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Rede gehalten auf dem SPD-Parteitag 22. bis 28. September 1901 Lübeck.
Abgedruckt in Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 2. Auflage, Berlin: Dietz Verlag, Band IV: März 1898–Juli 1914, 1975, S. 76 ff.
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Ich will mich bemühen, möglichst kurz zu sein. Was ich zu sagen habe, ist schon gesagt worden. Und die Hauptsache ist jetzt, dass die Welt erfährt, was die Masse der Parteigenossen über Bernstein denkt. Seine letzte Broschüre [1] gibt mir keinen Anlass, hier zu reden. Die persönliche Seite der Frage will ich ebenfalls nicht berühren und die persönlichen Attacken Bernsteins nicht beantworten. Ich will mich auch nicht darüber beschweren, dass er wieder einen Brief von mir veröffentlicht hat. [2] Wenn jemand, wie er, meine Briefe immer wieder aufs eifrigste liest, sie durch Jahrzehnte aufbewahrt und sie zur Hand hat, wenn er unvorbereitet in einer Debatte spricht, dann erinnert mich das an die Inbrunst eines 18jährigen Jünglings für die ersten Briefe seiner Geliebten. (Heiterkeit) Für mich liegt kein Anlass zur Unzufriedenheit vor mit der Veröffentlichung der Stelle, die er verlesen hat. Es hat mich angenehm überrascht, dass er eine so gescheite Stelle der Versammlung mitgeteilt hat. (Heiterkeit) Das, was ich da sage, ist nur die allgemeine Praxis der Partei, die von niemand in Frage gestellt worden ist. Bernstein hat anerkannt, dass ich selbst Selbstkritik geübt habe, und zwar in meiner Agrarschrift. Zur Selbstkritik gehört die Kritik der eigenen Anschauungen. Selbstkritik ist aber auch die Kritik der Genossen, im Gegensatz zu der Kritik der Gegner. Wenn er meinte, wir übten nicht Selbstkritik, sobald wir ihn kritisieren, so schlösse er sich damit selber aus, rechnete er sich zu den Gegnern, was er natürlich doch nicht will. („Sehr gut!“) Seiner Selbstkritik sagt er nach, dass sie von reiner Liebe zur Partei diktiert sei, wenn wir aber Kritik üben, dann ist es persönliche Gehässigkeit und Dogmenfanatismus. Es gibt nun Leute, die die von Bernstein hervorgerufenen Streitigkeiten als eine Förderung des geistigen Lebens unserer Partei betrachten. Im Vorwärts steht im Begrüßungsartikel [3]: Wenn auch gewisse Ansichten sich schließlich als haltlos erweisen, so bleibt doch der Vorteil einer gewissen Art geistiger Gymnastik; sonst würden wir geistig einrosten. (Heiterkeit) Ich beneide die Genossen im Vorwärts, die so viel Zeit übrig haben, dass sie geistig einzurosten fürchten, wenn nicht diese Gymnastik wäre. („Sehr gut!“) Selbstverständlich meine ich das nur scherzhaft; ich weiß, wie viel die Genossen im Vorwärts zu tun haben. Ist es nicht wahr? Haben wir nicht zu kämpfen gegen eine Welt von Feinden?! Müssen wir da nicht unermüdlich gegen die Kritik unserer Gegner kämpfen? Das ist eine so erschöpfende Arbeit, dass wir weiter geistige Gymnastik, wenn sie nicht geboten, sehr gut entbehren können, ohne einzurosten. („Bravo!“) Dass Bernstein uns neue Einsichten gebracht hat, davon ist heute nicht mehr die Rede. Als Bernsteins erste Broschüre [4] erschien, da wurde sie mit Fanfarentönen begrüßt, da hieß es: Eine neue Zeit ist angebrochen, große Erkenntnisse sind uns geworden. Und wie reden heute die Anhänger Bernsteins: Ach, regt euch doch nicht auf, die Geschichte ist ja nicht der Mühe wert. Es ist nichts dabei herausgekommen. Was wollt ihr eigentlich von Bernstein. („Sehr richtig!“) Ich glaube, schlimmer kann man von dem Ergebnis eines Revisionsfeldzuges nicht urteilen. Bernstein allerdings ist anderer Ansicht. Er hat uns darauf hingewiesen, dass bereits die praktische Folge seines Revisionsprogramms in dem Hainfelder Programm [5] zutage getreten sei. (Widerspruch, Zustimmung. Zuruf Fischers, Berlin: „Er hat gesagt: ‚Was die können, können wir auch!