegt, durch Konzessionen die Arbeiterklasse mit der bestehenden Gesellschaftsordnung versöhnen zu können.

Werden also der Bevölkerung nicht ganze Parteiprogramme, sondern bloß einzelne gesetzgeberische Maßregeln zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt, so führt dies naturgemäß dahin, daß alle die einzelnen Parteien, die an dieser Maßregel ein Interesse haben, so feindlich sie sich auch sonst gegenüberstehen mögen, jetzt plötzlich in derselben Richtung tätig sind, gewissermaßen Hand in Hand gehen. Glaubt man, daß die Aufklärung der großen, bisher noch indifferenten Masse dadurch erleichtert wird? Die direkte Gesetzgebung durch das Volk hat die Tendenz, die Scheidung der Bevölkerung in Parteien zu hemmen, nicht zu fördern; sie schlägt immer wieder neue Brücken zwischen den nach verschiedenen Richtungen auseinandergehenden Parteien-Gleichzeitig wirkt sie auch dahin, die Geschlossenheit innerhalb der einzelnen Parteien zu vermindern. Was politische Parteien, namentlich wenn sie große historische Aufgaben zu erfüllen haben, wie die sozialdemokratische, zusammenhält, das sind ihre Endziele, nicht ihre augenblicklichen Forderungen, nicht die Anschauungen über das Verhalten in allen den Einzelfragen, die an die Partei herantreten. Verschiedenheiten der Einsicht, des Temperaments, der Interessen, der Überlieferungen usw. finden sich innerhalb jeder Partei, und daraus ergeben sich die mannigfachsten Meinungsverschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten können sich aber naturgemäß nur auf manche der nächsten Aufgaben, nicht auf die letzten Ziele beziehen und nicht auf die Methode, die im allgemeinen zu deren Erreichung zu befolgen ist. Ohne Einigkeit in diesen Punkten wäre ja eine Zusammenschließung so disparater Elemente zu einer Partei ein Unding. Meinungsverschiedenheiten sind, wie gesagt, innerhalb einer Partei stets vorhanden, mitunter erreichen sie eine bedrohliche Höhe. Aber sie werden um so weniger leicht die Partei sprengen, je lebendiger in ihren Mitgliedern das Bewußtsein der ihnen allen gemeinsamen großen Ziele ist, die sie anstrebt, und je gewaltiger der Enthusiasmus für diese Ziele, so daß die Forderungen und Interessen des Augenblicks dahinter zurückstehen. Auch von diesem Standpunkte aus sind die Wahlkämpfe, welche in dieser Richtung aufklärend und anfeuernd wirken, für die Sozialdemokratie unschätzbar.

Die direkte Gesetzgebung hat dagegen die Tendenz, das Interesse von den allgemeinen prinzipiellen Fragen abzulenken und auf einzelne konkrete Fragen zu konzentrieren. Je mehr diese Tendenz in Wirksamkeit tritt, desto mehr lockert sie den Zusammenhalt innerhalb jeder Partei, wenigstens mancher dieser Fragen gegenüber. Und die Diskussionen, welche sonst bloß im Schoße der Partei sich abspielen, werden nun in die Masse der Bevölkerung getragen, in Schichten, die erst anfangen, mit der Partei Fühlung zu fassen, die wegen augenblicklicher Differenzen leicht wieder von ihr abzusplittern sind.

Die Sektiererei, die sich einseitig auf eine oder die andere Maßregel kapriziert, kann durch die direkte Gesetzgebung gestärkt werden, nicht aber das Parteiwesen. Wäre es möglich, das Repräsentativsystem durch die direkte Volksgesetzgebung zu ersetzen, so würde das zur völligen Auflösung der Parteien führen. Dies haben ihre Anhänger selbst zugegeben, ja, als einen ihrer Vorzüge gepriesen. Zu dieser Auflösung wird es freilich nicht kommen, da ja die gänzliche Übertragung der Gesetzgebung an das Volk nicht möglich ist. Aber auch schon das Referendum und die Initiative nach schweizerischem Muster können unter Umständen der Verschärfung der Parteigegensätze auf der einen, der Zusammenschließung und Disziplinierung der Parteien auf der anderen Seite stark entgegenwirken.

Dies liegt aber gar nicht im Interesse der Sozialdemokratie. Andere Parteien können den Reichtum oder den Einfluß einzelner ihrer Mitglieder in die Waagschale werfen. Die Sozialdemokratie kann nur zur Geltung kommen durch die vereinigte Kraft der Masse des kämpfenden Proletariats.

