Karl Kautsky


Bernstein und das Sozialdemokratische Programm



II. Das Programm

a. Die Zusammenbruchstheorie

Hier sind wir bei dem Kernpunkt der Ausführungen Bernsteins angelangt. Von nun an wenden sie sich direkt gegen unser Programm, erhalten also praktische Bedeutung. Seine Kritik der Zusammenbruchstheorie ist auch jener Teil seiner Streitschrift, der von unseren Gegnern mit besonderem Wohlbehagen registriert wurde. Hier ist also Genauigkeit und Klarheit besonders vonnöten.

Eine besondere „Zusammenbruchstheorie“ ist von Marx und Engels nicht aufgestellt worden. Das Wort stammt von Bernstein, ebenso wie auch das Wort „Verelendungstheorie“ von Gegnern des Marxismus stammt.

Das Wort Zusammenbruchstheorie erfand Bernstein bei seiner Polemik gegen Bax in der Neuen Zeit, XVI, 1, S. 548 ff. Er ging damals in seinem zweiten Artikel von dem Absatz III der Resolution über die ökonomischen Aufgaben der Arbeiterklasse aus, welche dem internationalen Kongress zu London 1896 vorgelegen hatte. Dieser Satz lautete in der deutschen Fassung: „Die ökonomische Entwicklung ist gegenwärtig schon so weit vorgeschritten, dass eine Krisis bald eintreten kann. Der Kongress fordert daher die Arbeiter aller Länder auf, die Leitung der Produktion zu lernen, um als klassenbewusste Arbeiter die Leitung der Produktion zum Wohle der Gesamtheit übernehmen zu können.“ Die englische und französische Fassung weichen von der deutschen erheblich ab und geben einen besseren Sinn. Danach heißt es nicht: „Die ökonomische Entwicklung ist so weit vorgeschritten, dass eine Krisis bald eintreten kann“, sondern es heißt, „sie schreitet so schnell vorwärts, dass eine Krisis in verhältnismäßig kurzer Zeit eintreten kann.“ „Daher“, heißt es dort weiter, „haben die Arbeiter die Aufgabe, die Verwaltung des Landes (nicht die Leitung der Produktion) zu lernen“. In dem Kongressbericht, der im Verlag des Vorwärts erschien, fehlt aber dieser Passus ganz. Als Absatz III finden wir einen Satz über die Feier des 1. Mai.

Man wird zugeben, dass es etwas kühn ist, auf diesen, in seinem Wortlaut nicht feststehenden und dunklen – denn was heißt Krisis? –, dabei sehr harmlosen Satz eine Kritik der sozialdemokratischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung aufzubauen. Das aber tut Bernstein. Der zitierte Satz, sagt er, „steht mindestens prinzipiell mit der zur Zeit in der Sozialdemokratie vorherrschenden Auffassung vom Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft im Einklang“.

„Nach dieser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung durch das Elend, das sie erzeugt, die Gemüter so leidenschaftlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem entflammen, die Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft dieses Systems die gegebenen Produktivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, dass die gegen dieses System gerichtete Bewegung unwiderstehliche Kraft annimmt und unter ihrem Andrängen dieses selbst hoffnungslos zusammenbricht. Mit anderen Worten, die unvermeidliche große wirtschaftliche Krisis wird sich zu einer allumfassenden gesellschaftlichen Krisis ausweiten, deren Ergebnis die politische Herrschaft des Proletariats als der dann einzig zielbewussten revolutionären Klasse und eine unter der Herrschaft dieser Klasse sich vollziehende völlige Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne sein wird.“

Das ist, Bernstein wiederholt es, die Auffassung der Sozialdemokratie.

„So hat sich denn in der Sozialdemokratie die Überzeugung eingebürgert, dieser Weg der Entwicklung sei unvermeidliches Naturgesetz, die große, allumfassende wirtschaftliche Krisis der unumgängliche Weg zur sozialistischen Gesellschaft.“ (Neue Zeit, S. 549)

Es dürfte Bernstein schwer fallen, für diese Überzeugung der Sozialdemokratie Belege beizubringen. Er begnügt sich denn auch mit dem Hinweis auf den keineswegs eindeutigen Absatz der dem internationalen Kongress vorgelegten Resolution, der gar nicht diskutiert und, wenn der Bericht des Vorwärts richtig ist, auch nicht angenommen wurde!

In offiziellen Äußerungen der deutschen Sozialdemokratie wird Bernstein vergeblich nach einer Behauptung suchen, die irgendwie im Sinne der von ihm vorgetragenen Zusammenbruchstheorie lautet. In dem Passus des Erfurter Programms, der von den Krisen handelt, steht kein Wort von Zusammenbruch. Aber es dürften auch kaum Reden oder Zeitungsartikel deutscher Parteigenossen zu finden sein, in denen mit Bestimmtheit behauptet würde, eine Geschäftskrisis werde die soziale Revolution einleiten, oder das Proletariat könne nur während einer Geschäftskrisis die politische Macht erobern. Bax hat, wenn ich nicht irre, ähnliche Ansichten mitunter vertreten, und so erschien es erklärlich, dass Bernstein in dem erwähnten Artikel dagegen polemisierte. Wenn er dabei von der Zusammenbruchstheorie als einer in der Sozialdemokratie vorherrschenden Anschauung sprach, so erschien das als eine Übertreibung, die in der Hitze der Polemik leicht passiert.

Aber es fällt Bernstein nicht ein, in seiner Streitschrift, die sich nicht gegen Bax richtet, diese Übertreibung zu korrigieren. Im Gegenteil, er übertreibt sie noch, indem er das Geltungsbereich der Zusammenbruchstheorie nicht nur nicht verengt, sondern sogar erweitert. Was 1898 noch eine in der Sozialdemokratie vorherrschende Theorie war, ist 1899 bereits die Theorie der Sozialdemokratie geworden, die Polemik gegen Bax verwandelte sich in eine Polemik gegen Marx und Engels, die Kritik eines beiläufigen Resolutionsabsatzes in die Kritik des Kommunistischen Manifests und des Kapital.

Diese Kritik ist seitdem von den Antimarxisten innerhalb wie außerhalb der Partei in den Himmel erhoben worden als die bündigste Widerlegung der marxistischen Zusammenbruchstheorie. Wenn man die Herren fragen würde, was denn diese Theorie eigentlich bedeute, würden wir kuriose Antworten erhalten. Hat sich’s doch im Laufe der Diskussion herausgestellt, dass Bernstein selbst die marxistische Theorie in einem wesentlichen Punkte falsch dargestellt hatte. Nach der Bernsteinschen Darstellung erwarteten Marx und Engels, die sozialistische Produktionsweise werde ein Ergebnis des Zusammenbruchs der kapitalistischen Produktionsweise sein, der aus der Konzentration des Kapitals und den immer furchtbarer auftretenden Krisen resultieren werde. Der Klassenkampf des Proletariats blieb in dieser Darstellung unerwähnt. Ich sah darin jedoch keine Absicht, sondern nur einen Zufall. Es blieb eben jenes Moment unerwähnt, welches zwar das wichtigste, aber eben deshalb auch selbstverständlich ist. So glaubte ich. Das war ein Irrtum.

Bernstein erklärte im Vorwärts meine Auffassung der Marxschen Theorie als falsch. Die Stelle sei, weil charakteristisch, vollständig wiedergegeben.

„Die Marx-Engelssche Theorie, sagt er (Kautsky), leitet die Notwendigkeit des kommenden Zusammenbruchs des Kapitalismus ab aus der Zunahme der Proletarier und dem Wachstum ihrer Reife und Macht, aus der fortschreitenden Verdrängung und Unterjochung der Kleinbetriebe durch kapitalistische Großbetriebe, die immer mehr zu monopolistischen werden, und aus der steigenden Tendenz zur Überproduktion, die entweder zu stets wachsenden Krisen oder zu allgemeiner Stagnation, oder aber, wie theoretisch nicht ausgeschlossen, zu einer allgemeinen Kartellwirtschaft führt, welche noch weit unerträglicher und aufreizender als geschäftliche Depression wirken müsste, nicht bloß auf das Proletariat, sondern auf die Masse der Bevölkerung, und die zur Expropriation der Kartelle – in diesem Falle der kapitalistischen Industrie – mit Notwendigkeit führen müsste.

„Das ist nun zunächst nicht die Marx-Engelssche Theorie, sondern eine Kautskysche Lesart und Erweiterung derselben. Inwieweit sie mit dem vom Zusammenbruch handelnden Kapitel bei Marx zu vereinen ist, wo nicht von wachsender Reife und Macht, sondern von wachsender Entartung und Knechtschaft der Proletarier gesprochen wird, kann ich indes hier um so mehr auf sich beruhen lassen, als ich selbst stets sehr energisch betont habe, dass dies Kapitel nur als Signatur einer Tendenz zu verstehen ist Nur behaupte ich, dass mit dem Mantel auch der Herzog fällt.“ (Vorwärts, 26. März 1899)

Darauf entgegnete ich:

„Diesen Satz hat nicht irgendein Vulgärökonom geschrieben, der das Kapital nie in der Hand gehabt, sondern ein Mann, der als einer der besten und verständnisvollsten Kenner der marxistischen Literatur gilt. Wie berechtigt der Satz ist, zeige die wörtliche Wiedergabe der Stelle, auf die sich Bernstein beruft. Sie lautet: ‚Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.‘ (Kapital, 1, 2. Aufl., S. 793)

„Heißt eine stetige Zunahme der Zahl, der Schulung, der Organisation Wachstum der Reife und Macht oder nicht?

„Wie kann also Bernstein behaupten, Marx rede in dem vom Zusammenbruch handelnden Kapitel nicht von wachsender Reife und Macht, sondern nur von wachsender Entartung und Knechtschaft des Proletariats? Und wie kann er behaupten, ich gebe nur meine Lesart, nicht die Marx-Engelssche Theorie? Betont nicht schon das Kommunistische Manifest die wachsende Reife und Macht des Proletariats als eine der Vorbedingungen des Zusammenbruchs der kapitalistischen Gesellschaft?

„‚Die Bourgeoisie‘, sagt es, ‚hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen, sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier ... Mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst und es fühlt sie mehr ... Die Arbeiter beginnen, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden ... Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Die Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform, – indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt, so die Zehnstundenbill in England ... Die Bourgeoisie selbst führt dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, das heißt Waffen gegen sich selbst zu. Es werden ferner durch den Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Auch sie führen dem Proletariat eine Menge Bildungselemente zu‘ etc.

„Da haben wir schon im Kommunistischen Manifest die Bedeutung auseinandergesetzt, welche die wachsende Reife und Macht des Proletariats für den Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung in sich schließt. Seit der ersten Formulierung der Marx Engelsschen Zusammenbruchstheorie ist der Hinweis auf das Wachstum der Reife und Macht des Proletariats ihr wesentlicher Bestandteil gewesen; ohne diesen ist sie gar nicht zu verstehen, und nun kommt Bernstein und behauptet, das sei bloß meine Lesart!

„Aber der Satz vom Wachstum der Reife und Macht des Proletariats ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Marxschen Zusammenbruchstheorie, er ist sogar ihr charakteristischer Bestandteil. Dass die kapitalistische Produktionsweise zu wachsendem Elend, stetigem Rückgang der Kleinbetriebe, zunehmender Überproduktion führe, das haben auch andere Sozialisten vor Marx und gleichzeitig mit Marx, unabhängig von ihm, erklärt. Was Marx und Engels allein fanden, das waren neben den das Proletariat herabdrückenden die es erhebenden Tendenzen. Gerade das zeichnet sie aus, dass sie nicht bloß, wie andere Sozialisten, die wachsende Knechtung des Proletariats sahen, sondern auch seine wachsende Empörung, nicht bloß die Zunahme seines Elends und seiner Degradation, sondern auch die Zunahme seiner Schulung und Organisation, seiner Reife und Macht, etwas, was freilich die vulgären Kritiker der sogenannten Verelendungstheorie nur zu leicht vergessen, die in der Regel nichts anderes kritisieren, als die vormarxistischen Verelendungstheorien.

„Aber dass auch Bernstein es vergessen würde, das hätte ich allerdings nicht erwartet. Es scheint ein psychologisches Gesetz zu geben, das allen Marxkritikern die gleichen Bahnen vorschreibt, woher sie auch kommen mögen.“

Hier erhalten wir übrigens auch ein hübsches Pröbchen davon, was Bernstein unter historischer Notwendigkeit versteht. Getreu seiner Übersetzung von Notwendigkeit mit Fatalismus erkennt er nur dort eine Notwendigkeit an, wo eine Zwangslage besteht. So wird ihm die marxistische Theorie zur Lehre, die ökonomische Entwicklung werde schließlich eine Zwangslage schaffen, in der die Menschen gar nicht anders könnten, als den Sozialismus einführen. So und nicht anders versteht er die marxistische „Zusammenbruchstheorie“. Da ist es keine Kunst, sie zu widerlegen.

„Sehen wir uns die Kautskysche Lesart näher an“, sagt er. „Ist diese eine rein materialistische Begründung des Sieges des Sozialismus? Ganz und gar nicht. Die Reife der Proletarier ist kein ökonomischer, sondern ein ethischer, ihre Macht ein politischer, bzw. sozialpolitischer Faktor. Aber Kautsky zieht auch die allgemeine Empörung über die vorgesehene Kartellwirtschaft zu Hilfe. Das ist wieder kein ökonomischer oder wenigstens kein rein ökonomischer Faktor. Ganz abgesehen davon, dass diese Empörung noch nicht ‚mit Notwendigkeit‘ zur Expropriation der kartellierten Industrie führen muss.

„Wenn der Sieg des Sozialismus eine ‚immanente ökonomische Notwendigkeit‘ sein soll, dann muss er auf den Nachweis von der Unvermeidlichkeit des ökonomischen Zusammenbruchs der bestehenden Gesellschaft begründet werden. Dieser Nachweis ist noch nicht erbracht worden und nicht zu erbringen. Die Entwicklung hat in verschiedenen Punkten einen anderen Weg genommen, als der Fall sein müsste, wenn der Zusammenbruch aus rein ökonomischen Gründen unvermeidlich sein sollte. Aber wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange? Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewusstseins, des Willens der Menschen? Wozu die Übertragung des so oft missverstandenen Theorems von der Willensunfreiheit des Individuums auf die Menschen der Kulturländer als Gesellschaft? Ich halte all’ das für unhaltbar und überflüssig. Die Gesellschaft tut schon heute vieles, nicht weil es das absolut Notwendige, sondern weil es das Bessere ist. Und in der sozialistischen Bewegung ist das Rechtsbewusstsein, das Streben nach noch gerechteren Zuständen, ein mindestens so wirkungsvoller und wichtiger Faktor, wie die materielle Not.“ (Vorwärts, 26. März)

Kann es etwas Trübseligeres geben, als derartige Ausfälle eines Mannes, der selbst zwei Jahrzehnte lang die materialistische Geschichtsauffassung vertreten? Noch 1890 polemisierte er gegen v. Schulze-Gävernitz, weil dieser behauptete, die Sozialdemokratie erkläre die wirtschaftlichen Ursachen als die ausschließliche Ursache der sozialen Umgestaltungen. „Herr v. Schulze,“ sagte Bernstein, „ist nicht nur ein dankbarer, er ist auch ein gelehriger Schüler des Herrn Brentano. Nachdem er wiederholt, was er bei den Theoretikern der Sozialdemokratie gelesen, ... schiebt er, allerdings vorsichtig, der Sozialdemokratie eine Verzerrung derselben Theorie ins Absurde unter, um seine Überlegenheit zu beweisen.“ (Neue Zeit, IX, 1, S. 660) Heute drücken ihn Brentano und Schulze-Gävernitz gerührt an die Brust, denn was sie an Verzerrung der sozialdemokratischen Theorie ins Absurde geleistet haben, verblasst gegenüber Bernsteins Identifizierung von historischer Notwendigkeit mit ökonomischem Zwange, gegenüber seiner Leugnung der Tatsache, dass Marx und Engels die Notwendigkeit des Sozialismus auf die wachsende Reife und Macht des Proletariats begründeten.

Bernstein ist ein Helfer erstanden in Dr. Woltmann. Doch deckt sich dessen Theorie nicht ganz mit der Bernsteins. Was dieser als Marx-Engelssche Theorie bezeichnet, das ist, wie Dr. Woltmann herausgefunden zu haben glaubt, die Engelssche Theorie. Nach Woltmann begründete Marx immer den Sozialismus auf die wachsende Empörung, Reife und Macht des Proletariats, Engels dagegen – und ebenso Cunow und meine Wenigkeit – behauptet die Selbstvernichtung des Kapitalismus.

„Engels nämlich hat besonders die Anschauung vertreten, dass die Produktivkräfte sich so enorm entwickeln, dass sie kraft immanenter mechanischer Gewalt die Fesseln der Produktionsweise sprengen und dadurch eine allgemeine Krisis heraufbeschwören. Engels verstand aber unter den Produktivkräften nur die technisch-ökonomischen Produktivkräfte, besonders die industrielle Maschinenkraft. Indem diese zügellos und schrankenlos sich durchsetzenden Gewalten der ökonomischen Kräfte gegen die Produktionsweise, d. h. Eigentumsverhältnisse rebellieren, ergreift in dieser Krisis das Proletariat die Staatsgewalt und setzt die Produktivkräfte zu allgemein gesellschaftlichen Zwecken in Bewegung. Das ist die landläufige Vorstellung.“

In welchem Lande sie landläufig ist, weiß ich nicht; gewiss ist, dass sie nie die von Engels war, ebensowenig wie die Cunows oder meine eigene. Dass Engels ein Menschenalter lang mit Marx zusammengearbeitet haben sollte, ohne dass sich beide des fundamentalen Unterschieds ihrer Anschauungen bewusst wurden, dass erst Dr. Woltmann kommen musste, um ihn herauszufinden, ist von vornherein etwas unwahrscheinlich. Engels war aber auch vielzu wenig Mystiker, um in der Rebellion der technischen Produktivkräfte gegen die Produktionsweise etwas anderes zu sehen, als ein Bild. Die rebellierende Wirkung der technischen Produktivkräfte kann offenbar nur darin bestehen, dass sie die Menschen rebellisch machen. Wenn Engels es nicht immer für notwendig fand, das ausdrücklich zu betonen, so wird damit doch noch nicht bewiesen, dass er der gegenteiligen Ansicht gewesen wäre.

Was Dr. Woltmann als die Engelssche Anschauung bezeichnet, ist offenbar verwandt, wenn nicht identisch mit dem, was Bernstein unter historischer Notwendigkeit versteht. Da stoßen wir auf die sonderbare Erscheinung, dass Bernstein aus Marxschen Aussprüchen den angeblichen Fatalismus der primitiven materialistischen Geschichtsauffassung, die Auffassung der Menschen als bloßer Automaten der ökonomischen Mächte heraustüftelt, und aus Engelsschen Aussprüchen die Anerkennung des Einflusses der ethischen Faktoren in der Geschichte herausfindet, während Dr. Woltmann gerade die gegenteilige Haltung von Marx und Engels behauptet.

So lange wir keine besseren Beweise haben, als derartige problematische Tüfteleien, die sich leicht in ihr Gegenteil verwandeln lassen, werden wir wohl daran tun, anzunehmen, dass die beiden Männer, die das Kommunistische Manifest abfassten, sich in allen wesentlichen Punkten darüber klar und einig waren, was sie wollten. Sicher war jeder von ihnen eine selbständige Individualität, welche die gemeinsame Theorie eigenartig auffasste und entwickelte. Für den Geschichtsschreiber der Theorie kommen diese Unterschiede ebenso wohl in Betracht wie bei jedem der beiden die Entwicklung ihrer Anschauungen im Laufe der Zeit. Aber diese Differenzen sind viel zu geringfügig, um etwas für unsere praktischen Zwecke bedeuten zu können.

Was Bernstein als meine spezielle Lesart der Marx-Engelsschen Theorie und Woltmann als speziell Marxsche, von der Engelsschen verschiedene Theorie hinstellt, ist die Theorie, die im Kommunistischen Manifest zuerst systematisch dargelegt, später in den einzelnen Schriften unserer Meister weiter entwickelt, begründet, in einzelnen Punkten rektifiziert wurde.

Diese Theorie sieht in der kapitalistischen Produktionsweise den Faktor, der das Proletariat in den Klassenkampf gegen die Kapitalistenklasse treibt, der es immer mehr zunehmen lässt an Zahl, Geschlossenheit, Intelligenz, Selbstbewusstsein, politischer Reife, der seine ökonomische Bedeutung immer mehr steigert und seine Organisation als politische Partei sowie deren Sieg unvermeidlich macht, ebenso unvermeidlich aber auch das Erstehen der sozialistischen Produktion als Konsequenz dieses Sieges.

Das ist die Theorie, um deren Bekräftigung und Kritik es sich bei einer Untersuchung über die Aussichten der Sozialdemokratie handelt, sie ist es, die den Programmen der sozialdemokratischen Parteien zu Grunde liegt, sie haben wir auch bei den folgenden Ausführungen im Auge zu behalten und nicht die lächerliche Zusammenbruchstheorie, die Bernstein uns in die Schuhe schiebt.