Es ist heute in manchen Kreisen wieder Mode geworden, über das Parteiwesen die Nase zu rümpfen. Das ist nicht neu. Der anarchistische und sonstige Literatensozialismus unserer Tage wiederholt nur, was schon vor zwei Menschenaltern die utopistischen Sozialisten, jedoch viel gründlicher und frei von der Effekthascherei und Selbstgefälligkeit jener Herren, ausgeführt hatten, was dann auch die ersten Anhänger der Idee der Volksgesetzgebung wieder betonten. [4]

Diese Anschauung war damals erklärlich, wo das bürgerliche Parteiwesen in der Politik ausschließlich herrschte (mit Ausnahme von England, wo die Chartistenpartei kräftig gedieh) und der Klassenkampf als der Hebel der Emanzipation des Proletariats noch nicht klar erkannt war. Sie ist widersinnig, wenn man sich auf den Standpunkt des Kommunistischen Manifests stellt.

Nur als politische Partei kann die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zu einem festen, dauernden Zusammenschluß gelangen. Die rein ökonomischen Kämpfe betreffen direkt stets nur einen oder wenige Berufe, meist nur die Berufsgenossen einer beschränkten Lokalität, einer Stadt oder Provinz. Jeder dieser Kämpfe ist für sich allein noch kein Klassenkampf. Es handelt sich dabei zunächst nie um ein Interesse der gesamten Arbeiterschaft, sondern nur um ein Sonderinteresse einer bestimmten Branche. Wo die Arbeiter nicht so weit kommen, sich in einer selbständigen politischen Arbeiterpartei zu organisieren, wo sie auf ihre rein ökonomischen Organisationen, Gewerkschaften und Hilfskassen, beschränkt bleiben, da treten nur zu leicht die beruflichen Sonderinteressen in den Vordergrund, das Klassenbewußtsein wird nicht geweckt, ohne dieses ist aber ein wirklich sozialrevolutionäres Wirken unmöglich. Der Arbeiter, der sich nicht als Proletarier fühlt, sondern nur als Schriftsetzer oder Hutmacher oder Metallarbeiter, der nur Setzerinteressen oder Hutmacherinteressen oder Metallarbeiterinteressen vertritt, der kann sich dabei auf den verschiedensten Gebieten höchst radikal gebärden, etwa wütender Atheist sein, aber sein radikales Gebaren wird bloßes Kannegießern bleiben, wie das des wildgewordenen, revolutionär herumfuchtelnden Spießbürgers auch. Auf die Umgestaltung der Gesellschaft im proletarischen Sinne wird sein Tun ohne Einfluß sein.

Die Bildung und das Wirken einer besonderen Arbeiterpartei, welche für die Arbeiterklasse die politische Macht erobern will, setzt bereits in einem Teile der Arbeiterschaft ein hochentwickeltes Klassenbewußtsein voraus. Aber das Wirken dieser Arbeiterpartei ist das mächtigste Mittel, in der Masse der Arbeiterschaft das Klassenbewußtsein zu erwecken und zu fördern. Sie kennt nur Ziele und Aufgaben, welche das gesamte Proletariat betreffen, die Berufsborniertheit, die Eifersüchteleien der einzelnen Sonderorganisationen finden in ihr keinen Raum. [5] Und während die rein ökonomischen Organisationen als bloße Berufsorganisationen sich nur Ziele innerhalb der heutigen Produktionsweise setzen können, muß die Arbeiterpartei als Vertreterin der Klasseninteressen des gesamten Proletariats notwendigerweise – wenn sie nicht von vornherein auf sozialdemokratischem Boden steht – früher oder später dahin gelangen, diese Produktionsweise selbst zu bekämpfen, innerhalb welcher eine Emanzipation des Proletariats unmöglich ist. Ist der Nur-Gewerkschafter konservativ, auch wenn er sich noch so radikal gebärdet, so ist jede selbständige politische Arbeiterpartei ihrem Wesen nach stets revolutionär, auch wenn sie ihrem Auftreten, ja selbst dem Bewußtsein ihrer Mitglieder nach „gemäßigt“ ist.

Wir revolutionären Sozialisten haben also nicht die mindeste Ursache, zu wünschen, „die Parteien möchten in der Nation untertauchen“, wie Considérant es verlangt, und insoweit die direkte Gesetzgebung durch das Volk in dieser Richtung wirksam ist, kann sie die Emanzipationsbestrebungen des Proletariats bloß hemmen.

Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die direkte Gesetzgebung durch das Volk (das heißt natürlich jene ihrer Formen, in der sie überhaupt realisierbar ist) unter allen Umständen in der heutigen Gesellschaft, einer Gesellschaft von Klassen- und Parteigegensätzen, verwerflich sei. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Unseres Erachtens folgt aus dem Ausgeführten nur, daß Referendum und Initiative nicht zu jenen demokratischen Einrichtungen gehören, die vom Proletariat im Interesse seines Emanzipationskampfes überall und unter allen Umständen gefordert werden müssen. Referendum und Initiative sind Einrichtungen, die unter Umständen ganz nützlich wirken können, wenn man auch diese Wirkungen nicht überschätzen darf, die aber unter Umständen auch großen Schaden anrichten können. Die Einführung von Referendum und Initiative ist daher nicht überall und unter allen Umständen zu erstreben, sondern nur dort, wo gewisse Vorbedingungen erfüllt sind.

Zu diesen Vorbedingungen rechnen wir das Fehlen des Gegensatzes von Großstadt und Land, wie das in der Schweiz annähernd der Fall, oder, was noch vorteilhafter, das Überwiegen der städtischen über die ländliche Bevölkerung, ein Zustand, der bisher nur in England erreicht ist.

Eine weitere Vorbedingung ist ein hochentwickeltes politisches Parteileben, das die große Masse der Bevölkerung erfaßt hat, so daß die die Parteien auflösenden und die Parteigegensätze überbrückenden Wirkungen der direkten Gesetzgebung nicht mehr zu fürchten sind.

Die wichtigste Vorbedingung ist aber das Fehlen einer übermäßig zentralisierten, der Volksvertretung selbständig gegenüberstehenden Staatsgewalt.

Wo eine solche vorhanden, wo der Parlamentarismus nur ein Scheinparlamentarismus ist, und das gilt heute noch für die große Mehrheit der europäischen Staaten, da kommt die Schwächung des Parlamentarismus durch die direkte Gesetzgebung nicht dem Volke, sondern der Regierung zugute, ganz abgesehen davon, daß unter der Herrschaft einer „starken Regierung“ die direkte Gesetzgebung überhaupt nur in der Form zur Durchführung kommen könnte, daß die Berufung ans Volk bloß dann erfolgt, wenn es der Regierung paßt. Unter einer derartigen Regierung, der der ganze ungeheure Apparat des modernen Staates tatsächlich bedingungslos zur Beeinflussung der Bevölkerung zu Gebote steht, müssen die eben erwähnten Schattenseiten der direkten Gesetzgebung – Bevorzugung des reaktionären flachen Landes auf Kosten der revolutionären Großstädte, Zersetzung und Verwaschung der Parteien – sich in der schlimmsten Weise äußern. Die „Volksgesetzgebung“ wird da zum „Plebiszit“, und was das bedeutet, hat uns das französische Kaiserreich gezeigt.

In bürokratischen Militärstaaten, in denen der Regierung nur der Schatten eines Parlaments, nicht ein wirkliches Parlament gegenübersteht, haben die aufstrebenden, revolutionären Klassen nicht die Aufgabe, diesem Schatten noch den letzten Rest von Kraft zu nehmen; das wäre Selbstmord; sie besorgten damit die Geschäfte der Regierung. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, den Schatten zu beleben, ihm Blut einzuflößen, ihn widerstandsfähig gegenüber der Regierung zu machen.

Wir begreifen es vollkommen, wenn die Parteigenossen in der Schweiz für die direkte Gesetzgebung aufs lebhafteste eintreten. Nirgends sind die Vorbedingungen dafür so vollkommen entwickelt wie in der Eidgenossenschaft. Und die augenblickliche Situation drängt sie förmlich zu dieser Tätigkeit. In der Schweiz ist eine Art Gleichgewicht der Klassen eingetreten, keine ist imstande, für sich allein eine große Aktion zu unternehmen. Auf der anderen Seite sind unsere Schweizer Genossen so glücklich, an politischen Rechten im wesentlichen bereits alles zu haben, was verlangt werden kann. Wollen sie positiv wirken, wollen sie praktisch tätig sein, wollen sie sich nicht auf Agitationen und Demonstrationen beschränken, dann können sie nicht viel anderes tun, als an dem politischen Gebäude, das im ganzen und großen fertig ist, noch hie und da eine kleine Verbesserung und Verzierung anzubringen.