Es sind drei Einwände, die Bernstein gegen die Marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise zu erheben hat:

  1. Die Zahl der Besitzenden nimmt nicht ab, sondern zu.
     
  2. Der Kleinbetrieb geht nicht zurück.
     
  3. Die Wahrscheinlichkeit umfassender und verheerender Krisen wird immer geringer.

Von diesen drei Einwänden gehört der von Bernstein an zweiter Stelle behandelte offenbar an die erste Stelle. Ist die Marxsche Lehre von der Konzentration des Kapitals falsch, dann geben wir die Zunahme der Besitzenden ohne weiteres zu; ist jene richtig, dann muss uns erst gezeigt werden, wieso es kommt, dass trotzdem die Zahl der Besitzenden wächst. Die Entwicklung der Produktionsweise ist das grundlegende, die Gestaltung der Besitzverhältnisse das an der Oberfläche liegende, aus dem ersteren hervorwachsende Faktum. Es ist bezeichnend für die Bernsteinsche Methode, dass er über die oberflächliche Erscheinung urteilt, ehe er ihre Grundlage untersucht.

Wir wollen uns zunächst mit der letzteren beschäftigen.
 

b) Großbetrieb und Kleinbetrieb

Nach der Marxschen Lehre führt die ökonomische Entwicklung in der modernen Gesellschaft zum Untergang des selbstwirtschaftenden Arbeiters und zu seiner Verwandlung in einen Lohnarbeiter, der von dem Besitzer der Produktionsmittel, dem Kapitalisten, ausgebeutet wird.

„Das selbst erarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des isolierten, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privateigentum wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, welches auf Ausbeutung fremder, aber formell freier Arbeit beruht. Sobald dieser Umwandlungsprozess nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eigenen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und anderer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter ausbeutende Kapitalist. Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Konzentration der Kapitalien. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Konzentration oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewusste technologische Anwendung der Wissenschaft. die planmäßige gemeinsame Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, und die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als gemeinsame Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert“ (Kapital, 1, 2. Aufl. S. 792, 793).

Dies die klassische Form der marxistischen „Fresslegende“, die Bernstein zu widerlegen unternommen. Es ist selbstverständlich, dass eine derartige lapidare Schilderung eines durch Hunderte von Jahren sich hindurchziehenden Entwicklungsprozesses cum grano salis aufzufassen ist, namentlich dort, wo sie sich bildlich ausdrückt. Die Sprengung der kapitalistischen Hülle, das Schlagen der Stunde des kapitalistischen Privateigentums, die Expropriation der Expropriateure sind als historische Prozesse aufzufassen, deren Kommen unvermeidlich, deren Formen und deren Schnelligkeit aber nicht vorauszusehen sind.

Die Richtigkeit der Marxschen Theorie hängt, das wollen wir gleich feststellen, weder von der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit von Katastrophen, noch von der größeren oder geringeren Raschheit der Entwicklung ab, sondern nur von der Richtung, welche diese einschlägt. Wenn und wo Marxisten politische oder soziale Katastrophen erwarteten, war das nicht eine notwendige Folge ihrer Theorie, sondern eine Folgerung aus bestimmten politischen und sozialen Situationen. Wenn die „Fresslegende“ identisch sein sollte mit der Behauptung, eine plötzliche und allseitige Expropriation sämtlicher Kapitalisten sei unvermeidlich, dann gebe ich sie gern preis. Allerdings eine Garantie dafür, dass es sich unter allen Umständen nur um die allmähliche Ablösung durch Organisation handeln wird, kann ich mit bestem Willen nicht übernehmen.

Viel wichtiger ist die Frage, ob die Konzentration des Kapitals tatsächlich vor sich geht, oder nicht.

Es ist nicht deutlich zu erkennen, wie Bernstein darüber denkt. Auf die Frage, ob es richtig sei, dass die Konzentration mit allen ihren Begleiterscheinungen in der von Marx ausgeführten Form vor sich gehe, erwidert er:

„Ja und nein. Es ist richtig vor allem in der Tendenz. Die geschilderten Kräfte sind da und wirken in der angegebenen Richtung. Wenn das Bild nicht der Wirklichkeit entspricht, so nicht, weil Falsches gesagt wird, sondern weil das Gesagte unvollständig ist. Faktoren, die auf die geschilderten Gegensätze einschränkend wirken, werden bei Marx entweder gänzlich vernachlässigt oder zwar bei Gelegenheit behandelt, aber später, bei der Zusammenfassung und Gegenüberstellung der festgestellten Tatsachen fallen gelassen, so dass die soziale Wirkung der Antagonismen viel stärker und unmittelbarer erscheint, als sie in Wirklichkeit ist.“ (S. 47)

Das kann zweierlei bedeuten. Es ist selbstverständlich, dass die Theorie von allen störenden Erscheinungen abstrahieren muss, soll sie die den Erscheinungen zu Grunde liegenden Gesetze erforschen können. Wer das vergisst und von der Theorie verlangt, sie solle unter allen Umständen mit den an der Oberfläche liegenden Erscheinungen stimmen, der wird stets finden, sie laute zu apodiktisch, lasse die Dinge schärfer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Wer aber, um das zu bessern, eine Theorie zu schaffen sucht, die alle Elemente der oberflächlichen Wirklichkeit enthält, wird stets von der Fülle der Erscheinungen erdrückt werden, den Faden verlieren und vor konfusem einerseits-anderseits nie zu einer klaren Einsicht gelangen.

Ich habe schon erwähnt, dass die Marxsche Darstellung cum grano salis zu verstehen ist; wollte Bernstein mit seinen eben zitierten Bemerkungen nicht mehr sagen, dann ließe sich nichts dagegen einwenden, als dass sie selbstverständlich seien, für jede Theorie gelten.

Aber wahrscheinlich ist Bernsteins Anschauung eine andere. Er nimmt an, dass die Marxsche Theorie nicht nur oberflächliche Störungen, sondern grundlegende Tendenzen übersieht, welche die von ihr gezeichneten Tendenzen in ihren Wirkungen mehr oder weniger aufheben. In der gesellschaftlichen Entwicklung setzen sich also die von Marx gezeichneten Tendenzen nicht immer wieder, trotz allen Gegenwirkungen, sieghaft durch. Dabei bleibt es aber immer noch unklar, ob Bernstein diesen Gegenwirkungen bloß einen hemmenden oder einen richtung-ändernden Einfluss zuschreibt.

Bernstein erklärt, bei Marx erschienen die sozialen Gegensätze schroffer, als sie in Wirklichkeit sind. Aber es handelt sich bei seiner Theorie nicht darum, wie groß die sozialen Gegensätze sind – um das zu erkennen brauchen wir keine Theorie. Diese soll uns erkennen lassen, welche Entwicklung der sozialen Gegensätze wir zu erwarten haben, ob sie sich verschärfen oder mildern.

Wenn man aber die Frage so stellt, dann kommt man mit dem Hinweis auf Marxsche Übertreibungen und Schroffheiten nicht aus. Wenn ich frage, ob ein bestimmtes Schiff nach Osten oder nach Westen fährt, hilft’s mir sehr wenig, wenn ich die Antwort bekomme: die Behauptung, dass das Schiff nach Osten fährt, ist eine Übertreibung. Manche Anzeichen weisen darauf hin, dass es nach Westen fährt.

Solche Antworten erhalten wir aber bei Bernstein. Auf S. 47 nimmt er an, dass die Unternehmungen in der kapitalistischen Produktionsweise sich konzentrieren, wie Marx auseinandersetzt. Aber, sagt er, die Vermögen konzentrieren sich nicht.

„In der Sozialdemokratie herrscht die Vorstellung vor oder drängt sie sich immer wieder dem Geiste auf, dass der Konzentration der industriellen Unternehmungen eine Konzentration der Vermögen parallel läuft. Das ist aber keineswegs der Fall.“

Hier wird die Konzentration der Unternehmungen als ein wirklicher Vorgang der kapitalistischen Produktionsweise anerkannt. So spricht Bernstein am Beginn seiner Untersuchung über die Konzentration. An deren Ende aber sagt er:

„Mögen also auch die Tabellen der Einkommenstatistik der vorgeschrittenen Industrieländer zum Teil die Beweglichkeit und damit zugleich die Flüchtigkeit und Unsicherheit des Kapitals in der modernen Wirtschaft registrieren, mögen auch die da verzeichneten Einkommen oder Vermögen in wachsendem Verhältnis papierene Größen sein, die ein kräftig blasender Wind in der Tat leicht hinwegwehen könnte, so stehen diese Einkommensreihen doch in keinem grundsätzlichen Gegensatz zu der Rangordnung der Wirtschaftseinheiten in Industrie, Handel und Landwirtschaft. Einkommensskala und Betriebsskala zeigen in ihrer Gliederung einen ausgeprägten Parallelismus, besonders soweit die Mittelglieder in Betracht kommen.“ (S. 65)

Er ging also davon aus, einen Parallelismus in der Entwicklung der Betriebsskala mit der der Einkommensskala (die er der Vermögensskala gleichsetzt) zu leugnen, und endigt damit, ihn anzuerkennen. Welches ist seine wirkliche Meinung? Die auf S. 47 oder die auf S. 65? Geht die Konzentration der Unternehmungen vor sich oder nicht? Es ist offenbar marxistisch übertriebene Schroffheit, darauf eine andere Antwort zu verlangen als „Ja und Nein“.

Es ist nicht leicht, eine Ansicht zu prüfen, die so wenig feststeht, wie die Bernsteinsche in diesem Falle. Aber wir haben keine Wahl. Was immer Bernstein meinen mag, seine Sätze werden von unseren Gegnern gedeutet und ausgebeutet als Bankrott nicht bloß des Marxismus, sondern des Sozialismus überhaupt, und er selbst macht keine Miene, dagegen zu protestieren. Eine Prüfung der Tatsachen, auf die Bernstein sich stützt, ist also unumgänglich notwendig.

Seine Hauptargumente entnimmt er der deutschen Berufszählung. Daneben bringt er freilich noch zahlreiche Ziffern aus England, Frankreich, Österreich, der Schweiz, den Vereinigten Staaten vor, aber diese Ziffern sagen uns nicht das mindeste über die Richtung der Entwicklung, weil es nur Ziffern je einer Zählung, nicht mehrerer aufeinanderfolgender Zählungen sind. Sie würden nur dann etwas beweisen, wenn die materialistische Geschichtsauffassung wirklich jenen mechanischen Charakter hätte, den ihre Gegner ihr so gern zuschreiben. Wenn diese Auffassung wirklich ein „Hineinwachsen“ in den Sozialismus in dem Sinne annähme, als werde schon durch die kapitalistische Entwicklung allein vermöge der Konzentration des Kapitals der gesamte Kleinbetrieb aufgesogen und der gesamte Organismus der sozialistischen Produktion hergestellt werden, so dass das Proletariat schließlich nichts weiter zu tun hat, als die politische Herrschaft zu erobern und sich in das vom Kapitalismus hergerichtete Bett zu legen – wenn das die marxistische Auffassung der Entwicklung zum Sozialismus wäre, dann käme allerdings auch den absoluten, isolierten Ziffern, die Bernstein vorbringt, einige Bedeutung zu. Denn diese Ziffern bewiesen, dass der Kleinbetrieb fern von völligem Verschwinden sei, also das Reich des Sozialismus noch unabsehbar weit abliege. Aber wir haben schon mehrfach erklärt, dass dies nicht die marxistische Lehre bilde. Da es aber zu den Verdiensten der Bernsteinschen Broschüre gehört, jener weitverbreiteten falschen Auffassung des Marxismus neue Stützen verliehen zu haben, so sei dies hier nochmals ausdrücklich konstatiert.

Die Aufhebung des Alleinbetriebs, der ehedem die herrschende Betriebsform bildete, schafft Proletarier, Lohnarbeiter. Je mehr sich auf den Ruinen des Handwerks die kapitalistische Produktion entwickelt, desto geringer für den Lohnarbeiter die Aussicht, auf der Grundlage des Privateigentums als isolierter Produzent von kapitalistischer Ausbeutung und Knechtung unabhängig zu werden, desto stärker sein Verlangen nach Aufhebung des Privateigentums. So entstehen naturnotwendig zugleich mit dem Proletariat sozialistische Tendenzen bei den Proletariern selbst wie bei jenen, die sich auf den Standpunkt des Proletariats stellen, seine Erhebung zu Selbständigkeit, also zu Freiheit und Gleichheit bewirken wollen.

Das erklärt aber bloß das Aufkommen der sozialistischen Bestrebungen, sagt aber noch nichts über ihre Aussichten. Es ist die Konzentration des Kapitals, welche diese immer mehr verbessert. Je mehr sie fortschreitet, desto mehr vergrößert und schult sie das Proletariat, wie wir gesehen, desto mehr entkräftet, entmutigt, verringert sie aber auch die Masse derjenigen, die an dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ein Interesse haben, die selbständigen Unternehmer, desto mehr schwächt sie deren Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Eigentums, desto mehr schafft sie aber auch die Vorbedingungen sozialistischer Produktion.

Der handwerksmäßige und kleinbäuerliche Alleinbetrieb setzt zu seiner vollkommenen Entwicklung das Privateigentum an den Produktionsmitteln voraus. Die Erfahrung zeigt, dass, wo immer von Sozialisten kommunistische Kolonien auf Grundlage handwerksmäßiger und kleinbäuerlicher Produktion geschaffen wurden, der Drang nach dem Privateigentum an den Produktionsmitteln früher oder später den sozialistischen Enthusiasmus überwand, der die Kolonie geschaffen hatte, wenn nicht äußerliche Verhältnisse den kommunistischen Zusammenhang begünstigten – z. B. das Leben der Kolonisten inmitten einer feindseligen Bevölkerung verschiedener Sprache und Religion.

Ganz anders muss sich die Suche dort gestalten, wo Einzelproduktion nicht die Regel, sondern die Ausnahme, wo die ökonomischen Bedingungen die gesellschaftliche Produktion immer allgemeiner und vorteilhafter machen und das Fühlen und Denken der arbeitenden Klassen immer mehr im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenarbeitens beeinflussen. Da muss eine sozialistische Organisation auch möglich werden ohne jenen übermächtigen Enthusiasmus, der stets nur auserlesenen Charakteren beschieden war und der auf die Dauer gegen die nüchterne Alltäglichkeit nicht aufkommt.

Das sind die Elemente, aus denen nach marxistischer Auffassung der Sozialismus entspringen soll. Die Konzentration des Kapitals stellt die historische Aufgabe: die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie produziert die Kräfte zur Lösung der Aufgabe, die Proletarier, und sie schafft die Mittel zur Lösung: die gesellschaftliche Produktion, aber sie bringt nichts selbst ohne weiteres die Lösung der Aufgabe. Diese kann nur aus dem Bewusstsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen.

Wenn dem aber so ist, dann hat die Anführung einzelner Zahlen, die zeigen, dass es noch eine erkleckliche Anzahl Kleinbetriebe gibt, gar keine Bedeutung für unsere Untersuchung. Über die Richtung, in der die Entwicklung geht, sagen sie uns gar nichts, der Zeitpunkt der Reife unserer Gesellschaft für den Sozialismus ist aber aus solchen Zahlen nicht zu erkennen. Der hängt von unzähligen Imponderabilien ab, die niemand zu bemessen vermag, deren ökonomische Motive hinterdrein erkannt, deren Kräfte jedoch nicht von vornherein statistisch erfasst werden können. So weit sind wir noch nicht, die Klassenkämpfe durch statistische Berechnungen ersetzen zu können. Wir müssen kämpfen; wie nah oder fern der Sieg und die Möglichkeit ersprießlicher Ausnutzung des Sieges, darüber kann uns keine Statistik der Welt Auskunft geben. Die Aussicht auf Sieg hängt allerdings davon ab, ob die Konzentration des Kapitals vor sich geht, aber es wäre kindisch, festsetzen zu wollen, welche Höhe sie erreicht haben müsse, ehe der Sieg möglich wird.

Bernstein freilich meint:

„Es ist, soweit die zentralisierte Betriebsform die Vorbedingung für die Sozialisierung von Produktion und Zustellung bildet, diese selbst in den vorgeschrittensten Ländern Europas erst ein partielles Faktum, so dass, wenn in Deutschland der Staat in einem nahen Zeitpunkt alle Unternehmungen, sage von zwanzig Personen und aufwärts, sei es behufs völligen Selbstbetriebs oder teilweiser Verpachtung expropriieren wollte, in Handel und Industrie noch Hunderttausende von Unternehmungen mit über vier Millionen Arbeitern übrig blieben, die privatwirtschaftlich weiter zu betreiben wären.“ Von der Landwirtschaft gar nicht zu reden! „Von der Größe der Aufgabe aber, die dem Staate oder den Staaten mit der Übernahme jener vorerwähnten Betriebe entstehen würde, wird man sich eine Vorstellung machen, wenn man berücksichtigt, dass es sich in Industrie und Handel um mehrere hunderttausend Betriebe mit fünf bis sechs Millionen Angestellter ... handelt.“ Und er schließt daraus: „Halten wir die Tatsache fest, dass für die Sozialisierung von Produktion und Distribution die materielle Vorbedingung, vorgeschrittene Zentralisation der Betriebe, erst zum Teil gegeben ist“ (S. 87).

Im ersten Kapitel seiner Schrift bekämpft er die Auffassung, dass die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit in letzter Linie auf die Entwicklung der Produktion zurückzuführen sei, er erklärt dann den Nachweis der „immanenten ökonomischen Notwendigkeit des Sozialismus“ für unnötig und unmöglich, und hier versetzt er diesen in die direkteste, sklavischste Abhängigkeit von den ökonomischen Bedingungen! Hier vertritt er selbst plötzlich den Standpunkt, nicht eher, als bis die Anwendung der Produktionsmittel auf allen Gebieten eine gesellschaftliche geworden sei, sei es möglich, der Entwicklung des Eigentums die Richtung zum Sozialismus zu geben. Denn darum, um eine Richtungsänderung der Eigentumsentwicklung handelt es sich und nicht etwa darum, „in einer längeren Nachtsitzung“, wie Viktor Adler mit Recht spottet, sämtliche Betriebe mit mehr als zwanzig Personen auf einmal zu verstaatlichen, wie man nach Bernsteins warnendem Hinweis annehmen könnte. Wobei nebenbei bemerkt sei, dass die „mehreren hunderttausend“ Betriebe mit mehr als zwanzig Personen in Industrie und Handel, die Bernstein zu unserem Entsetzen aufmarschieren lässt, sich bei näherem Zusehen auf wohlgezählte 48.956 reduzieren. Unser Statistiker hat offenbar in seinem Eifer um eine pessimistische Null zu viel gesehen.

Auf statistische Untersuchungen der Frage, wie weit die Welt noch vom Zukunftsstaat entfernt ist, dürfen wir wohl verzichten. Dann bleiben aber von dem ganzen Zahlenmaterial, das Bernstein vorführt, nur die Ziffern der deutschen Berufs- und Betriebszählungen übrig. Deren Sprache ist allerdings eine sehr vernehmliche, sie lassen uns zwar nicht erkennen, wie weit wir noch vom Sozialismus entfernt sind, wohl aber, ob wir uns in der Richtung bewegen, die in der von Marx prognostizierten Weise zum Sozialismus führt.

Wollten wir bloß Bernstein widerlegen, so könnten wir uns die Arbeit sehr erleichtern. Wir brauchten bloß ihn selbst sprechen zu lassen. Noch vor wenigen Jahren (November 1896) veröffentlichte er einen Artikel über „den gegenwärtigen Stand der industriellen Entwicklung Deutschlands“ in jener Artikelserie über Probleme des Sozialismus, die ihm schließlich so verhängnisvoll werden und damit enden sollte, dass die Art seines Sozialismus selbst problematisch wurde. (Neue Zeit, XV, 1, S. 303 ff.) Da heißt es:

„Dass in der Industrie die Entwicklung vom kleinen zum großen, vom handwerksmäßigen zum fabrikmäßigen, vom großen zum Riesenfabriksbetrieb in Deutschland heute den Ton angibt, leugnet kein Sachkenner. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Reichsgewerbe- und Berufsstatistik stellen die Tatsache außer Zweifel. Verglichen mit dem zuletzt vorhergegangenen Zählungsjahr 1882 weist, bei einer Bevölkerungszunahme von 14,48 Prozent, die Gruppe B der gezählten Berufsarten (Industrie, Bergbau, Hütten- und Bauwesen) im Jahre 1895 folgende Veränderungen in den Jahren der Erwerbstätigen auf:

 

1882

 

1895

 

Zunahme (+)
oder Abnahme (−)

Selbstständige Geschäftsleiter

1.861.502

1.774.481

−87.021

 

−4,68%

Selbstständige Hausindustrielle

339.644

287.389

−52.255

−15,39%

Technisches Aufsichts-, Kaufmännisches Personal

99.076

263.747

+164.671

+166,21%

Gesellen, Lehrlinge etc.

4.096.243

5.955.613

+1.859.370

+45,39%

Zusammen

6.396.465

8.281.230

+1.884.765

+ 29,47%

„Die Zahlen sprechen für sich selbst. Kamen im Jahre 1882 auf je einen Erwerbstätigen zwei Angestellte, so war im Jahre 1895 das Verhältnis 1 : 3, ein Umschwung, der auf den ersten Blick sich als bedeutend ankündigt.

„Dennoch verbergen diese Zahlen dem Unkundigen ihre ganze Bedeutung. Ein Verhältnis von durchschnittlich drei Angestellten auf je einen selbständigen Gewerbetreibenden für das ganze Land lässt noch der Auffassung Spielraum, dass die Großindustrie selbst heute noch bei Weitem von der Kleinindustrie (Handwerk und kleine Fabrik) in Schatten gestellt wird, dass sie wohl eine erhebliche Ausdehnung erlangt haben mag, aber immer nicht so viel, um als die Herrscherin angesehen zu werden. Wenn in dreizehn Jahren, trotz der Riesenfortschritte, welche die Technik in dieser Zeit gemacht, die Zahl der Selbständigen im Gewerbe alles in allem um 14 0276 oder noch nicht ganz sechs Prozent abgenommen hat, dann möchte es scheinen, als ob die völlige Zurückdrängung des Handwerks und der kleinen Industrie noch in sehr weitem Felde stehe, als ob den Ersteren auch außer der künstlerischen Arbeit noch sehr bedeutende Domänen vorbehalten seien.“

Was Bernstein hier als Schein bezeichnet, der den Unkundigen zu falschen Schlüssen verleitet, das ist binnen zwei Jahren für ihn zur Wirklichkeit geworden, über die bloß Toren sich täuschen können, die blind auf die Worte des Meisters schwören.

1896 zählte Bernstein noch selbst zu diesen Toren, und so besaß er ein scharfes Auge für die Wirklichkeit, die sich unter den Ziffern birgt. Er fuhr fort:

„Indes sind diese groben Zahlen auch weit davon entfernt, das wirkliche Verhältnis von Groß- und Kleinindustrie zum Ausdruck zu bringen. Sie zeigen nur die äußere Gruppierung des im engeren Sinne industriell tätigen Bruchteils der Bevölkerung, schweigen dagegen hinsichtlich aller Tatsachen, welche für die Ermittlung der inneren, Umfang, Charakter etc. der Produktion betreffenden Beziehungen erfordert sind. Um uns über diese zu unterrichten, brauchen wir nicht nur die noch zu erwartenden Angaben der Berufsstatistik darüber, wie es mit der Verteilung nach Betriebsgruppen in den einzelnen Produktionszweigen steht, sondern auch solche über die Stellung der einzelnen Betriebe in ihrer Produktionsgruppe, über das Verhältnis der Produktionsleistungen und ähnliche Einzelheiten, über welche die Berufsstatistik selbst überhaupt keine Auskunft gibt.“

Er versucht dann „den wirklichen Stand der Dinge“ „annähernd abzuschützen“ an der Hand des Sinzheimerschen Buches „über die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmäßigen Großbetriebs in Deutschland“, und kommt zu dem Resultat:

„Berücksichtigt man die bedeutenden Verschiebungen in der Verteilung der Arbeitstätigen nach Betriebsklassen, wie sie die neueste Gewerbestatistik aufzeigt, hält man dazu die unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, dass die Produktivkraft der Arbeit in den großen Betrieben am stärksten gestiegen ist, so wird man die Folgerung nicht zu kühn finden, dass, wenn 1882 gering gerechnet zwischen 47 und 54 Prozent der Gesamtproduktion in Industrie und Gewerbe auf die fabrikmäßige Großindustrie entfiel, der Anteil dieser heute nicht geringer als zwischen 60 und 70 Prozent der Gesamtproduktion sein kann. Zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel der gewerblichen Produktion Deutschlands gehören der fabrikmüßigen Großproduktion, dem kollektivistischen Großbetrieb. Die Tatsache wird dem Auge durch tausend Umstände verdeckt, vor allem dadurch, dass ein sehr großer Teil dieser Produkte der großen Industrie Halbfabrikate sind, und ein anderer uns durch Personen vermittelt wird, die nur scheinbar an seiner Herstellung beteiligt, in Wirklichkeit in Bezug auf sie nichts als Händler sind. Aber an ihrer Richtigkeit scheint kein Zweifel möglich. Ob freilich die kollektivistischen Betriebe, die diesen großen Anteil an der nationalen Produktion tragen, auch schon in ihrer Mehrheit reif sind. der Privatwirtschaft entzogen zu werden, ist eine andere Frage.“

Diese letztere Frage kann nur der Erfolg, keine statistische Untersuchung entscheiden. Von ihr können wir also absehen. Aber was wir festhalten wollen, ist die Tatsache, dass Bernstein selbst vor kurzem noch zu dem Ergebnis kam, die fabrikmäßige Großindustrie, die 1882 erst die Hälfte der nationalen Produktion lieferte, erzeugte dreizehn Jahre später bereits zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel derselben. Wenn man das nicht eine rapide Konzentration des Kapitals, eine mit Riesenschritten vorangehende Entwicklung zu sozialistischer oder kollektivistischer Produktion bezeichnen will, dann legt man an historische Zeiträume einen sonderbaren Maßstab an.

Weniger deutlich als durch Vergleichung der Produktenmengen kommt dies Fortschreiten des Großbetriebs zum Ausdruck durch Vergleichung der Zahl der Betriebe in den einzelnen Betriebsgrößen und der von ihnen beschäftigten Arbeiter. Aber auch da ist der Fortschritt des Großbetriebs unverkennbar. Man zählte im Gewerbe (Industrie, Handel, Verkehr, Gärtnerei, Fischerei etc.):

 

1882

 

1895

 

Zunahme
in Prozenten

Betriebe mit

1–5 Personen

2.882.768

2.934.723

    1,8

 

6–10 Personen

       68.763

    113.547

  65,1

11–50 Personen

       43.952

       77.752

  76,9

51–200 Personen

         8.095

       15.624

  93,0

201–1000 Personen

         1.752

         3.076

  75,6

über 1000 Personen

            127

            225

100,8

Zusammen

3.005.457  

3.144.947  

    4,6

Während die Gesamtzunahme der Betriebe 4,6 Prozent betrug, vermehrten sich die Kleinbetriebe nur um 1,8 Prozent, die Riesenbetriebe um 100 Prozent. Die Zahl der ersteren nahm zwar noch absolut zu, relativ aber ab. Von je 100 Betrieben entfielen auf die einzelnen Größenklassen

 

1882

 

1895

Betriebe mit

1–5 Personen

95,9

93,3

 

6–10 Personen

  2,3

  3,6

11–50 Personen

  1,5

  2,5

51–200 Personen

  0,3

  0,5

201–1000 Personen

  0,0

  0,1

über 1000 Personen

  0,0

  0,0

Der Anteil der Kleinbetriebe an der Gesamtsumme der Betriebe ist also von fast 96 Prozent auf etwas über 93 zurückgegangen.

Freilich erscheint die Prozentzahl der Kleinbetriebe immer noch eine ungeheure. Aber das Bild ändert sich, wenn wir die beschäftigten Personen in Betracht ziehen. Man zählte Personen in den

 

1882

 

1895

 

Zunahme
in Prozenten

Betriebe mit

1–5 Personen

4.335.822

  4.770.669

  10,0

 

6–10 Personen

   500.097

     833.409

  66,6

11–50 Personen

   891.623

1.620.848

  81,8

51–200 Personen

   742.688

  1.439.776

  93,9

201–1000 Personen

   657.399

  1.155.836

  75,8

über 1000 Personen

   213.160

     448.731

110,5

Zusammen

7.340.789

10.269.269

  39,9

Die Gesamtzahl der im Gewerbe beschäftigten Personen wuchs um 40 Prozent, die der im Kleingewerbe beschäftigten, nur um 10 Prozent, die in den Riesenbetrieben beschäftigten um 110 Prozent. Auch hier also eine relative und zwar sehr bedeutende Abnahme der Kleinbetriebe.

Von je 100 beschäftigten Personen entfielen auf

 

1882

 

1895

Betriebe mit

1–5 Personen

59,0

46,5

 

6–10 Personen

  6,8

  8,1

11–50 Personen

12,2

15,8

51–200 Personen

10,1

14,0

201–1000 Personen

  9,0

11,2

über 1000 Personen

  2,9

  4,4

Die Kleinbetriebe, die 1882 noch fast zwei Drittel der gewerblichen Bevölkerung umfassten, enthielten 1895 weniger als die Hälfte derselben.

Aber diese Zahlen geben noch kein vollständiges Bild der sozialen Verschiebungen, die der relative Rückgang des Kleinbetriebs bewirkt. Die Frauen- und Kinderarbeit ist eine Erfindung des Großkapitals, sie wird aber heute am meisten ausgebeutet von den versinkenden Kleinbetrieben, die durch die Auspressung unreifer und widerstandsunfähiger Elemente sich über Wasser zu halten suchen.

Es ist leider nicht möglich, festzustellen, ob und wie die Frauenarbeit innerhalb der einzelnen Betriebsgrößen zugenommen hat, da die Zählung von 1895 in dieser Beziehung nach anderen Grundsätzen erfolgte, als die von 1882. Aber auch die absoluten Zahlen sprechen deutlich genug. Die Zahl der Lohnarbeiter im Gewerbe betrug 1895 6.871.504, darunter 5.247.897 männliche und 1.623.607 weibliche; 1882 dagegen zählte man im Ganzen 4.226.052, davon 3.433.689 männliche, 792 363 weibliche. Die Gesamtzahl wuchs um 62,6 Prozent, die der männlichen Arbeiter nur um 52,8 Prozent, die der weiblichen um 104,9 Prozent!

Innerhalb der einzelnen Größenklassen aber – es wurden nur die unten angegebenen unterschieden – zählte man Arbeiter 1895:

 

 

Männliche

 

Weibliche

 

Zusammen

Alleinbetriebe

1.125.125

66%

589.226

34%

1.714.351

Gehilfenbetriebe mit 1–5 Personen

1.354.598

68%

636.646

32%

1.991.244

Gehilfenbetriebe mit 6–20 Personen

   967.578

79%

256.428

21%

1.224.006

Gehilfenbetriebe mit über 20 Personen

2.925.721

80%

730.533

20%

3.656.254

Man sieht, wie sehr die Frauenarbeit bei den Kleinbetrieben überwiegt. So wird es auch erklärlich, dass wohl die in den Kleinbetrieben beschäftigten Personen im Ganzen 46,5 Prozent aller gewerblich beschäftigten Personen ausmachten, die in jenen beschäftigten männlichen Personen jedoch nur 43,4 Prozent der männlichen Arbeiter, also erheblich weniger.

Aber auch die Zahl der jugendlichen Arbeiter ist im Kleinbetrieb eine viel größere als im Großbetrieb. Leider ist auch hier eine Vergleichung von 1882 und 1895 unmöglich.

Von den 6.871.504 Arbeitern des Gewerbes (1895) waren nicht weniger als 603.150, 8,8 Prozent, jugendliche. Rechnet man, wie das Reichsstatistische Amt in seinem Bericht tut, die Ehefrauen der Betriebsinhaber von den Arbeitern ab, dann bleiben 6.474.727, davon 9,1 Prozent jugendliche. Innerhalb der einzelnen Größenklassen aber waren von je 100 Arbeitern jugendliche:

Betriebe mit 1–5 Personen

15,2

Betriebe mit 6–20 Personen

10,2

Betriebe mit über 20 Personen

  5,9

Die männlichen erwachsenen Arbeiter bilden also im Kleingewerbe einen viel kleineren Bruchteil der Arbeiterschaft, als in der Großindustrie. Das Verhältnis innerhalb der politisch und sozial ausschlaggebenden Elemente des Proletariats verschiebt sich demnach noch rascher zu Gunsten der großindustriellen Arbeiterschaft, als die „groben Ziffern“ der gesamten Arbeiterzahlen innerhalb der einzelnen Betriebsgrößen erkennen lassen.

Dass auch die Konzentration des Kapitals noch rascher fortschreitet, als diese groben Ziffern der Betriebsstatistik auf den ersten Blick annehmen lassen, zeigt sich, wenn man die einzelnen Gewerbszweige unterscheidet.

Vor allem muss man im Auge halten, dass die Konzentration des Kapitals nicht in allen Gewerbszweigen gleichmäßig vor sich geht. Der Großbetrieb ergreift ein Gebiet nach dem anderen, verdrängt den Kleinbetrieb auf dem einen Gebiet, ohne dass er damit alle kleinen Unternehmer desselben ins Proletariat schleudert. Aus der einen Tätigkeit vertrieben, suchen sie eine neue auf, werden etwa aus Erzeugern einer Ware ihre Verkäufer, werden aus Industriellen Zwischenhändler etc. Das Gebiet des Kleinbetriebs verengt sich auf diese Weise immer mehr, ohne dass die Zahl der Kleinbetriebe im Ganzen abzunehmen braucht. Der Fortschritt des Großbetriebs hier, äußert sich durch Zunahme der Kleinbetriebe dort, durch Überfüllung der Branche; gehen die Kleinen hier durch die Konkurrenz der Großen unter, so verkommen sie dort durch das Übermaß der Konkurrenz, die sie untereinander machen; sie geraten dadurch in steigende Abhängigkeit von Kapital, werden zu steigender Spezialisierung der Arbeiten gezwungen und bereiten so den Boden vor für den Großbetrieb, der früher oder später auch auf diesem Gebiete seinen Einzug hält.

Vor allem finden wir die große Tatsache, dass die Konzentration der Betriebe in der Industrie weit mehr vorgeschritten ist, als im Handel und Verkehr, wenn man die Zahl der beschäftigten Arbeiter als Maßstab anlegt – allerdings ein nicht ganz einwandfreier Maßstab, denn im Handel kann ein Unternehmen mit 10-20 Personen bereits ein Großbetrieb sein, während in der Industrie solche Unternehmungen in der Regel noch an der Schwelle des Handwerks stehen. Aber wir haben andere Ziffern nicht zur Verfügung.

Von je 100 beschäftigten Personen waren 1895:

 

In Betrieben mit

1–5
Personen

 

6–50
Personen

 

Über 50
Personen

Industrie, Bergbau, Baugewerbe

39,9

23,8

26,3

Handel, Verkehr, Gastwirtschaft

69,7

24,3

  6,0

Nur für die Industrie ist die Rubrizierung der Betriebe mit 1-5 Personen als Kleinbetriebe, der mit 6-50 als Mittelbetriebe zulässig; im Handel kann ein Betrieb mit 5 Personen schon einen ansehnlichen Mittelbetrieb, einer mit 50 Personen wird stets einen ausgedehnten Großbetrieb darstellen.

In der Industrie aber umfassen die Kleinbetriebe nur noch 40 Prozent der beschäftigten Personen. 1882 beschäftigten sie dagegen noch 55 Prozent. Der Rückgang des Kleinbetriebs geht in der Industrie weit rascher vor sich als im Handel. Es betrug die Zunahme (+) resp. Abnahme (−) der beschäftigten Personen von 1882-1895:

 

In Betrieben mit

1–5
Personen

 

6–50
Personen

 

über 50
Personen

Industrie etc.

  − 2,4%

+ 71,5%

  + 87,2%

Handel etc.

+ 48,9%

+ 94,1%

+ 137,8%

In der Industrie finden wir also eine absolute Abnahme der Personenzahl der kleinen Betriebe. Noch größer ist die Abnahme der Betriebe selbst. Sie betrug nicht weniger als 8,6 Prozent. Während die Kleinbetriebe im gesamten Gewerbe um 51 955 zunahmen, verminderten sie sich in der Industrie um 186.297.

Gehen wir noch weiter ins Detail. Am meisten entwickelt ist der Großbetrieb, am meisten zurückgedrängt der Kleinbetrieb in folgenden Industriezweigen, in denen von je 100 beschäftigten Personen entfielen:

Industriezweig

Auf Betriebe mit

1–5
Personen

 

6–50
Personen

 

Über 50
Personen

Bergbau

  0,7

  4,0

95,3

Chemische Industrie

15,7

22,6

61,7

Textilindustrie

26,0

14,8

59,2

Industrie der Maschinen und Instrumente

22,1

18,9

59,0

Papierindustrie

17,7

31,5

50,8

Industrie der Steine und Erden

12,8

42,5

44,7

Industrie der Leuchtstoffe

15,2

45,1

39,7

Dagegen sind noch Domänen des Kleinbetriebs folgende Gewerbszweige, in denen von je 100 beschäftigten Personen entfielen:

Industriezweig

Auf Betriebe mit

1–5
Personen

 

6–50
Personen

 

Über 50
Personen

Tierzucht und Fischerei

88,8

  7,9

  3,3

Bekleidungs- u. Reinigungsgewerbe

80,4

13,2

  6,4

Beherbergungs- und Erquickungsgewerbe

74,6

24,1

  1,3

Handelsgewerbe

70,8

25,2

  4,0

Kunst- und Handelsgärtnerei

60,2

31,5

  8,3

Künstlerische Gewerbe

58,4

33,8

  7,8

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe

57,8

29,6

12,6

Aber auch hier beginnt bereits die Konzentration des Kapitals sich geltend zu machen. Es betrug von 1882-1895 die Zu- oder Abnahme der beschäftigten Personen:

Industriezweig

In Betrieben mit

1–5
Personen

 

6–50
Personen

 

Über 50
Personen

Tierzucht und Fischerei

+ 3,7%

  + 35,1%

+ 700,9%

Bekleidungs- etc. Gewerbe

  − 0,6%

  + 81,5%

+ 162,0%

Beherbergungsgewerbe

+ 70,2%

+ 138,7%

+ 429,7%

Handelsgewerbe

+ 47,4%

  + 89,5%

+ 177,6%

Kunst- und Handelsgärtnerei

+ 65,0%

+ 141,6%

  + 40,8%

Künstlerische Gewerbe

  + 4,2%

  + 66.9%

+ 576,1%

Industrie der Holz- etc. Stoffe

  − 3,1%

+ 118,6%

+ 138,7%

Gewerbe überhaupt

+ 10,0%

  +76,3%

  + 86,2%

Also überall, außer in der Kunstgärtnerei, schreitet der Großbetrieb weit rascher vor als der Kleinbetrieb. Wenn wir von der an Personenzahl geringfügigen Gärtnerei absehen, bleiben von den Gewerben, in denen der Kleinbetrieb sich noch breit macht, nur zwei, in denen seine Personenzahl rascher zunimmt, als die Bevölkerung: das Geschäft der Bierwirte und das der Kleinkrämer. „Beim Handelsgewerbe“, sagt die Publikation des Reichsstatistischen Amtes über die Hauptergebnisse der gewerblichen Betriebszählung 1895, „sind es die zahlreichen Krämer, die Händler mit Kolonial-, Ess- und Trinkbaren, welche dem Kleinbetrieb eine so bedeutende Rolle hier verleihen. So sind im Warenhandel, der alle die genannten Gewerbe mit in sich schließt, an Personen tätig:

Im Ganzen

1.105.423

Davon Alleinhändler

   317.460

In Betrieben mit 2 Personen

   215.730

In Betrieben mit 3–5 Personen

   276.085


In Kleinbetrieben überhaupt

   809.275

„Die starke Vertretung der Kleinbetriebe im Beherbergungs- und Erquickungsgewerbe rührt her von der Masse kleiner Gast- und Schankwirte, Logis-, Schlafstellenvermieter u.dgl. Es sind in dieser Gewerbegruppe an Personen tätig:

Im Ganzen

   579.958   

Davon Alleinwirte – Vermieter

     99.407   

In Wirtschaften mit 2 Personen

   122.194   

In Wirtschaften mit 3–5 Personen

   211.175   

 


In kleinen Wirtschaften überhaupt

   432.776“

Bemerken wir noch, dass diejenigen Erwerbszweige, die im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe das Überwiegen der Kleinbetriebe verursachen, die Schneiderei, Näherei, Wäscherei und das Friseurgeschäft sind, so haben wir die Elemente jener Zahlen beisammen, welche Bernstein gegen die Marxsche Theorie aufmarschieren lässt.

Marx bemerkt einmal im Kapital:

„Herr Professor Roscher will entdeckt haben, dass eine Nähmamsell, die während zwei Tagen von der Frau Professorin beschäftigt wird, mehr Arbeit verrichtet, als zwei Nähmamsellen, welche die Frau Professorin am selben Tage beschäftigt. Der Herr Professor stelle seine Beobachtungen über den kapitalistischen Produktionsprozess nicht in der Kinderstube an, und nicht unter Umständen, worin die Hauptperson fehlt, der Kapitalist.“

Um den Marxismus fortzubilden und wissenschaftlicher zu gestalten, gesellt Bernstein zur Kinderstube die Barbierstube und die Kneipe. Dort lässt ja der Konzentrationsprozess des Kapitals noch etwas zu wünschen übrig. Erinnern wir uns seines Hinweises, die Vorbedingungen des Sozialismus seien in Deutschland noch nicht gegeben, weil in Handel und Industrie noch Hunderttausende von „Unternehmungen“ mit über vier Millionen Arbeitern übrig blieben, die „privatwirtschaftlich weiter zu betreiben“ wären. Wir wissen jetzt, worin die Mehrzahl dieser „Unternehmungen“ besteht. An der Unmöglichkeit der Verstaatlichung der Obstfrauen, Zimmervermieterinnen, Näherinnen, Wäscherinnen etc. muss der Sozialismus scheitern! Diese Elemente, sie bilden für Bernstein das festeste Bollwerk des kapitalistischen Eigentums, an ihnen hat man die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung zu studieren und nicht an den Bergwerken, Eisenhütten, Spinnereien, Webereien, Maschinenfabriken etc.