Aber eines schickt sich nicht für alle. Wir Deutsche und Österreicher haben anderes zu tun. Wir haben einen großen und erbitterten Kampf zu kämpfen gegen Militarismus und Absolutismus. Die Last des Kampfes fällt fast allein auf die Sozialdemokratie. Die Bourgeoisie hat längst aufgehört, im Parlament das auserwählte Werkzeug ihrer Klassenherrschaft zu sehen, das ihr unter allen Umständen sicher sei. Sie fühlt, daß es unmöglich ist, das Proletariat daraus fernzuhalten, sie erkennt, daß die Stunde naht, wo das Proletariat in Österreich das allgemeine Wahlrecht, wo es in Deutschland mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts das Parlament erobert. Sie fühlt, daß sie verloren ist, wenn der Parlamentarismus zur Wahrheit wird; nicht mehr im Parlamentarismus, sondern in dessen Gegengewichten, im Militarismus und Absolutismus sucht sie ihr Heil.

In den fünfziger und sechziger Jahren, als die Bourgeoisie in den Parlamenten – soweit es solche gab – unumschränkt herrschte, konnte man glauben, der Kampf des Proletariats um die politische Herrschaft werde ein Kampf um die Entthronung des Parlamentarismus werden. Heute zeigt sich's immer mehr, daß er, wenigstens in Osteuropa, ein Kampf für den Parlamentarismus, gegen den Absolutismus und Militarismus wird.

In der Tat, die Bourgeoisie ist in Europa östlich vom Rhein so schwach und so feig geworden, daß es scheint, als sollte das Bürokraten- und Säbelregiment nicht eher gebrochen werden können, als bis das Proletariat imstande ist, die politische Macht zu erobern, als sollte der Sturz des Militärabsolutismus direkt zur Eingreifung der politischen Macht durch das Proletariat führen.

Sicher ist das eine: In Deutschland wie in Österreich, ja in den meisten Ländern Europas werden jene Vorbedingungen, die zum günstigen Wirken der Volksgesetzgebung notwendig sind, werden vor allem die erforderlichen demokratischen Einrichtungen vor dem Siege des Proletariats nicht mehr zur Wirklichkeit werden. Die Volksgesetzgebung kann vorher vielleicht in den Vereinigten Staaten, in England und in den englischen Kolonien, unter Umständen auch in Frankreich zu einer gewissen Geltung gelangen – für uns Osteuropäer gehört sie in das Inventar des „Zukunftsstaates“.


Anmerkungen des Verfassers

1. Vorliegende Ausführungen bilden das letzte Kapitel einer Schrift Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, die soeben im Verlag von J.H.W. Dietz in Stuttgart erschienen ist. Da das darin behandelte Thema auf dem kommenden internationalen Kongreß in Zürich zur Diskussion gelangen wird, erscheint uns der Abdruck dieses Kapitels sehr zeitgemäß. – Die Redaktion

2. Vgl. darüber den sehr instruktiven Artikel von Th. Curti Zur Geschichte der Volksrechte im 40. Heft des laufenden Jahrgangs dieser Zeitschrift – d. red.

3. Sowohl Curti wie Deploige führen in ihren Werken über die direkte Gesetzgebung eine Reihe von Belegen dafür an. Bemerkenswert erscheinen mir unter anderem folgende Tatsachen: Die Bundesversammlung der Eidgenossenschaft, also ein Parlament, hatte 1872 einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der eine Erweiterung der Volksrechte enthielt, das fakultative Referendum und die Initiative in die Verfassung aufnahm. Am 12. Mai 1872 wurde dieser Verfassungsentwurf dem Volk zur Abstimmung vorgelegt und mit 261.072 Stimmen gegen 255.609 verworfen. Es wurde daraufhin von einer neuen Bundesversammlung ein neuer Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der wohl das Referendum, aber nicht mehr die Initiative enthielt, und dieser wurde 1874 mit 340.199 Stimmen gegen 198.013 angenommen. Die Parlamentarier waren demokratischer gewesen als das Volk.