Sämtliche Kleinbetriebe vermehrten sich von 1882-1895 um 51.955. Dagegen betrugen die Kleinbetriebe in den Gruppen:

 

1882

1895

Zunahme

Handelsgewerbe

   434.785   

   603.209   

   168.424   

Beherbergung und Erquickung

163.991

220.655

  56.664




Zusammen

598.776

823.864

225.088

Wenn man diese beiden Gruppen vom Gewerbe abzieht, finden wir statt einer Zunahme der Kleinbetriebe um 51.955 eine Abnahme um 175.133. Das Personal der Kleinbetriebe betrug in den beiden genannten Gruppen:

 

1882

1895

Zunahme

Handel

   641.696   

      943.545   

   301.849   

Beherbergung

244.297

432.776

188.479




Zusammen

885.993

1.376.321

490.328

Das Personal aller Kleinbetriebe vermehrte sich in derselben Zeit um 434.847. Rechnen wir dagegen die beiden obigen Gruppen ab, erhalten wir statt einer Zunahme eine Abnahme um 55.481 für den Kleinbetrieb, bei gleichzeitiger Zunahme der Bevölkerung und noch größerer Zunahme des gesamten gewerblichen Personals.

Die Zunahme der Kleinbetriebe im Zwischenhandel und dem Gewerbe der Beherbergung und Erquickung ist aber kein Zeichen der Lebensfähigkeit des Kleinbetriebs, sondern ein Produkt seiner Zersetzung. Die kleinen Krämereien, kleinen Wirtschaften, Zimmervermietereien u.dgl. bilden zum großen Teil die Zuflucht bankrotter Existenzen oder Mittel, neben der Lohnarbeit des Gatten die Arbeitskraft der Frau zu verwerten. In dem einen wie in dem anderen Falle tragen sie proletarischen Charakter. Überdies werden sie immer abhängiger von der proletarischen Kundschaft, denn das zahlungsfähige Bürgertum deckt seinen Bedarf in den leistungsfähigeren Betrieben. So werden die kleinen Wirte und Händler immer proletarischer in ihrem Fühlen und Denken. War ehedem die kleinbürgerliche Denkweise bestimmend für das Proletariat, so tritt jetzt immer mehr das umgekehrte Verhältnis ein.

Dazu trägt auch ein anderer Umstand gerade in jenen Gewerbszweigen bei, in denen noch der Kleinbetrieb überwiegt, ein Umstand, der freilich in der Statistik nicht zum Ausdruck gelangt. Diese zeigt nur die technische Betriebskonzentration, nicht die ökonomische. Ja selbst die technische verzeichnet sie nicht vollständig, denn bei der gewerblichen Betriebszählung wurden dort, wo verschiedene Gewerbe zu einem Betrieb vereinigt waren, seine einzelnen Gewerbszweige als besondere Betriebe gezählt. Desgleichen wurden Filialen und Zweiggeschäfte als selbständige Betriebe angesehen. Die Zahl der Betriebe im Allgemeinen ist also tatsächlich kleiner und die der Großbetriebe größer, als die Zählung angibt.

Die technische Konzentration ist aber nur eine der Formen der ökonomischen; allerdings ihre vornehmste und vollkommenste. Aber Kapitalskonzentration finden wir auch dort, wo ein Kapitalist technisch selbständige Unternehmungen in ökonomische Abhängigkeit von sich bringt, sie in seinen Dienst zwingt. Wir erinnern z. B. an die Hausindustrie. Nun sehe man sich die oben angeführte Reihe der Gewerbszweige an, in denen der Kleinbetrieb überwiegt; man findet, dass es gerade jene sind, in denen die ökonomische Unselbständigkeit der Kleinbetriebe besonders hoch entwickelt ist. So ist die Hausindustrie stark verbreitet in der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe (Tischlerei, Korbflechterei, Strohhutflechterei, Drechslerei, Spielwarenfabrikation u.dgl.) und namentlich in den der Bekleidung und Reinigung dienenden Gewerben (Kleider- und Wäschekonfektion, Putzmacherei, Handschuhmacherei, Schuhmacherei, Wäscherei und Plätterei etc.) Diese Kleinbetriebe sind für die Statistik selbständige Betriebe, für den Ökonomen sind ihre Inhaber nicht Besitzer ihrer Produktionsmittel, sondern die gedrücktesten, am erbärmlichsten gezahlten Lohnarbeiter.

Aber auch im Zwischenhandel und dem „Erquickungsgewerbe“ geht ein ähnlicher Prozess vor sich, der die einzelnen nominellen Geschäftsinhaber immer mehr in tatsächliche Agenten und Lohnarbeiter einiger Großkapitalisten verwandelt. Die Gastwirtschaften werden immer abhängiger von den großen Brauereien, die ihnen vielfach nicht bloß das Bier, sondern das gesamte Inventar vorschießen; überdies werden immer mehr Bierhallen und Restaurants direktes Eigentum der Brauereien. Die Wirte werden von den Brauereien angestellte Pächter. Ähnliches geht im Warenhandel vor sich. Wir haben augenblicklich keine Ziffern aus Deutschland bei der Hand, um diese allgemein bekannte Tatsache zu belegen. Aus London teilt Macrosty in einem Artikel der Contemporary Review mit, „dass die billigen Restaurants Londons in der Hand von vier bis fünf Firmen sind. In der gleichen Lage ist der Londoner Milchhandel, Apotheker und Zigarrenhändler haben das gleiche Schicksal. Eine Gesellschaft allein besitzt hundert Zigarrenläden“ (Londoner Social Democrat, Mai 1899). Von dieser Entwicklung weiß uns Bernstein nichts zu berichten. Er weist nur darauf hin, dass in England die Zahl der Ladengeschäfte 1875-1886 von 295.000 auf 366.000 stieg.

Bernstein hält uns die Hunderttausende von kleinen Betrieben vor, die auch nach Expropriierung der großen noch privatwirtschaftlich fortzubetreiben wären. Wie viele von den 200.000 kleinen Betrieben der Gruppe Beherbergung und Erquickung würden wohl tatsächlich vom Staatsbetrieb abhängig, wenn man allein die 300 größten Brauereien mit mehr als 50 Personen, welche man 1895 in Deutschland zählte, verstaatlichte? Und dass die Verstaatlichung der Tabakproduktion und des Tabakhandels sich sehr gut mit Tausenden kleiner Zigarrenläden verträgt, weiß in den Ländern des Tabakmonopols jedes Kind. Die Vergesellschaftlichung der Produktion setzt keineswegs die Vorherrschaft des Großbetriebs auf allen Gebieten voraus.

Es bleiben uns als Gewerbe, in denen der Kleinbetrieb noch einigermaßen stark, zu untersuchen die Metallverarbeitung, die Lederindustrie, die Industrie der Nahrungs- und Genussmittel, das Baugewerbe und das Verkehrsgewerbe. Vom Versicherungsgewerbe mit seinen 22 000 Personen können wir wohl absehen.

Für diese liegen uns folgende Zahlen vor:

Industriezweig

 

   Von je 100 Personen entfielen   
auf Betriebe mit Personen

Absolute Zunahme oder Abnahme
der Personenzahl in Prozenten
von 1882–1895 in Betrieben mit

1–5

6–50

über 50

1–5

6–50

über 50

Metallverarbeitung

1882

62,8

18,7

18,5

− 1,2

+ 83,4

+ 131,3

1895

44,6

24,6

30,8

Relat. Zu- oder Abnahme

− 18,2   

+ 5,9   

+ 1,23   


Lederindustrie

1882

62,9

21,3

15,8

+ 6,2

+ 54,2

+ 104,5

1895

50,6

24,9

24,5

Zunahme oder Abnahme

− 12,3   

+ 3,6   

+ 8,7   


Industrie der Nahrungs-
u. Genussmittel

1882

60,3

19,6

20,1

+ 18,0

+ 67,6

  + 66,0

1895

51,9

23,9

24,2

Zunahme oder Abnahme

− 8,4   

+ 4,3   

+ 4,1   


Baugewerbe


46,0

36,1

17,9

+ 15,3

+ 114,6

+ 264,9

1895

27,0

39,6

33,4

Zunahme oder Abnahme

− 19,0   

+ 3,5   

+ 15,5   


Verkehrsgewerbe

1882

64,1

17,3

18,6

+ 10,8

  + 37,6

  + 97,0

1895

54,0

18,0

28,0

Zunahme oder Abnahme

− 10,1   

+ 0,7   

+ 9,4   

In allen diesen Gewerbszweigen finden wir eine starke relative Abnahme der Personenzahl des Kleinbetriebs. In der Metallverarbeitung ist sie sogar eine absolute. Ihr entspricht dort noch eine stärkere Abnahme der Betriebszahl. Während die Personenzahl der Kleinbetriebe sich um 1,2 Prozent (3.401) verringerte, nahmen die Kleinbetriebe selbst um 7,6 Prozent (11.889) ab. In den anderen der obigen Gewerbszweige hat der Kleinbetrieb absolut zugenommen, aber längst nicht in dem Maße, wie die Mittel- und Großbetriebe. Namentlich im Baugewerbe, das doch als ein Hort des Handwerks betrachtet wird, ist die relative Abnahme der Kleinbetriebe eine auffallende.

Beim Verkehrsgewerbe ist die Anzahl des Personals der Kleinbetriebe deshalb eine relativ so starke, weil die größten Betriebe – Eisenbahnen, Telegraphen, Post – von der Gewerbezählung ausgeschlossen blieben. Überhaupt wurden öffentliche Betriebe, die nicht gewerbemäßig betrieben werden, nicht mitgezählt, so Gemeindeanstalten für Wasserversorgung, Kehrichtabfuhr, Schlachthäuser usw., also gerade Betriebe, die zu den größten ihrer Art gehören.

Das Verkehrsgewerbe enthält aber nicht bloß Riesenbetriebe, die ungezählt blieben, sondern auch zahlreiche Zwergbetriebe, die ökonomisch bedeutungslos sind und kaum den Namen von Unternehmungen verdienen. Von den 3.945 Leichenbestattungs- und Totengräberbetrieben sind 3.674 Alleinbetriebe, von den 10.514 Dienstmanns- und Lohndiener-„Betrieben“ 10.200 Alleinbetriebe, von 18.737 des Personenfuhrwerks und der Posthalterei 9.532. Sollen wir also neben den Obstfrauen, Zimmervermieterinnen und Friseuren auch die Totengräber, Dienstmänner und Droschkenkutscher zu der Armee der Hunderttausende von Kleinbetrieben zählen, die sich dem Sozialismus dräuend in den Weg stellt?

Nur die Industrie der Nahrungs- und Genussmittel scheint dem Kleinbetrieb günstig zu sein. Hier ist seine absolute Zunahme unter den zuletzt betrachteten Gewerbszweigen am größten und – ein Ausnahmsfall, der nur in der Gärtnerei wiederkehrt – der Großbetrieb in langsamerer Zunahme begriffen als der Mittelbetrieb.

Aber von der Million Personen, welche auf diese Gruppe entfallen, gehören 153.080 der Tabakfabrikation an; hier ist der Kleinbetrieb kapitalistisch ausgebeutete Hausindustrie. Anderseits haben wir hier die Brauerei mit 97.682 Personen und die Zuckerfabrikation mit fast ebenso vielen (95.162). Diese sind Domänen des Großbetriebs. Ebenso ist dieser rasch im Vordringen auf dem Gebiet der Müllerei (110.267 Personen). So bleiben unter den größeren Berufszweigen dieser Gruppe nur die Bäckerei (mit der Konditorei 26.1916 Personen) und die Fleischerei mit 178.873 Personen als Domänen eines selbständigen Kleinbetriebs. Aber dieselbe Ursache, die den Kleinbetrieb in diesen beiden Gewerben begünstigt, ihre Monopolstellung auf einem engbegrenzten lokalen Markte, erzeugt so viele Missstände, die immer lauter nach Abhilfe durch Vergesellschaftlichung schreien, dass diese die beiden unbestrittensten Domänen des Kleinbetriebs früher verschlingen kann als manchen Gewerbszweig, in dem der Großbetrieb stärker vorherrscht. Die Entwicklung des Konsumvereinswesens und kommunaler Sozialpolitik dürfte auf diesem Gebiet rasch aufräumen.

In der Fleischerei haben die kommunalen Schlachthäuser bereits vorgearbeitet und die wichtigsten Funktionen des Fleischers sozialisiert. Aber selbst wenn dieser Prozess nicht fortschritte, würde die Entwicklung zum Großbetrieb vor Fleischerei und Bäckerei nicht Halt machen. Auch hier beginnt die Konzentration des Kapitals sich geltend zu machen. Man fand bei der Berufszählung in der

 

   Selbstständige   

   Lohnarbeiter   

   Von je 100 beschäftigten   
Personen waren
Selbstständige

Bäckerei

1882

74.283

109.047

40,5

 

1895

84.605

163.982

34,1

Fleischerei

1882

60.634

  69.997

46,4

 

1895

69.277

107.394

39,2

Man fasse alle diese Ziffern zusammen und frage sich dann, ob Bernstein ein Recht hat, zu behaupten, das von Marx gezeichnete Bild der kapitalistischen Konzentration entspreche nicht der Wirklichkeit (S. 47), es sei einseitig, die Ausbreitung und Ausdehnung der Großbetriebe stelle nur die eine Seite der wirtschaftlichen Entwicklung dar. (S. 60) Wenn je eine Theorie eine glänzende Bestätigung fand, so die Marxsche in den Zahlen der deutschen Berufs- und Betriebszählungen. Bernstein aber, der jene Theorie mit vollster Überzeugung verfocht, so lange sie durch diese Zahlen nicht bestätigt war, fängt in dem Moment an, an ihr zu zweifeln, wo es am offenkundigsten wird, dass sie der getreue Spiegel der Wirklichkeit ist.

Aber die Landwirtschaft? Bedeutet sie nicht den Bankrott der Marxschen Theorie?

Da liegt die Sache allerdings nicht so klar wie im Gewerbe. Noch 1864 rief Marx in der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation den Arbeitern zu:

„Schlagt die amtlichen Listen (Englands) von 1861 auf und Ihr werdet finden, dass die Anzahl der Grundeigentümer in England und Wales von 16.934 Personen im Jahre 1851 auf 15.066 im Jahre 1861 zusammengeschmolzen ist, so dass die Konzentration des Grundbesitzes in 10 Jahren um 11 Prozent zugenommen hat. Wenn die Vereinigung des gesamten Grundbesitzes in den Händen weniger in diesem Verhältnis fortschreiten sollte, so wird allerdings dadurch die Grund- und Bodenfrage sehr vereinfacht werden.“

Zu dieser Vereinfachung sollte es jedoch nicht kommen. Eine Reihe von Umständen, die eintraten, seitdem obige Zeilen geschrieben worden, vor allem die überseeische Lebensmittelkonkurrenz und die allgemeine Landflucht der Landarbeiter hemmen die Konzentration des Grundbesitzes wie die der landwirtschaftlichen Betriebe. Statt sich zu vereinfachen, kompliziert sich die Agrarfrage immer mehr, wird die verwickeltste und schwierigste unter den Fragen, an deren Lösung zu arbeiten die Sozialdemokratie berufen ist.

Aber Folgendes, glauben wir, kann man mit Bestimmtheit behaupten. Wie immer die agrarischen Verhältnisse sich entwickeln mögen, die Landbevölkerung wird immer weniger die gesamte soziale Entwicklung beeinflussen, schon deswegen, weil sie an Zahl relativ, hin und wieder sogar absolut, zurückgeht. Das ist ein notwendiger Prozess nicht bloß in den Industrieländern, welche Industrieprodukte für den Export produzieren und dafür unter anderem Lebensmittel und Rohstoffe eintauschen. Die ganze ökonomische Entwicklung strebt dahin, dem Landwirt eine Funktion nach der anderen abzunehmen und der warenproduzierenden Industrie, namentlich der Großindustrie, zuzuweisen. Sie ruiniert zuerst die dem Selbstgebrauch dienende Hausindustrie des Bauern; er verspinnt nicht mehr seinen Flachs und seine Wolle, bereitet nicht mehr den Haustrunk aus eigenen Früchten usw. Nach seiner Produktion für den Selbstgebrauch kommt die für den Markt daran; auch sie fällt eigenen Gewerben zu. Die Milch seiner Kühe wird nicht mehr auf dem Hofe verbuttert, sondern in der Molkerei; der Wein wird nicht mehr im Keller des Winzers trinkreif, sondern in dem des Weinhändlers. Schließlich kommt die Industrie gar so weit, sogar Rohprodukte zu erzeugen oder zu ersetzen, die der Landwirt produzierte. Sie verdrängt die Farbpflanzen durch Produkte des Steinkohlendteers, sie erlaubt in der Wein- und Biererzeugung an Trauben und Hopfen zu sparen, sie setzt an Stelle haferverzehrender Pferde Fahrräder, Automobilen, elektrische Bahnen und Pflüge etc. etc. Dazu kommt, dass in der Agrikultur selbst die Maschine, der künstliche Dünger, Drainierung und andere Behelfe Eingang finden, die der Industrie entstammen. Ein Teil, und zwar ein immer größerer Teil der in der Landwirtschaft tätigen Kräfte und der bisher von der Landwirtschaft erzeugten Produkte wird durch die Industrie erzeugt. Alles das muss bewirken, dass in den modernen Ländern die landwirtschaftliche Bevölkerung immer mehr zurückgeht.

In Deutschland ist das in solchem Maße der Fall, dass, vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft aus gesehen, die der Konzentration entgegenwirkenden Momente dadurch völlig überwunden werden.

Von je hundert Erwerbstätigen waren im Deutschen Reiche

 

Selbstständige

Gehilfen

1882

1895

1882

1895

Landwirtschaft

   27,78   

   30,98   

   72,22   

69,02

Industrie

34,41

24,90

65,59

75,10

Handel

44,67

36,07

55,33

63,93





Im Ganzen

32,03

28,94

67,97

71,06

Trotzdem also in der Landwirtschaft die Zahl der Selbständigen erheblich zunahm, verringerte sie sich doch bedeutend für die Gesamtheit, einmal in Folge des fortschreitenden Konzentrationsprozesses in Handel und Industrie und dann der absoluten Abnahme der Landbevölkerung. Diese zählte 1882 noch 19.225.455 Köpfe, darunter 8.236.496 Erwerbstätige, 1895 dagegen nur noch 18.501.307, darunter 8.292.692 Erwerbstätige. Im gleichen Zeitraum stieg die Gesamtheit der Bevölkerung von 45.200.000 auf 51.800.000, die der Erwerbstätigen von 19 Millionen auf 23 Millionen. Die landwirtschaftliche Bevölkerung machte 1882 noch 42,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, 1895 nur noch 35,7, die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft 1882 43,4 Prozent aller Erwerbstätigen, 1895 bloß 36,2.

Überdies aber sind die Zahlen, welche die Zunahme der Selbständigen in der Landwirtschaft anzeigen, keine einwandsfreien, wie sich zeigt, wenn man ins Detail geht. Man zählte:

Personen, welche Landwirtschaft
im engeren Sinne im Hauptberuf ausüben

1882

1895

Zunahme oder
Abnahme

 

Selbstständige

2.252.351

2.522.539

+ 270.008   

Angestellte

     47.465

76.978

+ 29.513

Arbeiter insgesamt

5.763.970

5.445.924

− 318.046   

Davon Familienangehörige, in der Wirtschaft mittätig

1.934.615

1.898.867

− 35.748

 

Knechte und Mägde

1.589.088

1.718.885

+ 129.797  

Taglöhner mit Land

   866.493

   382.872

− 483.621  

Taglöhner ohne Land

1.373.774

1.445.300

  + 71.534  




Zusammen

      8.063.966      

      8.045.441      

  − 18.525  

Auffallend bei diesen Zahlen ist die enorme Abnahme der Taglöhner mit Land, die binnen 13 Jahren um weit mehr als die Hälfte abgenommen haben sollen! In der Tat muss die Reichsstatistik zugeben, dass diese Abnahme wenigstens zum Teil nur eine scheinbare ist, darauf beruhend, dass die Zählung 1895 nach einer etwas anderen Methode erfolgte, als 1882.

1882 fielen unter die Rubrik à T die Taglöhner, die zugleich selbständige Landwirtschaft betrieben. Dabei aber „erfuhr man nicht, ob diese Leute im Hauptberuf selbständig waren oder nur nebenbei taglöhnerten, wie z. B. die Heuerleute, oder ob sie umgekehrt der Hauptsache nach Taglöhner waren und nur als selbständige Landwirte im Nebenberuf geführt waren“. (Die berufliche etc. Gliederung des deutschen Volkes, Statistik des Deutschen Reichs, N.F., Bd. III, S. 58) In der Zählung von 1895 wurden dagegen beide Elemente streng gesondert und daher eine Anzahl von Landwirten den Selbständigen zugerechnet, die 1882 auf die Liste der Taglöhner gesetzt worden. Daher „erscheint die Zahl der Selbständigen 1882 etwas zu niedrig“ (a.a.O., S.61), aber dementsprechend auch die der Lohnarbeiter zu hoch. Der ganze Vorgang ist bezeichnend dafür, wie sehr auf dem Lande die Grenzen von Lohnarbeit und selbständiger Landwirtschaft ineinander überfließen.

Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, um wie viel 1882 die Selbständigen, zu schwach, die Arbeiter zu stark erschienen, unbeträchtlich dürften die Differenzen zwischen Zählung und Wirklichkeit nicht sein, wenn wir erwägen, dass von 1882 bis 1895 die Zahl der Knechte und der Taglöhner ohne Land zunahm, indes gerade die Zahl der Taglöhner mit Land eine so schreiende Abnahme aufweist. Rechnen wir 1882 wie 1895 die letzteren zu den Selbständigen, dann erhalten wir 1882 die Summe von 3.119.024, 1895 dagegen von 2.905.411, also statt der Zunahme von 270.008 eine Abnahme von 213.613; dagegen beträgt die Summe der Knechte und Mägde, die nicht Familienangehörige sind, und der Taglöhner ohne Land 1882 2.962.862 und 1895 3.164.185, also eine Zunahme von 201.323.

Die Zahl der echten Proletarier hat demnach zugenommen; dagegen ist die Zahl der Selbständigen samt den zwischen ihnen und dem Proletariat liegenden Zwitterschichten im Abnehmen, ohne dass sich deutlich erkennen ließe, ob diese Abnahme mehr auf Kosten der ersteren als der letzteren vor sich geht. Jedenfalls deuten diese Zahlen auf eine Verschärfung der sozialen Gegensätze auch in der Landwirtschaft hin. Die Bewegung ist aber eine langsamere, die Verschiebungen weniger bedeutend als in Handel und Industrie.

Auch wenn wir zur Betriebsstatistik übergehen, finden wir nur unmerkliche Verschiebungen in den einzelnen Größenklassen verzeichnet, und zwar verschiedene in den verschiedenen Ländern, ja Landesteilen. So verändert sich die landwirtschaftlich benützte Fläche:

In Deutschland von 1882–1895

Größenklasse

 

unter 2 Hektar

  − 17.494 Hektar

unter 2–5 Hektar

  − 95.781 Hektar

unter 5–20 Hektar

+ 563.477 Hektar

unter 20–100 Hektar

  − 38.333 Hektar

über 100 Hektar

  + 45.533 Hektar


In Frankreich von 1882–1892

Größenklasse

unter 1 Hektar

+ 243.420 Hektar

unter 1–5 Hektar

− 108.434 Hektar

unter 5–10 Hektar

  − 13.140 Hektar

unter 10–40 Hektar

− 532.243 Hektar

über 40 Hektar

+ 197.288 Hektar


In England von 1885–1895

Größenklasse

 

1–5 Acres (0,4–2 Hektar)

  − 22.885 Acres

5–20 Acres (2–8 Hektar)

  + 10.880 Acres

20–50 Acres (8–20 Hektar)

  + 40.449 Acres

50–100 Acres (20–40 Hektar)

+ 138.683 Acres

100–300 Acres (40–120 Hektar)

+ 217.429 Acres

300–500 Acres (120–200 Hektar)

− 127.223 Acres

über 500 Acres (über 200 Hektar)

− 226.807 Acres

In Frankreich ist also die Entwicklung eine ganz andere als in Deutschland und England. In jenen beiden Ländern gewinnen die Mittelbetriebe an Boden, in Frankreich die kleinsten, proletarischen, und die großen, kapitalistischen.

Innerhalb Deutschlands selbst finden wir dort, wo der Großbetrieb vorherrschend, die Tendenz zu seinem Rückgang, und dort die Tendenz zu seinem Vorbringen, wo er geringfügig, also in Ostelbien die erstere, in Süd- und Westdeutschland die letztere Tendenz.

Von je 100 Hektar landwirtschaftlich benutzter Fläche des betreffenden Staates und Landesteils entfielen auf die Betriebe mit mehr als 100 Hektar:

 

 

1882

 

1895

 

 

Ostpreußen

36,60

39,47

+ 0,87

Westpreußen

47,11

43,66

− 3,45

Brandenburg

36,32

35,24

− 1,08

Pommern

57,42

55,13

− 2,29

Posen

55,37

52,19

− 3,18

Schlesien

34,41

33,86

− 0,55

Mecklenburg-Schwerin

59,89

59,95

+ 0,06

Mecklenburg-Strelitz

60,89

60,68

− 0,21

Also mit Ausnahme von Ostpreußen und Mecklenburg-Schwerin überall eine Abnahme. Dagegen in:

 

 

1882

 

1895

 

 

Hannover

6,92

7,14

+ 0,22

Westphalen

4,77

5,30

+ 0,53

Hessen-Nassau

6,69

7,34

+ 0,65

Rheinland

2,67

3,51

+ 0,84

Bayern

2,26

2,57

+ 0,31

Würtemberg

2,00

2,14

+ 0,14

Baden

1,80

3,06

+ 1,26

Elsaß-Lothringen

7,31

7,38

+ 0,07

Die anderen Staaten zeigen entweder gar keine Verschiebungen (Sachsen, Hessen) oder sind zu klein, um brauchbare Resultate zu ergeben. Bemerkenswert sind überall im Süden und Westen die Plus. Wo die bäuerliche Wirtschaft vorherrscht, finden wir eine, wenn auch schwache Tendenz zum Vorbringen des Großbetriebs. Wo der große Grundbesitz vorherrscht, wiegt die Tendenz zum Verkleinern der Betriebsfläche vor. Dies ist aber keineswegs gleichbedeutend mit Verkleinerung des Betriebs. Wir finden in Ostelbien heute zwei Tendenzen wirkend: einmal die nach Intensifikation des Betriebs, also Verstärkung seines kapitalistischen Charakters. Für intensive Wirtschaft sind aber viele der ostelbischen Güter zu groß; überdies fehlt es den Besitzern an Kapital. Das nötige Geld wird gewonnen und die Gutsfläche entsprechend gestaltet durch Verkauf der Ländereien, die vom Gutsmittelpunkt weiter abgelegen sind, an kleine Landwirte.

Aber dieselbe Entwicklung der Kommunikationsmittel, welche die ostelbische Landwirtschaft der Konkurrenz einer höher entwickelten aussetzt und diese dadurch zur Intensifikation des Betriebs zwingt, entführt ihr die notwendigste Vorbedingung dazu, die Arbeiter. Daher die Versuche, diese an die Scholle zu fesseln durch Gewährung von Rentengütern und ähnlichen Einrichtungen. Daher aber auch der Bankrott des Großbetriebs dort, wo dies nicht gelingt. In dem einen wie in dem anderen Falle haben wir wieder Parzellierung von großem Grundbesitz. Es ist also gerade die Entwicklung zu modernem kapitalistischem Betrieb, die in Ostelbien die Vermehrung der Kleinbetriebe begünstigt, die Fläche der Großbetriebe einschränkt.

Nichts weist darauf hin, dass wir dem Untergang des Großbetriebs, aber auch nichts, dass wir einer Aufsaugung der Kleinbetriebe entgegengehen. Keine der einzelnen Betriebsgrößen gewinnt entschieden und allgemein an Boden. Ein Rückgang hier wird paralysiert durch ein Fortschreiten dort.

Wenn wir bloß die Statistik der Bodenflächen betrachten, dann hat es den Anschein, als entwickle sich die Landwirtschaft gar nicht, als stehe sie still. Aber auch sie macht eine Entwicklung durch und zwar in der Richtung wachsender Abhängigkeit von der Industrie.

Das Ideal eines selbständigen Kleinbetriebs, die Wirtschaft einer Bauernfamilie, die ohne Lohnarbeiter alles Wesentliche produziert, was sie braucht, ist dahin; noch im Anfange unseres Jahrhunderts war diese Wirtschaftsform in Europa die herrschende, heute ist sie so gut wie völlig verschwunden.

An Stelle des Bauern, der Landwirt und Handwerker in eigener Person ist, tritt der Bauer, der nur noch Landwirt ist, und in der Landwirtschaft selbst finden wir immer größere Spezialisierung der Ware, die der einzelne Betrieb für den Markt produziert; der Bauer wird immer abhängiger vom Markte, das heißt von der Gesellschaft, seine Arbeit wird immer mehr ein Teil des großen gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, den die Warenproduktion darstellt, eines Prozesses, der von der Industrie beherrscht wird.

An Stelle des Bauern, der bloß mit den Kräften der Familie und nur für sich arbeitet, tritt auf der einen Seite der Bauer, der mit gedungenen Lohnarbeitern schafft, auf der anderen Seite der Zwergbauer, dessen Betrieb nur noch ein Anhängsel des Haushalts ist, der sein Geldeinkommen aus dem Verkauf seiner Arbeitskraft zieht, indem er Lohnarbeiter in der Land- oder Forstwirtschaft wird, Wandergänger oder Hausindustrieller, oder schließlich Arbeiter in einem jener groß-industriellen Betriebe, die immer mehr aufs flache Land vordringen. So geraten die Zwergbauern wie die größeren Bauern in steigende Abhängigkeit von der Industrie. Das wird durch folgende Ziffern beleuchtet, welche die Durchschnittszahlen für das Reich und die größeren Bundesstaaten, sowie die Zahlen für einige Regierungsbezirke geben. Zunächst die ersteren: Von 100 Inhabern landwirtschaftlicher Betriebe sind hauptberuflich tätig:

 

Selbstständige
Landwirtschaft

Lohnarbeit

Landwirtschaft

Industrie

Sonstige

Insgesamt

       

Deutsches Reich

44,96

12,90

14,23

3,96

31,09

Preußen

40,62

16,39

15,82

4,19

36,40

Bayern

64,79

5,19

6,02

2,20

13,41

Sachsen

38,54

4,63

19,34

4,56

28,53

Württemberg

59,53

3,53

7,80

2,32

13,65

Baden

59,80

3,69

10,38

3,21

17,28

Hessen

44,89

8,79

13,34

4,21

26,34

Elsaß-Lothringen

52,35

6,51

14,59

3,46

24,56

Nun einige Regierungsbezirke:

 

Reg.-Bez. Magdeburg

25,85

22,88

20,73

5,30

48,91

Reg.-Bez. Merseburg

29,13

17,73

24,79

4,07

46,59

Reg.-Bez. Erfurt

32,87

11,59

17,32

4,30

32,21

Reg.-Bez. Hildesheim

26,08

14,38

22,41

7,65

44,44

Reg.-Bez. Münster

44,40

  5,67

20,51

3,70

29,88

Reg.-Bez. Arnsberg

16,19

  3,89

45,43

6,15

55,47

Reg.-Bez. Düsseldorf

21,11

  5,74

31,95

5,14

42,83

Außerhalb Preußen finden wir innerhalb Bayerns die meisten industriellen Lohnarbeiter als Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe in der Pfalz (14,11 Prozent aller Betriebsinhaber gegen 47,57 Prozent selbständige Landwirte und 6,06 Prozent Landarbeiter); in Sachsen in der Kreishauptmannschaft Dresden (22,15 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe im Besitz von Industriearbeitern gegen 34,51 Prozent selbständige Landwirte und 9,16 Prozent Landarbeiter), in Württemberg im Neckarkreis (8,75 Prozent gegen 58,73 Prozent und 8,14 Prozent), in Baden im Bezirk Karlsruhe (14,28 Prozent gegen 60,43 Prozent und 2,16 Prozent), in Hessen in der Provinz Starkenburg (19,20 Prozent gegen 37,69 Prozent und 8,41 Prozent). Bemerkenswert durch das Überwiegen der Industriearbeiter als Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe über die selbständigen Landwirte sind unter den kleineren Staaten:

 

Selbstständige
Landwirte

 

Industrie-
arbeiter

Braunschweig

21,77 %

25,82 %

Anhalt

20,07 %

28,06 %

Reuß ä. L.

29,34 %

31,18 %

Schaumburg-Lippe

23,54 %

30,08 %

Lippe

31,96 %

36,36 %

Man sieht, wie irrtümlich es ist, jeden Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs als Bauern zu rechnen. Die Bauern bilden nicht nur die Minderheit der landwirtschaftlichen Bevölkerung, deren Erwerbstätige in 31 Prozent Selbständige und 69 Prozent Lohnarbeiter zerfielen, sie bilden auch nicht die Mehrheit der Inhaber der landwirtschaftlichen Betriebe im Reiche (selbständige Landwirte bloß 45 Prozent); sie sind in industriellen Gegenden sogar weniger zahlreich als die landwirtschaftliche Betriebe besitzenden Lohnarbeiter der Industrie.

Von 5.558.317 landwirtschaftlichen Betrieben waren 1895 nur 2.499.130 im Besitze selbständiger Landwirte. Die Zahl der selbständigen Landwirte mit einem Nebenerwerb betrug 504.164. Es ist also eine kolossale Übertreibung, wenn Bernstein von „über fünf Millionen“ landwirtschaftlichen Betrieben „privatwirtschaftlichen Charakters“ spricht, die übrig blieben, wenn man alle Betriebe von über 20 Hektar verstaatlichte. Circa drei Millionen der landwirtschaftlichen Betriebe sind bloße Anhängsel der Haushaltung, dienen nicht oder nicht in erheblichem Maße der Warenproduktion, also der „privatwirtschaftlichen“ Produktion. Der Sozialismus bedeutet die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, also der Warenproduktion. Die Organisation der Arbeiten des privaten Haushalts ist nicht eines der nächsten Probleme für ihn. Ebenso wenig wie an den „Unternehmungen“ der Obstfrauen, Friseure und Kastanienbrater wird der Sozialismus an den Krautgärten und Kartoffeläckern der ländlichen Industriearbeiter und der Landarbeiter scheitern.

Aber bleiben nicht immer noch über zwei Millionen Betriebe, die man als bäuerliche bezeichnen kann? Allerdings, indes auch sie geraten in eine steigende Abhängigkeit vom Großbetrieb, wenn auch in anderer Weise wie die Zwergbauern.

Eine der auffallendsten Erscheinungen der modernen ökonomischen Entwicklung ist der Rückgang der Grundrente, ja oft auch des landwirtschaftlichen Profils, der Rentabilität der Landwirtschaft. Um so dringender wird es für den landwirtschaftlichen Unternehmer, das Betriebsdefizit durch eine profitablere Erwerbstätigkeit zu decken, und er findet als solche die Industrie, landwirtschaftliche Industrie, der er die Produkte seiner Landwirtschaft als Rohmaterial zuführt.

In derselben Richtung treibt ein weiteres Moment, die wachsende Leutenot. Die Landwirtschaft verliert die Kraft, ihre Arbeiter an die Scholle zu fesseln und die Industrie bietet diesen eine kulturell höhere Existenz als jene. Nur das Einwurzeln einer Industrie vermag die Lohnarbeiter auf dem flachen Lande zurückzuhalten.

Die Vereinigung von Landwirtschaft und Industrie wird daher immer mehr eine Lebensfrage für die erstere; nachdem der Großgrundbesitz vorangegangen, bestreben sich jetzt auch die kleineren Betriebe, vermöge der Genossenschaften der Vorteile dieser neuen Betriebsform teilhaftig zu werden.

Die Industrie, als die profitablere, modernere Produktionsweise, erweist sich in dieser Verbindung aber als der stärkere Faktor, die Landwirtschaft wird immer abhängiger von ihm, und da in der landwirtschaftlichen Industrie dieselbe Konzentrationstendenz herrscht, wie in jeder anderen, gerät auf diesem Wege auch die Landwirtschaft in das Bereich der gleichen Tendenz.

Aus der Statistik der Betriebsflächen lässt sich das freilich nicht erkennen. So wie sie keinen Unterschied macht zwischen dem kapitalistisch ausgebeuteten Hausindustriellen und dem selbständigen Handwerker, der Kundenarbeit verrichtet, so lässt sie auch nicht erkennen, ob ein bäuerlicher Betrieb noch völlig selbständig ist oder nur mehr ein Teil eines großen gesellschaftlichen Betriebs. Trotzdem ist die Tendenz nach wachsender Abhängigkeit der landwirtschaftlichen von industriellen Betrieben eine so starke und offenkundige, dass sie eines Beweises gar nicht mehr bedarf.

Wenn sich nach Ausscheidung der nicht selbständigen Landwirte die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe, die in einer sozialistischen Gesellschaft „privatwirtschaftlich“ weiter zu betreiben wären, von fünf auf zwei Millionen reduziert, so würde die Zahl der letzteren wieder merklich sinken, wenn man alle jene ausschiede, die von einem industriellen Betrieb abhängig sind. Wenn man die 400 Zuckerfabriken verstaatlicht, so bringt man damit auch die 113.244 Betriebe, die Zuckerrüben anbauen, in vollste ökonomische Abhängigkeit von der Staatswirtschaft. An genossenschaftlichen und Sammelmolkereien sind 148.082 Betriebe beteiligt. Wie viele Produzenten von Milch, Gemüsen, Früchten sind heute nur noch Teilarbeiter der großen Konservenfabriken usw.! Daneben sind jene landwirtschaftlichen Betriebe in Betracht zu ziehen, die nicht in direkter ökonomischer Verbindung mit einem bestimmten Industriebetrieb stehen, die aber in ihrem Bestand von einem bestimmten Industriezweig abhängen. Sobald diese reif werden zur Verstaatlichung, müssen jene, wenn auch nicht juristisch, so doch tatsächlich ihnen folgen. In den Ländern des Tabakmonopols sind zwar bloß die Tabakfabriken Großbetriebe, aber die kleinen Tabakpflanzer sind nicht „Herren im eigenen Hause“, sondern im Anbau und der Verwertung ihres Produkts vollständig den staatlichen Behörden unterworfen. In Deutschland würde ein Tabakmonopol über 150.000 Tabakpflanzer in sehr wichtigen Stücken der „Privatwirtschaft“ entziehen.

Zu alledem gesellt sich noch ein Moment. Die kapitalistische Produktionsweise hat die Tendenz, das Grundeigentum und den landwirtschaftlichen Betrieb in der Weise zu trennen, dass Grundbesitzer und Landwirt zwei verschiedene Personen werden. Das liegt klar zu Tage beim Pachtsystem, aber tatsächlich wird dasselbe erreicht durch das Hypothekensystem. Die Funktionen des Hypothekengläubigers entsprechen denen des Grundbesitzers unter dem Pachtsystem; sie sind hier wie dort gleich einfach: Einstecken der Grundrente ohne jegliches Eingreifen in den Produktionsprozess. Je weiter das Pachtsystem entwickelt ist, je weiter die Hypothekenverschuldung vorgeschritten, desto zahlreicher jene Landwirte, die kein Interesse mehr am Privateigentum an Grund und Boden haben, sondern vielmehr, wenigstens in einem Staatswesen, in dem sie gehört werden, ein Interesse an der Verstaatlichung hier des Grundeigentums, dort der Hypothekenschulden, was allerdings noch nicht den Sozialismus in der Landwirtschaft, aber in einem demokratischen Staate schon einen erheblichen Schritt dahin bedeutet.

Da ist es nun bemerkenswert, dass das Pachtsystem zunimmt. Man zählte 1895 im Deutschen Reiche landwirtschaftliche Betriebe:

 

Mit ausschließlich
gepachtetem Boden

Mit ganz oder teilweise
gepachtetem Boden

Mit ausschließlich
eigenem Boden

1882

829.137

2.322.899

2.953.445

1895

912.959

2.607.210

2.951.107

Zu- oder Abnahme

+ 83.822  

 + 284.311

   − 2.338

Von je 100 Betrieben entfielen auf die einzelnen Kategorien

1882

15,7

44,02

55,98

1895

16,4

46,91

53,09

Zu- oder Abnahme

+ 0,7  

+ 2,89  

− 2,89  

Dass die hypothekarische Verschuldung der Landgüter zunimmt, ist bekannt. Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei bemerkt, dass die Verschuldung nicht notwendig Niedergang der Landwirtschaft bedeutet. Sie kann ebenso wie das Steigen der Bodenpachten einem Steigen der Grundrente, einem Fortschritt der Landwirtschaft entspringen. Aber das Wachsen der Hypothekenschulden beweist auf jeden Fall, dass der Prozess der Loslösung der Landwirtschaft vom Grundbesitz, die Verselbständigung der Grundrente weiter vor sich geht und das Interesse des Landwirts an dem privaten Grundeigentum sich verringert. Wenn in Preußen innerhalb zehn Jahren (1886 bis 1895) die ländlichen Grundstücke mit 1½ Milliarden Mark neu belastet wurden, so ist eben in diesem Zeitraum tatsächlich Grundeigentum in diesem Werte von den Landwirten an die Hypothekengläubiger übergegangen.

Gleichzeitig geht aber, und das weit rascher, als die Konzentration der Bodenflächen einzelner Betriebe, die Konzentration der Hypothekenschulden in den Händen einiger Banken, Sparkassen und dergleichen vor sich.