Daß die Konservativen es sind, welche am liebsten das Referendum anrufen als ein Mittel, den Fortschritt der Gesetzgebung zu verlangsamen, sagt uns Deploige:

„Herr Chatelanat, gewesener Direktor des Berner statistischen Bureaus, hat eine Tabelle der Kantone angefertigt, nach ihrer mehr oder weniger ausgesprochenen Tendenz, das Referendum zu verlangen. Die katholischen (urkonservativen) Kantone stehen an der Spitze, obenan Freiburg, dann kommen Uri, Wallis, Obwalden; ihnen folgen Genf und das Waadtland. Dagegen liefern die radikalen Kantone Thurgau, Solothurn, Glarus und Zürich die wenigsten Unterschriften. Die Statistik des Herrn Chatelanat beruht nur auf einer Erfahrung von fünf Jahren, aber nach den Zahlen, die ich erhalten habe, gilt sie auch für die folgenden Jahre.“ La Referendum en Suisse, Brüssel 1892, S. 102.

Während der Französischen Revolution betrachteten die Girondisten das Referendum als ein Mittel, die Übermacht der revolutionären Hauptstadt zu brechen und die Revolution zum Stillstand zu bringen. Als Ludwig XVI. zum Tode verurteilt worden war, verlangten sie eine Volksabstimmung, weil sie überzeugt waren, den König dadurch zu retten. Die Bergpartei bekämpfte auf das lebhafteste diesen Versuch, das Referendum als konterrevolutionäre Maßregel einzuführen.

Daher gab auch Louis Blanc seiner Streitschrift gegen die direkte Gesetzgebung, gegen Rittinghausen und Considérant, den Titel: Plus de Girondins – „keine Girondisten mehr“.

4. „Es ist Zeit“, erklärte Considérant, „mit den Revolutionen, das heißt mit den usurpatorischen Regierungen, den Dynastien, den Parteien zu endigen. Das kann aber nur geschehen, wenn die Parteien untertauchen in die Nation. Der Kollektivwille des Volkes ist das alleinige Gesetz, welches das Volk selbst für legitim ansehen kann ... Da wir in einer Zeit leben, wo keine Partei glauben darf, daß die andere Partei das Feld räumen und sie nicht mehr zu zerstören trachten werde, so ist es klar, daß die Gesellschaft sich für so lange in einer permanenten Revolution, in einem offenen oder latenten Krieg befinden muß, bis die demokratische Nation sich ganz mit dem Prinzip erfüllt hat und selber die Handhabung ihres Willens und die Leitung ihrer Angelegenheiten übernimmt ... Sobald die Volksgesetzgebung vom Volk begriffen ist, stehen wir am Ende der politischen Entwicklung ... Die verschiedenen Arten des Sozialismus, die schon vorhanden oder im Entstehen begriffen sind, werden nicht mehr daran denken können, sich diktatorisch aufzudrängen, ihre Verwirklichung zu suchen durch eine dem gesamten nationalen Willen fremde Regierungsautorität Sie werden also auch keine politischen Kräfte mehr abgeben, deren Tyrannei wir zu fürchten haben. Verschwunden sind die Gefahren, die ganz besonders aus der Komplikation des politischen mit dem sozialen Problem entstanden, und mit ihnen alle die Besorgnisse, alle die künstlich von den monarchischen Intriganten aller Vaterländer ausgebeuteten Schrecken. Die verschiedenen Arten von Sozialismus oder mit anderen Worten: die verschiedenen Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage werden mit Notwendigkeit dazu geführt, das zu sein, was sie sein sollen: Ideen, die sich in der Nation frei entwickeln ..., da sie nicht mehr politische Parteien sein können, welche die Macht erstreben, so werden sie Schulen werden, welche um den Besitz der Einsicht miteinander wetteifern.“ (La Solution ou le gouvernement du peuple, S. 8 ff., zitiert bei Curti, Geschichte der schweizerischen Volksgesetzgebung, S. 204). Unter der direkten Gesetzgebung durch das Volk wäre also eine sozialdemokratische Partei unmöglich und noch weniger möglich die Diktatur des Proletariats. Dieses kann sich nur emanzipieren durch – Vorträge, die es dem „Volke“ hält. Wir haben den ganzen Passus wiedergegeben, weil er bezeichnend ist für den Gedankengang der Anhänger der Volksgesetzgebung.

5. Wohin die Gewerkschaftsbewegung führen kann, wenn sie nicht Hand in Hand geht mit einer kraftvollen, selbständigen politischen Arbeiterbewegung, zeigt uns jetzt Amerika, wo einzelne Arbeiterorganisationen einander erbittert bekriegen und dabei unter Umständen kein Bedenken tragen, den Kapitalisten Liebesdienste zu erweisen, wenn sie dadurch der gegnerischen Arbeiterorganisation einen Schlag versetzen können.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012