Dieser Konzentrationsprozess ist unbestritten. Man hat freilich darauf hingewiesen, dass die Hypothekenbanken nicht die eigentlichen Gläubiger der Landwirte seien, sondern nur die Vermittler zwischen ihnen und den einzelnen Kapitalisten, welche die Pfandbriefe kaufen. Das macht allerdings einen großen Unterschied für die Kapitalisten, nicht aber für die Landwirte. Sie haben mit der Bank zu tun und nicht mit den Inhabern der Pfandbriefe. Sie ist es, die ihnen den Mehrwert abnimmt, die ihre Güter subhastiert, wenn sie die Zinsen nicht zahlen können. An Stelle der komplizierten und unendlich variierenden persönlichen Beziehungen Hunderttausender von Bauern zu Hunderttausenden von Dorfwucherern haben wir uniforme Beziehungen der Ersteren zu einigen wenigen bürokratischen Zentralanstalten, die jetzt schon staatlich beeinflusst und kontrolliert werden, deren Verstaatlichung technisch eine sehr einfache Sache ist.

So sehen wir, dass der Konzentrationsprozess des Kapitals auch auf dem flachen Lande nicht mäßig ist. Freilich, die Erwartung, der Marx bei der Gründung der „Internationale“ Ausdruck gab, hat sich nicht erfüllt; die Vereinfachung der Agrarfrage durch Konzentration der gesamten Bodenfläche in wenigen Händen ist nicht eingetreten. Aber dennoch wirkt die Konzentration des Kapitals auf die Einverleibung der Landwirtschaft in den gesellschaftlichen Produktionsprozess hin, einmal durch Verwandlung der Kleinbauern in Lohnarbeiter, durch steigende Verquickung von Landwirtschaft und Industrie, durch Zunahme des Pachtsystems und der Hypothekenschulden, die immer mehr in großen gesellschaftlichen Instituten zentralisiert werden.

Zu jener Einfachheit und Klarheit der Verhältnisse, wie in der Industrie, werden wir in der Landwirtschaft freilich nie gelangen. Unzählige Tendenzen und Gegentendenzen wirken da durcheinander und gegeneinander, die Klassenverhältnisse sind zwitterhaft, namentlich dort, wo das Pachtsystem wenig entwickelt, wo die Masse der Unternehmer und vielfach auch der Lohnarbeiter noch Anteil am Grundeigentum hat. Der Wechsel der Jahreszeiten bringt oft Wechsel der Klassenverhältnisse mit sich. In dem einen Monat kann derselbe Landmann Unternehmer sein, im nächsten Lohnarbeiter; nimmt man dazu noch die lokale Isolierung und als deren Folgeerscheinung die lokale Verschiedenheit der Verhältnisse auf dem flachen Lande, dann begreift man die Schwierigkeit für das ländliche Proletariat, zu einem entschiedenen Klassenbewusstsein zu gelangen.

Über die Schwierigkeiten der Landagitation und der Feststellung ihrer theoretischen Grundlagen brauchen wir uns nicht zu täuschen. Aber nichtsdestoweniger steht es fest, dass die Konzentration des Kapitals vor dem flachen Lande nicht Halt macht, und dass sie, wenn auch auf Umwegen, auf dem Gebiet der Landwirtschaft in gleicher Richtung wirkt wie auf dem der Industrie.

Sind aber die Erwartungen nicht völlig in Erfüllung gegangen, die Marx in Bezug auf die Konzentration des Grundbesitzes hegte, so haben sich um so glänzender jene erfüllt, die er in Bezug auf die Gesamtheit des modernen Produktionsprozesses aussprach. Die „Kapitalmagnaten“, welche alle Vorteile des kapitalistischen „Umwälzungsprozesses usurpieren und monopolisieren“, sind zur Wirklichkeit geworden in der kurzen Spanne Zeit, seitdem Marx diesen Satz niedergeschrieben, und werden immer mehr zur Wirklichkeit durch die Vollendung der Kapitalkonzentration in der Form der Kartelle und Trusts.

Diese Gebilde sind ganz moderne Schöpfungen. Die Versuche, den Handel zu monopolisieren, aus ihm die Konkurrenz auszuschließen durch Vertreiben der Konkurrenten, Aufkauf der Waren, beginnen bereits in einem frühzeitigen Stadium des Warenhandels. In der Reformationszeit sind die Klagen darüber allgemein. Aber der Ausschluss der Konkurrenz aus der Produktion, die Monopolisierung ganzer Industriezweige durch Zusammenfassung aller Betriebe in einer einzigen Organisation – Industriezweige nicht einer kleinen Stadt, sondern eines großen Staates, ja der Welt, Industriezweige, die nicht seltene Luxusartikel erzeugen, sondern Produkte für den alltäglichen Konsum großer Massen – diese Monopolisierung ist eine Erscheinung, die erst seit Marx’ Tode (1883) eine ökonomische Bedeutung erlangt hat, seitdem aber in einer Weise fortschreitet, dass sie immer mehr das gesamte ökonomische und auch das politische Leben der kapitalistischen Nationen beherrscht.

Wir werden auf die Kartelle und Trusts noch bei Gelegenheit der Krisentheorie zu sprechen kommen, hier möge also der einfache Hinweis auf sie genügen.

Die hohe Finanz hat seit ihrem Entstehen die Regierungen in Abhängigkeit von sich gehalten, dank der Staatsschulden. Aber die modernen Finanzkönige beherrschen durch die Kartelle und Trusts die Nationen direkt, machen sich die gesamte Produktion Untertan. Namentlich sind es die Produzenten der Grundbedingungen aller Großindustrie, Kohle und Eisen, deren Verbände die innere und äußere Politik und das gesamte Wirtschaftsleben immer mehr bestimmen.

Der Kampf gegen manche Kartelle tut wieder neue Kartelle der von jenen abhängigen Industrien hervor, mitunter erzwingt er die Zusammenfassung von Betrieben verschiedener Art zu einem einzigen Riesenbetrieb. So sehen wir jetzt in Deutschland einen Kampf zwischen dem Kohlensyndikat, das die Kohlenpreise in die Höhe schraubt, und den Eisenindustriellen, die sich die Preistreiberei nicht gefallen lassen wollen. Große Eisen- und Stahlwerke suchen sich zurzeit, wo wir dies schreiben, von der Herrschaft des Kohlenkartells dadurch zu befreien, dass sie selbst Zechen erwerben. Aber die Kartelle der Eisenindustriellen machen es ebenso wie das Kohlensyndikat und treiben ebenfalls die Preise ihrer Produkte möglichst in die Höhe. In Österreich führt das Eisenkartell zur Bedrängnis aller Industrien, die Eisen in erheblichem Maße konsumieren. Schließlich wird es vielleicht zu Vereinigungen von Eisenkonsumenten kommen, die gemeinsam Eisenwerke erwerben und betreiben. Dass Riesenbetriebe, wie Eisenbahnen, schon längst ihre eigenen Kohlengruben und Lokomotivenwerkstätten haben, ist bekannt.

Die Kartellierung oder Vertrustung verschiedener Betriebe derselben Art auf der einen Seite, auf der anderen die Zusammenfassung mannigfacher Betriebe verschiedener Art in einer Hand, das sind die Erscheinungen, die unser heutiges ökonomisches Leben am meisten charakterisieren. Immer rascher gehen diese Zusammenfassungen vor sich; kaum ein Tag vergeht jetzt in der Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs, der nicht von einem neuen Kartell zu melden wüsste. Die landwirtschaftlichen Industrien tun dabei lustig mit; zum Spiritusring gesellt sich das Zuckerkartell; von einem Butterkartell der großen Molkereien ist auch schon die Rede.

Diese ganze, kaum zwei Jahrzehnte alte Entwicklung ist nur möglich geworden durch die Konzentration des Kapitals, die sie ihrerseits wieder aufs Mächtigste fördert. Dass die Marxsche Konzentrationstheorie vollständig, nicht bloß einseitig richtig ist, dass sie ein völlig getreues Bild der kapitalistischen Wirklichkeit gibt, bezeugen die Kartelle und Trusts aufs Beste. Bernstein aber, der bei seiner Kritik der Konzentrationstheorie den dürftigsten Krautacker und die kleinste Nähmamsell nicht übersieht, er schweigt dabei vollständig von den Unternehmerverbänden, der wichtigsten Erscheinung, die das ökonomische Leben außer der Agrarkrisis seit Marx’ Tode hervorgerufen, und deren Studium unerlässlich ist für jeden, der es sich zur Aufgabe macht, die Marxsche Ökonomie weiterzubilden.

Wo die Kartelle für Marx sprechen, ignoriert er sie. Erst dort erinnert er sich ihrer, wo er glaubt, dass sie gegen Marx sprechen, bei Behandlung der Krisentheorie.
 

c) Die Zunahme der Besitzenden

Bernstein hat nichts gebracht, was uns veranlassen könnte, von der Marxschen Theorie der fortschreitenden Konzentration des Kapitals abzuweichen. Die Gewerbezählung ebenso wie das Aufkommen der Kartelle und Trusts bestätigen sie aufs glänzendste und die landwirtschaftliche Entwicklung zeigt sich mit ihr nicht unvereinbar.

Fortschreitende Konzentration des Kapitals heißt aber fortschreitende Verminderung (wenigstens relative) der kleineren Unternehmungen, Zunahme der großen Unternehmungen, also Zunahme der Proletarier und – bis zu einem gewissen Stadium – der Kapitalisten, aber stärkere Abnahme der kleinen Unternehmer, also Zunahme der Besitzlosen, Abnahme der Besitzenden.

Diese Annahme erklärt Bernstein für falsch. Er schrieb in seiner Erklärung an den Stuttgarter Parteitag:

„Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das Manifest schildert. Es ist nicht nur nutzlos. es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.“

Diese Behauptungen wiederholt er in seiner Streitschrift mit besonderer Schärfe:

„Es ist durchaus falsch, anzunehmen, dass die gegenwärtige Entwicklung eine relative oder gar absolute Verminderung der Zahl der Besitzenden aufweist. Nicht „mehr oder minder“, sondern schlechtweg mehr, d. h. absolut und relativ wächst die Zahl der Besitzenden. Wären die Tätigkeit und die Aussichten der Sozialdemokratie davon abhängig, dass die Zahl der Besitzenden zurückgeht, dann könnte sie sich in der Tat „schlafen legen“. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht vom Rückgang, sondern von der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums hängen die Aussichten des Sozialismus ab. Der Sozialismus oder die sozialistische Bewegung der Neuzeit hat schon manchen Aberglauben überlebt, sie wird auch noch den überleben, dass ihre Zukunft von der Konzentration des Besitzes oder, wenn man will, der Aufsaugung des Mehrwerts durch eine sich verringernde Gruppe kapitalistischer Mammuts abhängt“ (S. 50–51).

Und auf S. 178 heißt es:

„Dass die Zahl der Besitzenden zu- und nicht abnimmt, ist nicht eine Erfindung bürgerlicher Harmonieökonomen, sondern eine von den Steuerbehörden oft sehr zum Verdruss der Betreffenden ausgekundschaftete Tatsache, an der sich heute gar nicht mehr rütteln lässt. Was hat aber diese Tatsache für den Sieg des Sozialismus zu besagen? Warum soll an ihr, beziehungsweise ihrer Widerlegung die Verwirklichung des Sozialismus hängen? Nun, einfach deshalb, weil das dialektische Schema es vorzuschreiben scheint.“

An Deutlichkeit lassen diese Behauptungen anscheinend nichts zu wünschen übrig. Und doch, sobald man sie prüfen will, stolpert man sofort über eine Unklarheit. Bernstein spricht von den Besitzenden. Wer sind die Besitzenden? Marx hat in seinem Kapital keine Theorie der Zu- oder Abnahme der Zahl der „Besitzenden“ aufgestellt. Diese bilden überhaupt keine besondere Klasse. Ist jeder, der etwas hat, ein „Besitzender“, dann sind die Lohnarbeiter auch Besitzende. Besitzen sie doch Kleider und Wäsche, meist auch Möbel, mitunter ein Häuschen und einen Kartoffelacker.

Weder im Kapital noch im Manifest finden wir die Behauptung der Abnahme der Besitzenden. Wohl aber finden wir betont die Zunahme der Proletarier, der „Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt“. Wenn ihr Klassenkampf mit ihrem Siege endigt, muss er notwendigerweise im Sozialismus endigen. Wie kann er aber zu ihrem Siege führen, wenn die Zahl der Proletarier nicht absolut und relativ zunimmt? Wenn Bernstein behauptete, die Zahl der Besitzenden nehme zu, nicht ab, dann lag es wohl am nächsten, diesen etwas unbestimmten Ausdruck als gleichbedeutend zu nehmen mit der Behauptung der relativen Abnahme des Proletariats. Woher aber dann seine Zuversicht für den Sieg des Sozialismus? Man muss sich erinnern, dass Bernstein im Kapitel über die materialistische Geschichtsauffassung betont, die ethischen Faktoren erhielten in der modernen Gesellschaft einen „größeren Spielraum selbständiger Betätigung, als dies zuvor der Fall war“ (S. 11). Da durfte man wohl annehmen, dass Bernstein in dieser selbständigen, von keinen ökonomischen Bedingungen abhängigen Ethik und nicht vom Klassenkampf des Proletariats den Sieg des Sozialismus erwartete. Das war auch meine Ansicht und ich wurde darin bestärkt durch seine (oben mitgeteilten) Ausführungen im Vorwärts, in denen er es für unmöglich und unnötig erklärt, dem Sozialismus eine materialistische Begründung zu geben und uns als Gewähr seines Sieges auf das Rechtsbewusstsein „der Menschen“ verweist.

„Gerade weil ich die Kraft des Rechtsbewusstseins als treibenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung anerkenne“, meint er dort, „lege ich auf solche Fragen, wie Ab- oder Zunahme der Besitzenden, nicht das Gewicht, wie es diejenigen tun, und allerdings auch tun müssen, die am Satz von der ‚immanenten ökonomischen Notwendigkeit‘ festhalten.“

Aber mit meiner Annahme, dass Bernstein, wenn er trotz der Zunahme der Besitzenden den Sieg des Sozialismus prognostiziere, diesen auch vom Rechtsbewusstsein der Besitzenden, nicht bloß der Besitzlosen erwarte, kam ich schön an. „Grobes Missverständnis“ ist das Mindeste, was mir Bernstein in seiner Erwiderung vorwarf (Vorwärts, 18. April):

„Wie tief seine (Kautskys) Meinung von meiner geistigen Verfassung auch sein mag, den Unsinn wird selbst er mir nicht zutrauen, dass ich den Sieg des Sozialismus vom Rechtsbewusstsein der jetzigen Besitzenden erwarte. Denn Rechtsbewusstsein ist das Bewusstsein, dass ich das Recht auf meiner Seite habe ... Ich halte es nur für unmöglich und unnötig, den Sozialismus ausschließlich aus der Ökonomie abzuleiten. Die Konzentration der Produktionsmittel braucht von sich aus noch nicht zum Sozialismus zu führen, es ist noch nicht bewiesen, dass sie nicht auch mit anderen Gesellschaftsformen vereinbar wäre. Der Sozialismus wird erst notwendig, wenn, und in dem Maße als zu jener Konzentration u. a. das bewusste Streben der nichtbesitzenden Klasse hinzutritt, die konzentrierten Produktionsmittel der privaten Leitung zu entziehen und an der gesellschaftlichen Leitung der Produktion als vollberechtigte Glieder teilzunehmen.“

Also man darf Bernstein nicht den „Unsinn“ zutrauen, den Sieg des Sozialismus vom Rechtsbewusstsein der Besitzenden zu erwarten; dieser Sieg wird hervorgehen aus der Konzentration der Produktionsmittel und (unter anderem) aus dem bewussten Streben der nichtbesitzenden Klasse. Nach demselben Bernstein ist es aber bloß das „dialektische Schema“, das den Sieg des Sozialismus von der Zunahme der „nichtbesitzenden Klasse“, also der Abnahme der Besitzenden abhängig macht. Heute sind die Besitzlosen noch zu schwach, den Sozialismus durchzuführen. Die Besitzenden werden aber nach Bernstein von Tag zu Tag stärker. Von ihrem Rechtsbewusstsein ist nichts zu erwarten und doch ist der Sieg des Sozialismus unzweifelhaft. Woher? Warum? Darüber wissen wir jetzt weniger als je.

Ebenso wenig hat uns die Diskussion mit Bernstein nähere Aufklärung darüber gebracht, was Bernstein unter den „Besitzenden“ versteht. Ich hatte ihn auf die Zahlen der Berufszählung verwiesen. Danach sind im Deutschen Reiche in Landwirtschaft, Industrie und Handel die Selbständigen von 32 auf 29 Prozent der Erwerbstätigen herabgegangen; die Zahl der Lohnarbeiter und Angestellten ist dagegen von 68 auf 71 Prozent gestiegen. Das heißt doch sicher Zunahme des Proletariats. Darauf erwiderte Bernstein im Vorwärts, 26. März:

„Richtig ist, dass in den vorgeschrittenen Ländern die Zahl der Lohnarbeiter heute schneller wächst, als die der Gesamtbevölkerung. Aber es ist mir nie eingefallen, das zu bestreiten. Kautsky liest in meine Sätze Dinge hinein, die ganz und gar nicht darin stehen.“

Das ist sicher eine sehr schlechte Gewohnheit von mir, aber ich fürchte, ich werde sie nicht so leicht ablegen, solange uns Bernstein über die von ihm gebrauchten Bezeichnungen so sehr im Dunklen lässt.

In seiner Stuttgarter Erklärung spricht er bald von „Besitzenden“, bald von „Kapitalisten“. Im Vorwärts (21. April) erklärt er, das Wort „Besitzende“ werde von ihm durchgängig in dem Sinne gebraucht von Leuten, „die kraft ihres Eigentums höheres Einkommen beziehen“. Das wären also Kapitalisten und Großgrundbesitzer. Dass die Zahl der letzteren zunimmt, behauptet auch Bernstein nicht. Dass aber die Zahl der Kapitalisten zunimmt, haben Marx und Engels nicht geleugnet. Diese Zunahme ist vielmehr eine selbstverständliche Folge der Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Zahl der gewerblichen Großbetriebe (mit mehr als 50 beschäftigten Personen) ist im Zeitraum von 1882 bis 1895 im Deutschen Reiche von 9.974 auf 18.995, um 90 Prozent, gewachsen. Hat sich die kapitalistische Bevölkerung in demselben Maße vermehrt, was allerdings nicht festgestellt werden kann, so hat sie sich binnen 13 Jahren fast verdoppelt.

Wollte also Bernstein bloß behaupten, dass die Zahl der Kapitalisten, derjenigen, „die kraft ihres Eigentums höheres Einkommen beziehen“, sich vermehrt, so hätte er vollständig recht. Gleichzeitig ist aber auch die proletarische Bevölkerung stark gewachsen, stärker als die Gesamtbevölkerung. Schon daraus kann man schließen, was wir noch deutlicher bestätigt sehen werden, dass die Zunahme der Kapitalisten nicht auf Kosten des Proletariats, sondern auf Kosten der übrigen Volksschichten sich vollziehen muss – also des Kleinbürgertums und der Bauernschaft.

Etwas anderes behauptet das Kommunistische Manifest gar nicht. Das ist aber gerade jene Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Bernstein leugnet. Also will er wohl die „Besitzenden“ doch nicht einfach den Kapitalisten gleichsetzen.

Auf S. 50 seines Buches bemerkt denn auch Bernstein:

„Natürlich sind nicht alle Empfänger von höheren Einkommen „Besitzende“, aber in wie hohem Maße dies der Fall, ersieht man daraus, dass für 1895/96 in Preußen 1.552.332 Zensiten mit einem steuerbaren Nettovermögensbesitz von über 6.000 Mark zur Ergänzungssteuer herangezogen wurden. Über die Hälfte davon, nämlich 598.063, versteuerten ein Nettovermögen von mehr als 20.000 Mark, 385.000 ein solches von mehr als 32.000 Mark.“

Im Vorwärts weist Bernstein darauf hin, wie oben angeführt, dass er unter „Besitzenden“ in seinem Buche „durchgängig“ Leute verstehe, „die kraft ihres Eigentums höheres Einkommen beziehen“. Dass man aber „kraft“ eines Eigentums von 6.000 Mark, ja selbst von 32.000 Mark ein „höheres Einkommen“ bezieht, dürfte wohl niemand annehmen. Hier versteht Bernstein unter „Besitzenden“ nicht Leute, die kraft ihres Eigentums höheres Einkommen beziehen, hier begreift er unter Besitzenden neben den Kapitalisten auch die Mittelschichten, das Kleinbürgertum. Dementsprechend sagt er auch auf S. 52:

„Wollte die Arbeiterklasse darauf warten, bis das Kapital die Mittelklassen aus der Welt geschafft hat, so könnte sie wirklich einen langen Schlaf tun. Das Kapital würde diese Klassen in der einen Form expropriieren und sie in der anderen immer wieder neu ins Leben setzen.“

Und auf S. 65:

„Einkommensskala und Betriebsskala zeigen in ihrer Gliederung einen ziemlich ausgeprägten Parallelismus, besonders soweit die Mittelglieder in Betracht kommen. Wir sehen diese nirgends abnehmen, vielmehr fast überall sich erheblich ausdehnen. Was ihnen hier von oben abgenommen wird, ergänzen sie durch Zuzug von unten her, und für das, was dort aus ihren Reihen nach unten fällt, erhalten sie von oben her Ersatz. Wenn der Zusammenbruch der modernen Gesellschaft vom Schwinden der Mittelglieder zwischen der Spitze und dem Boden der sozialen Pyramide abhängt, wenn er bedingt ist durch die Aufsaugung dieser Mittelglieder von den Extremen über und unter ihnen, dann ist er in England, Deutschland, Frankreich heute seiner Verwirklichung nicht näher wie zu irgendeiner früheren Epoche im neunzehnten Jahrhundert.“

Dieser Satz steht allerdings im Gegensatz zu dem Kommunistischen Manifest, das da sagt: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Er ist aber auch unvereinbar mit der Gleichsetzung von Besitzenden und Kapitalisten, wenn diese, also die Kapitalisten, und die Proletarier gleichzeitig relativ zunehmen. Denn eine solche Zunahme kann nur geschehen auf Kosten der Mittelglieder, also in der vom Kommunistischen Manifest gekennzeichneten Weise.

Herr Oppenheimer sucht Bernstein in den Sozialistischen Monatsheften zu Hilfe zu kommen und erklärt, man müsse scharf unterscheiden zwischen den Gebieten der Produktion und der Verteilung. Die Zahl der unselbständigen Lohnarbeiter nehme zu, aber diese hören immer mehr auf, gedrückte Besitzlose zu sein. In diesem Sinne sei Bernsteins Ausspruch von der Zunahme der Besitzenden zu verstehen.

„Der durchgehende Parallelismus in der Bewegung beider Gebiete ist Dogma geworden; und jetzt, wo Bernstein auf Grund eines kolossalen Zahlenmaterials jenen Parallelismus leugnet – und das ist der wirtschaftstheoretische Angelpunkt seiner Ausführungen – jetzt wird ihm das bestrittene Dogma immer wieder als Beweis entgegengehalten.“

Da haben wir eine dritte Lesart der Zunahme der Besitzenden. Bernstein selbst setzt diese stellenweise gleich den Kapitalisten; andere Stellen seiner Schrift weisen darauf hin, dass er darunter die Mittelschichten versteht; Oppenheimer endlich findet, dass die Zunahme des Wohlstands der Lohnarbeiter damit gemeint ist. Das Steigen der Löhne als Vermehrung der Besitzenden zu bezeichnen, ist allerdings etwas eigenartig. Bernstein sagt auch einmal ausdrücklich, nicht einmal alle Empfänger von höheren Einkommen seien Besitzende, aber wir wollen es nicht für ausgeschlossen erklären, dass man einige Stellen in der Bernsteinschen Schrift in Oppenheimers Sinne deuten könnte.

Wir können uns mit Bestimmtheit weder für die eine noch für die andere Auslegung entscheiden, denn wir sind sicher, dass, für welche immer wir uns aussprechen, Bernstein uns immer grobes Missverständnis und Entstellung seiner Anschauungen vorwerfen wird. Es scheint uns nämlich, dass Bernstein unter der Zunahme der Besitzenden an verschiedenen Stellen Verschiedenes versteht. Das macht eine Kritik seines Satzes weder leicht noch angenehm. Aber nichtsdestoweniger müssen wir uns daran machen. Mit Recht betont Oppenheimer, dass dieser Satz, was immer er bedeuten mag, den „wirtschaftstheoretischen Angelpunkt seiner Ausführungen bildet“; gerade dieser Satz wird trotz seiner Unklarheit von unseren Gegnern am meisten gegen uns ausgebeutet, wir müssen uns also darüber klar werden, wie wir uns ihm gegenüber zu stellen haben.

Er wurde ja nach Oppenheimer „auf Grund eines kolossalen Zahlenmaterials“ gewonnen, also muss dieses uns Anhaltspunkte zu seiner Kritik gewähren.

Ein wahres Glück, dass Bernstein es verstanden hat, dieses „kolossale Material“ auf nicht ganz zwei Druckseiten unterzubringen. Da haben wir einmal die schon oben zitierten Zahlen der preußischen Ergänzungssteuer von 1895-96. Sie sind die einzigen, wie Bernstein selbst zugibt, die eine Zählung von Besitzenden bedeuten. Aber eine Zu- oder Abnahme können sie schon deswegen nicht bezeugen, weil sie sich nur auf ein Jahr erstrecken. Die Ergänzungssteuer ist noch zu kurze Zeit eingeführt, als dass eine Vergleichung verschiedener Jahre bestimmte Schlüsse ermöglichte.

Für Bernstein sind aber auch absolute Zahlen schon von großem Werte. Die Veranlagungsergebnisse zur preußischen Ergänzungssteuer von 1895 erfüllen ihn mit Befriedigung, denn sie zeigen ihm die große Zahl der Besitzenden an. Andere, sehr gut bürgerlich denkende Leute, sind davon weniger entzückt.

„Die Ergebnisse der Veranlagung zur preußischen Ergänzungssteuer (1895)“, schreibt Herkner (Arbeiterfrage, 2. Aufl., S. 9), „geben kein erfreuliches Bild der Vermögensverteilung, wie die nachstehende Tabelle beweist:

Vermögen exklusive Mobiliar

Zensiten

Gesamtsumme der veranlagten Vermögen

Mark

Absolut

 

Prozent

Absolut in Mark

Prozent

6.000 bis 20.000

563.370

48,89

2.978.304

  9,50

20.000 bis 32.000

203.834

17,69

2.214.248

  7,13

32.000 bis 52.000

162.262

14,08

3.286.804

10,59

52.000 bis 100.000

122.683

10,65

4.279.289

13,78

100.000 bis 200.000

  57.179

  4,96

3.993.809

12,86

200.000 bis 500.000

   29.373

  2,55

4.500.373

14,50

500.000 bis 1.000.000

     8.375

  0,73

2.279.304

  9,60

1.000.000 bis 2.000.000

     3.429

  0,30

2.453.064

  7,90

Über 2.000.000

     1.827

  0,16

4.360.638

14,05

„Man kann eine Vermögensteilung unmöglich gut heißen, bei der die zwei obersten, die Millionäre umfassenden Stufen, die 5.256 Angehörige zählen, zusammen noch 1.621 Millionen Mark mehr besitzen, als die zwei untersten Stufen, obwohl diese 767.204 Zensiten darstellen. Und doch bringen diese Zahlen nur den Gegensatz der Besitzverteilung innerhalb der besitzenden Klassen zum Ausdruck. Diese Einkommensverteilung ruft nicht nur vom sozialen, sondern auch vom Standpunkt des wirtschaftlichen Fortschritts schwere Bedenken hervor“ –

jedoch nicht bei Bernstein. Dafür ist er auch nicht bürgerlicher Nationalökonom, sondern nennt sich Sozialdemokrat und Marxist.

Das andere „kolossale Zahlenmaterial“, womit die Zunahme der Besitzenden nachgewiesen werden soll, enthält keine Vermögens- und Besitzstatistik, sondern bloße Einkommensteuerstatistik.

Einkommen und Einkommen aus Besitz ist nicht notwendigerweise dasselbe. Wenn heute drei Viertel der Einkommen über 3.000 Mark aus dem Besitz herrühren und nach dreißig Jahren drei Viertel dieser Einkommen Arbeitseinkommen geworden sind, so wird, wenn die Höhe der Einkommen sich nicht geändert hat, die Einkommensteuerstatistik nicht ahnen lassen, welche Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegangen ist. Gerade über die Ab- und Zunahme der Besitzenden lässt sie uns im Unklaren.

Sie kann auch eine Erhöhung der Einkommen selbst anzeigen, ohne dass eine solche eingetreten. Bleiben wir bei dem obigen Beispiel. Innerhalb dreißig Jahren sei die Höhe der Einkommen konstant geblieben, aber ihr Charakter ändere sich. Vor dreißig Jahren stammten drei Viertel aus dem Besitz, ein Viertel aus Lohn und Gehalt. Nun ist das umgekehrte Verhältnis eingetreten. Einkommen aus dem Gehalt sind aber mit weit größerer Genauigkeit festzustellen, als solche aus geschäftlichen Unternehmungen. Wurde vor dreißig Jahren ein Viertel der Einkommen richtig angegeben und bei drei Vierteln durchschnittlich dreißig Prozent des Einkommens verschwiegen, so würde, ceteris paribus, jetzt auch das umgekehrte Verhältnis eingetreten sein. Die Einkommensteuer würde eine Zunahme der Einkommen anzeigen, die gar nicht der Wirklichkeit entspräche, sondern nur aus der Abnahme der kapitalistischen Einkommen resultierte.

Wir haben eben keine wissenschaftliche Einkommenstatistik, sondern nur eine Statistik zu Steuerzwecken. Sie wird nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach fiskalischen Gesichtspunkten aufgenommen und ihre Ergebnisse werden durch materielle Interessen verfälscht. Die Zahlen der Einkommensteuerstatistik sind demnach selbst für die Untersuchungen der Einkommensverschiebungen nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen und dürfen höchstens symptomatische Bedeutung beanspruchen. Irgendwelche Schlüsse auf die Besitzverteilung gestatten sie nicht. Wir können uns auch nicht erinnern, dass irgend Jemand außer Bernstein die Einkommensteuerstatistik zu diesem Zwecke gebraucht hätte. Man bediente sich ihrer, um das Steigen des Wohlstands zu deduzieren, nicht aber, um Verschiebungen in der Zahl der Besitzenden festzustellen.

In dem ganzen kolossalen Ziffernmaterial ist daher keine, keine einzige Ziffer, die für seinen Satz von der Zunahme der Besitzenden benutzt werden könnte. Immerhin, lassen wir einmal dieses enorme Material auf uns wirken.

Die Einkommenszahlen für Frankreich können wir von vornherein ausscheiden. Es sind nur absolute, nicht relative Zahlen, die also eine Zu- oder Abnahme gar nicht erkennen lassen. Das Jahr ist nicht angegeben, dem sie entstammen. Auch erfahren wir nicht die Daten, auf welche sie sich stützen. Man bedenke, dass Frankreich keine Einkommensteuer hat. Leroy-Beaulieu verzichtete daher darauf, die französischen Einkommen zu berechnen; er suchte aus den Daten des Grundbesitzes und der städtischen Mieten und der Begräbniskassen Anhaltspunkte für die Verteilung des Volkseinkommens zu gewinnen. (Essai sur la répartition des richesses, S. 499) Wenn uns daher Bernstein mit großer Bestimmtheit mitteilt, in Frankreich hätten 1.700.000 Familien ein Durchschnittseinkommen von 5.200 Francs, so müssen wir eine sicherere Basis dafür verlangen, als die einfache Angabe „nach Mullhall“. Es handelt sich offenbar nur um eine Schätzung.

Kommt Sachsen. Hier wird von dem kolossalen Zahlenmaterial nur spärlicher Gebrauch gemacht: „Dort stieg von 1879 bis 1890 die Zahl der Einkommen zwischen 1.600 und 3.300 Mark von 62.140 auf 91.124, die der Einkommen zwischen 3.300 und 9.600 Mark von 24.414 auf 38.841.“ Das ist alles, nebst dem Hinweis in einer Fußnote, „dass zwischen 1879 und 1892 die Zahl der Einkommen zwischen 800 und 3.300 Mark (besser gestellte Arbeiter und Kleinbürgertum) in Sachsen von 227.839 auf 439.948, d. h. von 20,94 Prozent auf 30,48 Prozent der Zensiten stieg.“ Die Entwicklung der anderen Einkommen erfahren wir nicht. Eine Vergleichung erlauben uns also auch die sächsischen Ziffern nicht.

Wir wollen das von Bernstein Versäumte nachholen. Dass wir statt der Ziffern für 1890 die für 1894 setzen, die wir (in einer Tabelle des schon erwähnten Herknerschen Buches) eben zur Hand haben, wird wohl keinen Unterschied machen.

Nach dieser Tabelle betrug im Königreich Sachsen die Zahl der eingeschätzten physischen Personen:

Mit einem Einkommen von

 

1879

 

1894

 

Zunahme

Absolut

 

Prozent

bis 800 Mark

828.686

972.257

143.571

  17,3

800 bis 1.600 Mark

165.362

357.974

192.612

116,4

1.600 bis 3.330 Mark

  61.810

106.136

  44.326

  71,6

3.300 bis 9.600 Mark

  24.072

  41.890

  17.818

  74,0

9.600 bis 54.000 Mark

    4.683

  10.518

    7.835

154,4

über 54.000 Mark

       238

       886

       648

272,0

Nehmen wir den absoluten Zuwachs, dann finden wir, dass die Einkommen unter 800 Mark sich um 143.571 vermehrten, die über 3.300 Mark nur um 24.291. Da aber die Einkommen unter 800 Mark den zweifelhaften Vorteil genießen, drei Viertel sämtlicher Einkommen auszumachen, die über 3.300 Mark dagegen nur ein Zwanzigstel, so erscheint erstere Zunahme, in Prozenten ausgedrückt, weit geringer als letztere. Gehen wir aber von den relativen Zahlen aus, dann finden wir, dass die Einkommen unter 800 Mark am langsamsten wachsen; ihnen schließen sich aber eben jene Einkommen an, deren Zunahme Bernstein allein hervorgehoben hat; sie wachsen neben den kleinsten Einkommen am langsamsten; die von 1.600 bis 3.300 Mark nur um 71,7 Prozent, die von 3.300-9.600 um 74 Prozent. Am schnellsten wachsen die mittleren proletarischen Einkommen, zwischen 800 und 1.600 Mark, um 116,4 Prozent, darunter die geringeren wieder am raschesten, die von 800–950 Mark um 133,5 Prozent, dagegen die von 1.400–1.600 nur um 79,5 Prozent; noch rascher wachsen die Rieseneinkommen über 54.000 Mark, um 272 Prozent. „Man kann also sagen, die gegenwärtige Einkommensverteilung verstärkt relativ am meisten die Schichte des mittleren Arbeiterstandes und die Gruppe der Millionäre“ (Herkner).

Wollte Bernstein nur sagen, dass die Vermehrung der Lohnarbeiter nicht gleichbedeutend ist mit der der Armen, dass Proletarisierung der Volksmasse nicht notwendigerweise ihre Pauperisierung bedeutet, dann durfte er sich auf diese Ziffern stützen, hätte aber dann gegen die Marxsche Theorie sehr wenig bewiesen. Wir werden darauf bei der Besprechung der Verelendungstheorie noch zurückkommen.

Die Marxsche Theorie behauptet bloß, dass am raschesten die Lohnarbeiterschaft und die große Bourgeoisie zunehmen und die zwischen ihr liegenden Schichten relativ abnehmen. Soweit man aus einer Einkommensteuerstatistik darauf schließen kann, sagt die sächsische dasselbe.

Sollte die Bernsteinsche Behauptung von der Zunahme der Besitzenden etwas anderes sein, als eine sonderbare Form der Behauptung, dass die Geldlöhne im Steigen begriffen sind – sollte sie gleichbedeutend sein mit der Behauptung, dass die Zahl der mittleren Besitzenden schneller wächst, als die der Lohnarbeiter und Riesenkapitalisten, dass also die sozialen Gegensätze sich nicht verschärfen, sondern mildern, dann bieten ihm die sächsischen Zahlen nicht die mindeste Stütze.

Aber noch bleiben ihm zwei Beweise: die preußische und die englische Statistik. Auf sie legt er das Hauptgewicht. Sie müssen von durchschlagender Wirkung sein.

„In Preußen gab es, wie die Leser Lassalles wissen, 1854 bei einer Bevölkerung von 16,3 Millionen nur 44.407 Personen mit einem Einkommen von über 1.000 Taler. Im Jahre 1894/95 versteuerten, bei einer Gesamtbevölkerung von gegen 33 Millionen, 321.296 Personen Einkommen über 3.000 Mark. 1897/98 war die Zahl auf 347.328 gestiegen. Während die Bevölkerung sich verdoppelte, hat sich die Schicht der besser situierten Klassen um mehr als versiebenfacht. Selbst wenn man dagegen in Anrechnung setzt, dass die 1866 annektierten Landesteile meist größere Wohlhabenheitsziffern ausweisen als Altpreußen, und dass viele Lebensmittelpreise in der Zwischenzeit erheblich gestiegen sind, kommt noch mindestens ein Zunahmeverhältnis der besser Situierten gegen das der Gesamtbevölkerung von weit über 2 : 1 heraus. Nehmen wir z. B. einen späteren Zeitraum, so finden wir, dass in den vierzehn Jahren zwischen 1876 und 1890, bei einer Gesamtzunahme der Zensiten um 20,56 Prozent, die Einkommen zwischen 2.000 bis 20.000 Mark (das wohlhabende und kleinere Bürgertum) von 442.534 auf 582.024 Steuerzahler, d. h. um 31,52 Prozent anwächst. Die Klasse der eigentlichen Besitzenden (6.000 Mark Einkommen und darüber) wächst in der gleichen Zeit von 66.319 auf 109.095, d. h. um 58,47 Prozent. Fünf Sechstel dieses Zuwachses, nämlich 33.226 von 38.776, entfallen auf die Mittelschicht der Einkommen zwischen 6.000 und 20.000 Mark.“

Diese Zahlen wirken allerdings unwiderstehlich, wenigstens auf den ersten Anblick. Länger freilich nicht. Schon die Vergleichung des alten Preußen von 1854 mit dem neuen von 1894 muss überraschen. Preußen hat sich seitdem nicht nur, wie Bernstein selbst bemerkt, um sehr wohlhabende Landstriche vergrößert, es ist auch der herrschende Staat im Deutschen Reiche, die Hauptstadt Preußens, das 1854 17 Millionen Einwohner zählte, ist die Hauptstadt eines Großstaats geworden, der 1894 51 Millionen Menschen enthielt, also dreimal so viel als das Preußen von 1854. Berlin, das 1854 etwas über 400.000 Einwohner aufwies, hat seine Einwohnerzahl seitdem vervierfacht und hat die Fähigkeit erlangt, alle höheren Einkommen nicht bloß Preußens, sondern des ganzen Reiches, an sich zu ziehen. Die Einkommensteuer Preußens wurde also von einer Reihe von Faktoren begünstigt, die mit der durch die kapitalistische Entwicklung verursachten relativen Zunahme der Besitzenden gar nichts zu tun hatte. Schon das allein verbietet es, der Vergleichung der Zahlen von 1854 und 1894 irgendeine Bedeutung beizumessen.

Dazu kommt aber noch ein anderer, entscheidender Grund. Die Einkommensteuerstatistik von 1894 erfolgte auf Grund eines ganz anderen Gesetzes, als die von 1854. Um nur zwei Unterschiede zu nennen: das Gesetz von 1851 belegte bloß die physischen Personen mit der Einkommensteuer. Das Gesetz von 1891 dehnte die Steuerpflicht auch auf die Erwerbsgesellschaften (Aktiengesellschaften, Konsumvereine) aus. Nach dem ersteren Gesetz wird das Einkommen von Kommissionen eingeschätzt, deren Mitglieder von den Kreis- resp. Stadtvertretungen gewählt werden, und die sich jedes „lästigen Eindringens“ in die Einkommensverhältnisse zu enthalten haben. Das neue Gesetz führte obligatorische Selbstangabe des Einkommens und empfindliche Strafen für falsche Angaben ein, erleichtert auch die Kontrolle der Steuererklärungen. Angesichts dieser und anderer Veränderungen sagt denn auch J. Pierstorff (im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1. Supplementband, 280):

„Eine gründlichere Erkenntnis der bestehenden Einkommensverteilung ist für Preußen erst mit der Einführung des neuen Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 ermöglicht worden. Die Ergebnisse der früheren Klassen- und Einkommensteuer waren, weil lediglich auf Schätzungen Dritter beruhend, für die Erkenntnis der Einkommensverteilung von sehr zweifelhaftem Wert.“

Die Vergleichung der Resultate von 1854 mit denen von 1894 ist also wissenschaftlich wertlos. Aber Bernstein bringt noch andere preußische Ziffern aus den Jahren 1876 und 1890. Gegen diese Ziffern lässt sich jedoch nicht nur dasselbe einwenden, was gegen die von 1854, dass sie unzuverlässig sind, Bernstein gibt sie auch unvollständig wieder. Er entnahm sie der Tabelle, die Soetbeer berechnet hat und die im Handwörterbuch der Staatswissenschaften abgedruckt ist. Nach dieser Tabelle zählte man:

Im Jahre 1876:

Einkommensklassen

Zahl der Zensiten

Einkommen

Ohne Angehörige

Mit Angehörigen

Im Ganzen
Millionen Mk.

Prozent

Personen

Prozent

Personen

Prozent

bis 525 Mark

3.311.752

39,11

  6.369.856

25,65

1.324,7

16,86

525 bis 2.000 Mark

4.704.757

55,57

16.840.444

67,82

4.354,4

55,42

2.000 bis 20.000 Mark

   442.534

  5,22

  1.593.244

  6,41

1.879,1

22,64

Über 20.000 Mark

       8.033

  0,10

       29.240

  0,12

   398,8

  5,08


Im Jahre 1890:

bis 525 Mark

4.094.428

40,11

  8.383.359

28,62

1.647,4

16,58

525 bis 2.000 Mark

5.517.828

54,05

18.562.145

63,81

5.119,7

51,53

2.000 bis 20.000 Mark

   582.053

  5,71

  2.095.348

  7,21

2.475,2

24,96

Über 20.000 Mark

     13.583

  0,13

       47.081

  0,16

   693,8

  6,98

In dieser vollständigen Wiedergabe geben die preußischen Ziffern ein etwas anderes Bild, als in der Auslese, die Bernstein ihnen zu Teil werden ließ. Selbst wenn wir die Zensiten mit mehr als 2000 Mark alle den Besitzenden zurechnen wollten, haben diese sich nur um 145.000 vermehrt, indes gleichzeitig die Einkommen unter 2.000 Mark um mehr als das Zehnfache, um 1.600.000 zunahmen. Nun haben freilich die Einkommen von 2.000 bis 20.000 Mark sich um 31,52 Prozent vermehrt, die Gesamtsumme der Zensiten nur um 20,56 Prozent. Aber gerade die Ärmsten der Armen, die Einkommen unter 525 Mark, haben auch rascher zugenommen, als die Gesamtsumme, nämlich um 23,6 Prozent. Noch krasser erscheint diese Zunahme, wenn man nicht die Zensiten allein, sondern auch ihre Angehörigen in Betracht zieht. Während die Gesamtbevölkerung Preußens von 1876 bis 1890 von 24.832.784 auf 29.087.933 stieg, also um 17,1 Prozent, wuchs die Zahl der Zensiten mit einem Einkommen von unter 525 Mark samt ihren Angehörigen von 6.369.856 auf 8.383.359, also um 31,6 Prozent. Und dabei sank das Durchschnittseinkommen in dieser Klasse von 208 auf 197 Mark. Das nennt Bernstein eine Zunahme der Besitzenden, Ausgleichung der sozialen Gegensätze, die so offenkundig zu Tage liegt, dass es Torheit wäre, sie sich verbergen zu wollen!

Die Quelle, der Bernstein seine Ziffern entnahm, findet deren Sprache denn auch keineswegs so günstig, wie er. „Soetbeer muss selbst zugeben“, heißt es da, „dass die von ihm nachgewiesenen Resultate Anhaltspunkte zu der Behauptung geben, dass sich das Einkommen ungleichmäßiger verteile, da die unteren und oberen Klassen an Häufigkeit zunehmen, die unteren im Durchschnittseinkommen sinken, die höheren steigen.“ Allerdings heißt es weiter: „Er selbst hält aber diesen Schluss nicht für gerechtfertigt, weil die Einschätzung für die befreiten Klassen milder, für die höheren strenger werde, und sich der Fortschritt der Volkswirtschaft gar nicht anders zeigen könne, als dass allmählich immer mehr Steuerpflichtige in die höheren Klassen aufrücken.“ Also mit anderen Worten, Soetbeer erklärt, die Zahlen der preußischen Einkommensteuerstatistik beweisen das Gegenteil dessen, was jetzt auch Bernstein behauptet; trotzdem glaubt er, dass die liberale Auffassung von der fortschreitenden Ausgleichung der sozialen Gegensätze gerechtfertigt sei; einmal aus theoretischen Gründen, die uns hier noch nichts angehen, und dann deswegen, weil die Einschätzungen unzuverlässig seien. Das zeigt aber doch im günstigsten Falle nur, dass die Soetbeerschen Ziffern nichts gegen die Bernsteinsche Behauptung beweisen. Es blieb Bernstein vorbehalten, durch künstliche Isolierung einiger dieser Ziffern aus der Soetbeerschen Tabelle einen glänzenden Beweis für seinen Satz herauszudestillieren.

Dass die Soetbeersche Tabelle nichts beweist, glauben auch wir. Sie umfasst ungefähr denselben Zeitraum, wie die oben erwähnte sächsische Tabelle, zeigt aber eine ganz andere Entwicklungstendenz. In Sachsen finden wir einen Rückgang des Pauperismus und eine Zunahme des besser bezahlten Lohnproletariats auf Kosten der Paupers einerseits, der kleinen Besitzenden anderseits. In Preußen finden wir in dem gleichen Zeitraum eine relative Abnahme des besser bezahlten Lohnproletariats (absolut wächst es um 1.722.000 Köpfe), dafür Zunahme der besitzenden Bevölkerung und eine ebenso große der untersten Schichten des Proletariats.

Es ist nicht anzunehmen, dass Sachsen und Preußen gleichzeitig eine so gegensätzliche Entwicklung durchzumachen gehabt hätten. Viel näher liegt der Schluss, dass zum Mindesten die preußischen Ziffern nichts beweisen, was von vornherein durch die Art der Steuereinschätzung bis 1891 wahrscheinlich gemacht wird.

So bleibt Bernstein nur noch das kolossale Zahlenmaterial, das England bietet.

Selbst angenommen, aber nicht zugegeben, die englischen Zahlen bewiesen eine Zunahme der Besitzenden, so würden sie damit noch nicht beweisen, dass dies das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise sei, denn es scheint, als ob England aufhörte, den Typus des kapitalistischen Industrialismus zu repräsentieren.

Eins ist klar: es wäre lächerlich, die Zunahme der Besitzenden als Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise bloß aus der Besitz- oder gar Einkommensbewegung ihres Wohnorts zu deduzieren. Sollten etwa in Monte Carlo oder im Berliner Tiergartenviertel die Besitzenden rascher zunehmen, als die übrige Bevölkerung, so wäre damit sehr wenig bewiesen. Um die Gesetze einer Produktionsweise zu erforschen, müssen wir ihr ganzes Gebiet ins Auge fassen, nicht ein Stück davon.

England wird aber immer mehr eine Art Tiergartenviertel der Welt. Auf der einen Seite wächst immer mehr sein Kolonialbesitz und die Zahl der englischen Beamten und Glücksritter, welche ihn ausbeuten und die Beute in England verzehren. Noch mehr aber wächst die Zahl der mit englischem Kapital gegründeten wirtschaftlichen Unternehmungen im Ausland – Banken, Handlungshäuser, Fabriken, Eisenbahnen –, deren Leiter und Aktionäre in England wohnen, dort den Mehrwert einsacken und verzehren, der außerhalb Englands produziert worden. Nicht minder wächst der Betrag der außerenglischen Staatsschulden, die von englischen Kapitalisten vorgestreckt worden sind.

„Indien allein“, bemerkte Marx schon vor einem Menschenalter, „hat an 5 Millionen (Pfund) Tribut zu zahlen, für ‚gute Regierung’, Zinsen und Dividenden von britischen: Kapital etc., wobei gar nicht berechnet sind die Summen, die jährlich heimgesandt werden, teils von Beamten als Ersparnisse aus ihrem Gehalt, teils durch englische Kaufleute als Teil ihrer Profite, um in England angelegt zu werden. Von jeder britischen Kolonie sind aus denselben Gründen fortwährend große Rimessen zu machen. Die meisten Banken in Australien, Westindien, Kanada sind mit britischem Kapital gegründet, die Dividenden sind in England zu zahlen. Ebenso besitzt England viel auswärtige Staatspapiere, europäische, nord- und südamerikanische, wovon es die Zinsen zu empfangen hat, dazu kommt dann noch seine Beteiligung bei ausländischen Eisenbahnen, Kanälen, Bergwerken etc., mit den entsprechenden Dividenden ... Was andererseits von England ins Ausland geht an Besitzer englischer Wertpapiere und an Verzehr für Engländer im Ausland, ist dagegen verschwindend“ (Kapital, III, 2, S. 130).

Seitdem dies geschrieben worden, ist die Entwicklung in dieser Richtung mächtig vorgeschritten. Während die Bevölkerung von Großbritannien und Irland 1871 31.800.000 betrug, 1891 37.700.000, also sich bloß um nicht ganz 20 Prozent vermehrte, wuchs die Bevölkerung des britischen Kolonialreichs von 200 Millionen auf über 300 Millionen, also um mehr als 50 Prozent. Noch rascher aber wuchs der Bereich der ökonomischen Ausbeutung für das englische Kapital. Mulhall nahm 1882 den Betrag des im Auslande angelegten englischen Kapitals auf 22 Milliarden Mark an, Bernstein selbst gibt an, dass heute sein Betrag auf 43 Milliarden geschätzt wird. Dagegen gibt er den Betrag des in die englischen Aktiengesellschaften eingezahlten Kapitals auf 22 Milliarden an. Sind diese Ziffern richtig, so ergäbe das eine Verdoppelung des im Auslande angelegten Kapitals binnen anderthalb Jahrzehnten! Auf jeden Fall dehnt sich das Ausbeutungsgebiet (nach der Volkszahl) des britischen Kapitals weit rascher aus als die britische Bevölkerung. Wollte aber Bernstein das Gesetz der Zunahme der Besitzenden in der kapitalistischen Produktionsweise aus den statistischen Zahlen Englands ableiten, so musste er diese Zunahme in Beziehung setzen zur Zunahme der Proletarier nicht bloß in England, sondern im gesamten englischen Ausbeutungsgebiet.

Das ist freilich eine Aufgabe, die sich mit dem gegebenen statistischen Material nicht lösen lässt.

Indessen wäre auch die Vergleichung der Vermehrung der Besitzenden mit der der Gesamtbevölkerung Englands nicht ohne Bedeutung. Ergäbe sie eine raschere Zunahme der Besitzenden, so bewiese sie zwar nicht, dass die Marxschen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise falsch sind, wohl aber dass die Hindernisse des Sozialismus in England wachsen.

Die revolutionäre Kraft in der modernen Gesellschaft ist vom marxistischen Standpunkt nicht das Kapital überhaupt, sondern das industrielle Kapital; dieses bildet die Kraft, welche die Vorbedingungen sozialistischer Produktion schafft und die Proletarier in die Welt setzt, deren historische Aufgabe es ist, diese Produktion herbeizuführen.

Das Handelskapital und das Leihkapital bilden dagegen für sich noch keine revolutionären Kräfte; sie schaffen für sich allein noch kein revolutionäres Proletariat. Wenn in England das Handelskapital und das nicht in der heimischen Industrie beschäftigte Leihkapital rascher wachsen als das industrielle Kapital, dann ist es nicht unmöglich, dass dort die Besitzenden rascher zunehmen als die Bevölkerung. Dann ist es auch möglich, dass dort die sozialen Gegensätze sich vermindern, aus dem Grunde, weil dann die soziale Entwicklung im Vergleich zu der vorwiegend industrieller Länder, wie Deutschland und Amerika ins Stocken gerät.

Es ist zu wiederholten Malen von Engländern selbst die Befürchtung ausgesprochen worden, England werde das Schicksal Hollands teilen, das im 17. Jahrhundert in jeder Beziehung der höchst entwickelte kapitalistische Staat der Welt war, bei dem aber die Entwicklung des kommerziellen und Leihkapitals immer mehr die des industriellen Kapitals überwucherte, so dass schließlich Holland zwar einer der kapitalreichsten und mit Besitzenden am zahlreichsten versehenen, aber auch einer der ökonomisch rückständigsten und für die soziale Entwicklung bedeutungslosesten Staaten wurde.

Ob dies das Schicksal Englands, ob es berufen ist, aus der Werkstatt der Welt ihr Geldschrank zu werden, das lässt sich noch nicht erkennen. Sicherlich aber wird der Sozialismus nur aus der Werkstatt und nicht aus dem Geldschrank entspringen.

Aber diese Unterschiede existieren für Bernstein nicht. Marx hat das industrielle von dem Handels- und Leihkapital gesondert und die Entwicklungsgesetze jeder einzelnen dieser Kapitalsarten untersucht. Bernstein, der sich’s zur Aufgabe gesetzt, den Marxismus zu vertiefen und zu vervollkommnen, wirft alle Kapitalsarten zusammen, setzt dann an Stelle des präzisen Begriffs des Kapitalisten den verschwommenen des „Besitzenden“ und gebraucht noch diesen Begriff in so verschiedenartiger Weise, dass schließlich weder er noch seine Leser recht wissen, was damit gemeint wird. Auf diese Weise wird der Marxismus von seinen Widersprüchen gereinigt und auf eine höhere Stufe gehoben.

Selbst wenn es Bernstein gelänge, für England eine relative Zunahme der Besitzenden zu erweisen, so würde das für sich allein über die allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise nur wenig Licht verbreiten.

Indessen gibt er uns hier ebenso wenig als sonst eine Besitzstatistik, sondern nur eine Einkommensstatistik. Da haben wir zunächst einige absolute Zahlen aus dem Jahre 1893/94, die für sich natürlich gar nichts beweisen. Dann aber kommt sein großer Trumpf, den er zum Teil in fetter Schrift auszeichnet, damit ihn der Leser ja nicht übersieht.

„In der British Review vom 22. Mai 1897 finden sich einige Zahlen über das Wachstum der Einkommen in England von 1851 bis 1881. Danach zählte England Familien mit 150 bis 1.000 Pfund Sterling Einkommen (die mittlere und die kleine Bourgeoisie und die höchste Arbeiteraristokratie): 1851 rund 300.000, 1881 rund 900.000. Während die Bevölkerung in diesen dreißig Jahren sich im Verhältnis von 27 auf 35, d. h. um etwa 30 Prozent vermehrte, stieg die Zahl dieser Einkommensklassen im Verhältnis von 27 auf 90, d. h. um 2331/3 Prozent. Sie wird heute von Giffen auf anderthalb Millionen Steuerzahler geschätzt.“ (S. 49)

Ja, geschätzt! Der große, fettgedruckte Trumpf, er beruht auf einer Schätzung, nicht einer Zählung. Später freilich wird bereits die auf diese Schätzung aufgebaute Hypothese als eine von den Steuerbehörden ausgekundschaftete Tatsache bezeichnet, „an der sich heute gar nicht mehr rütteln lässt“. (S. 178)

Warum wurde aber die Zahl der Zensiten nur geschätzt, nicht gezählt? Aus dem einfachen Grunde, weil das letztere unmöglich ist.

Das englische Einkommensteuergesetz teilt die Einkommen in fünf große Klassen, nach den Quellen, denen sie entspringen:

  1. Grundeigentum,
     
  2. Landnutzung,
     
  3. Staatsrenten,
     
  4. Beamtenbesoldungen und endlich
     
  5. die Klasse aller übrigen Einkommen aus Industrie, Handel etc.

Jede dieser Klassen zerfällt wieder in Unterabteilungen und in jeder derselben wird die Steuer besonders erhoben. Wir erhalten nur die Zahlen der Zensiten und ihre Verteilung auf die einzelnen Steuerstufen innerhalb einzelner Gruppen, die Gesamtzahl der Zensiten und das Gesamteinkommen eines jeden bleiben uns dunkel und können nur „berechnet“, das heißt mehr oder weniger genau geschätzt werden.

Das ist ein Gebiet, wie geschaffen für statistische Schönfärberei.

Wie wenig die englische Einkomensteuerstatistik beweist, davon ein Pröbchen. In Kolbs Statistik werden die Einkommen in Schedula D (Industrie und Handel) von 1812 und 1847 miteinander verglichen. Da finden wir

Einkommen von 150 bis 500 Pfund Sterling Zunahme 196 Prozent

Einkommen von 500 bis 1.000 Pfund Sterling Zunahme 148 Prozent

Einkommen von 1.000 bis 2.000 Pfund Sterling Zunahme 148 Prozent

Einkommen von 2.000 bis 3.000 Pfund Sterling Zunahme 118 Prozent

Einkommen von 3.000 Pfund Sterling und darüber Zunahme 189 Prozent

Dazu bemerkt Kolb: „Die Bevölkerung war im Allgemeinen um 60 Prozent gestiegen, der Wohlstand also dreimal stärker als die Bevölkerung gewachsen“ (vergl. Statistik 1875, S. 431). Das ist fast genau das gleiche Resultat, das uns Bernstein für die Zeit von 1851 bis 1881 vorführt. 1812 bis 1847, das war die schlimmste Zeit für die Arbeiterbevölkerung Englands, die Zeit, der Engels die Schilderungen in seiner Lage der arbeitenden Klassen entnahm, in der das Proletariat zusehends in Pauperismus und Kriminalität versank, kein Arbeiterschutzgesetz, keine kräftige Gewerkschaftsbewegung die physische und moralische Degenerierung des Proletariats aufhielt – die Entwicklung der Einkommensteuer zeigt aber das gleiche Bild wie heute.

Eine treffliche Kritik der englischen Einkommensteuerstatistiken liefert Max Schippel in seinem Buche über Das moderne Elend, 1888. Es trägt das Motto: „Von zweien Welten eine musst du wählen. Hast du gewählt, dann ist kein Rücktritt mehr.“

Selbst Herr Leroy Beaulieu, der bürgerliche Optimist in Optima karma und auf dem in Rede stehenden Gebiet Bernsteins Vorgänger, musste gestehen: „Unglücklicherweise besitzen wir über die Einkommen in England keine so positiven Daten, wie wir sie für dasselbe Phänomen in Deutschland gefunden haben ... Wir sind daher gezwungen, uns auf annähernde Schätzungen zu beschränken (aux indications approximatives).“ (Essay sur la repartition des richesses, S. 526). Aber wo der bürgerliche Schönfärber nur vorsichtig tastend und unter großer Zurückhaltung sich vorwärts bewegt, da akzeptiert der Sozialdemokrat Bernstein leichten Herzens jede Zahl, wo immer sie herstammen mag, wenn sie nur gegen die sozialistische Lehre spricht. Die British Review war (sie ist eingegangen) nicht etwa eine statistische oder nationalökonomische Fachzeitschrift, sondern ein halb politisches, halb literarisches konservatives Wochenblatt, das, nach der einen Nummer, die mir aufzutreiben möglich war, zu urteilen, zu seinen Hauptaufgaben das Herunterreißen nicht bloß des Sozialismus, sondern auch der Demokratie machte. Der Artikel, auf den sich Bernstein beruft, ist ein anonymer Gelegenheitsartikel zum Jubiläum der Königin, polemisierend gegen Utopisten und Radikale, eine lächerliche rosenfarbene Schilderung des sozialen Fortschritts in England, die zu dem Resultat kommt: „Die Arbeiterklasse überrascht uns durch die Schnelligkeit, mit der sie immer reicher wurde; die kleine Bourgeoisie (the middle classes) durch die Schnelligkeit, mit der sie sich vermehrte.“ Als Beweis dafür marschieren die obigen Ziffern auf, die uns einfach vorgesetzt werden, ohne jeden Hinweis auf die Methode, wie sie gewonnen, oder die Quelle, der sie entnommen wurden. Bernstein aber nimmt sie unbesehen hin und hält sie uns mit großer Emphase entgegen. Als gleichwertig mit diesen Zahlen figuriert in dem Artikel der Hinweis auf die zahlreichen Villen, die um London herum gebaut wurden – „Villen mit hübschen Gärten, in denen zierliche junge Damen sich ergötzen und artige junge Herren elegant Lawntennis spielen“ etc. Mit welcher Leichtfertigkeit dieses Jubiläumsfeuilleton die Statistik behandelt, davon nur ein Beispiel. In England gibt es bis heute keine Zählung der Lohnarbeiter, sondern nur eine der Erwerbstätigen, ohne Unterschied ihrer Stellung. Die Angehörigen wieder werden gesondert gezählt. Der Verfasser des Jubiläumshymnus gibt aber mit der größten Bestimmtheit an, die Arbeiterbevölkerung des Vereinigten Königreichs sei 1851 26 Millionen und 1881 30 Millionen stark gewesen. Die Gesamtbevölkerung belief sich aber 1851 auf 27.746.000, 1881 dagegen auf 34.885.000. Die nichtproletarische Bevölkerung (Pächter, Handwerker, Kleinhändler, die Intelligenz, Kapitalisten und Grundbesitzer etc.) hätte demnach 1851 nur etwas über 1½ Millionen betragen, nur 6 Prozent der Gesamtbevölkerung! Das ist einfach absurd. Baxter schätzte 1867 die Lohnarbeiter auf 80 Prozent aller Einkommen beziehenden Personen im Vereinigten Königreich. Da dank der Frauen- und Kinderarbeit die Zahl der Angehörigen bei den Arbeitern eine geringere als bei den höheren Klassen, betrug der Anteil der letzteren an der Gesamtbevölkerung noch etwas mehr als 20 Prozent.

Diese oberflächliche, vulgäre Harmonieduselei ist die wissenschaftliche Quelle, aus der Bernstein seine besten Waffen gegen die marxistische Lehre zieht! Nächstens wird er dem Kapital ein anonymes Feuilleton aus der Woche des Herrn Scherl entgegenstellen!

Je näher wir das statistische Material Bernsteins betrachten, desto mehr wird uns seine Wandlung ein Rätsel. Vergebens suchen wir nach den Tatsachen, die ihn veranlassen konnten, jener Lehre entgegen zu treten, von deren Wahrheit er aufs Tiefste überzeugt war, bei deren Propagierung er in erster Reihe stand, die er gegen alle Anfechtungen siegreich zu verteidigen wusste.



Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012