‘“) – Ich habe es wenigstens so aufgefasst; er hat darauf hingewiesen, dass die österreichischen Genossen die Verelendungstheorie aus dem Hainfelder Programm gestrichen haben. Wie steht es denn mit der Verelendungstheorie? Sie sagt, dass es immer schlechter werden muss, ehe es besser werden kann, dass das Proletariat immer mehr und mehr in Elend versinkt, bis es ganz widerstandslos geworden ist, und dass dann erst der große Tag der Befreiung hereinbricht. Genossen, ist diese Verelendungstheorie jemals in der Partei von irgend jemand, der auf Bedeutung Anspruch macht, geteilt worden? Sicher nicht. Diese Verelendungstheorie ist schon längst widerlegt, und zwar von niemand anders als von Karl Marx in seinem Kapital. Dieser Satz ist nur als Tendenz zu verstehen, und nicht als unbedingte Wahrheit; er ist nur so zu verstehen: Das Kapital muss danach trachten, um seinen Mehrwert zu vermehren, die Lage des Proletariats immer elender zu gestalten. Das ist ja bekannt; aber Marx selbst hat die Gegenwirkung bezeichnet, er selbst war einer der Vorkämpfer des Arbeiterschutzes, einer der ersten, der auf die Bedeutung der Gewerkschaften hingewiesen hat, zu einer Zeit, wo die anderen Sozialisten nichts davon wissen wollten, schon 1847. Er hat also bewiesen, dass diese Tendenz absolut notwendig ist, aber dass sie nicht absolut notwendig zur Herunterdrückung des Arbeiters führt. Aber dadurch unterscheiden wir uns von den bürgerlichen Reformern, dass diese glauben, die Tendenz selbst könne überwunden werden, ein sozialer Friede könne hergestellt werden, ein Zustand, bei dem das Kapital nicht danach trachte, die Arbeiter herunterzudrücken. Das Kapital muss danach trachten, und darauf beruht der Klassenkampf, der dahin gehen muss, dass wir dem Kapital seine politischen und ökonomischen Machtmittel entreißen; bevor das nicht getan ist, kann der soziale Friede nicht wiederhergestellt werden, und nur in diesem Sinne haben wir an der Theorie der Zunahme des Elends festgehalten. Wenn die österreichischen Genossen darangegangen sind, den Punkt ein wenig anders zu fassen, so ist das, wie Adler schon in der Wiener Arbeiter-Zeitung ausgeführt hat, nicht dem zuzuschreiben, dass sie ihre alte Anschauung aufgegeben haben, sondern nur dem, dass eben Programme nicht bloß Kinder einer Theorie, sondern auch die Kinder ihrer Zeit sind. Programme müssen im Lapidarstil sprechen, sie behandeln nur jene Punkte eingehender, über die Missverständnisse naheliegen. Welche Punkte das sind, hängt von den Zeitverhältnissen ab. 1891, als das Erfurter und 1888, als das Hainfelder Programm geschaffen wurde, hat man Bernstein noch nicht vorausgeahnt, damals war der Kampf innerhalb des Proletariats nicht zwischen Bernstein und seinen Gegnern, sondern es war ein Kampf gegen die Anarchisten. Daher wurden damals jene Punkte im Programm ausführlicher erörtert, die von der Notwendigkeit des politischen Kampfes reden. Heute hingegen ist es notwendig, die falsche Auffassung der Verelendungstheorie zurückzuweisen und diesem Punkt einen präziseren Ausdruck zu verleihen. Würde heute eine Änderung des Erfurter Programms verlangt, so würde ich ebenfalls beantragen, den Punkt so zu ändern, da Missverständnisse ausgeschlossen sind. Aber diese Missverständnisse sind erst von Bernstein in die Debatte hineingetragen. („Sehr richtig!“) Und nun kommt Bernstein her und sagt, es sei sein Verdienst, dass wir klarer sehen. Nein, es waren immer unsere Gegner, denen wir entgegenhalten mussten, dass unsere Theorie von der Zunahme des Elends keine Theorie zunehmender Verelendung ist, und Bernstein hat uns nur die Aufgabe erschwert, die Klarheit über diese Theorie aufrechtzuerhalten, denn er sagt, diejenigen, die ihm nicht beistimmen, seien noch Anhänger der alten, vorsin tflutlichen Theorie, die schon seit dem Kommunistischen Manifest überwunden ist. Also, Sie sehen, was bei der ganzen Revision herausgekommen ist! Nun sagt Bernstein, sein Vortrag sei ganz harmlos. Ja, wenn Bernstein diesen Vortrag vor 4 oder 5 Jahren gehalten hätte, so hätte sich kein Mensch darum gekümmert; man hätte ihn vielleicht gelesen, den Kopf geschüttelt und gesagt: Ja, was will denn Bernstein eigentlich? Heute wird der Vortrag betrachtet als die Konsequenz seiner Schrift über die Voraussetzungen des Sozialismus. Er wird in diesem Licht betrachtet und bekommt erst in diesem Licht seine Bedeutung. Durch dieses Licht betrachtet ihn auch die bürgerliche Presse, und wir müssen die Folgen tragen. Nicht nur die Welt am Montag, sondern die gesamte bürgerliche Presse Frankfurter Zeitung, Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung haben unisono geschrieben, Bernstein habe wieder bewiesen, dass die Sozialdemokratie nichts anderes sein soll als eine demokratische Reformpartei. Nun kann ja niemand etwas dafür, wenn ihm die Gegner Ansichten unterschieben, die man nicht hat, und wenn Bernstein missverstanden ist, so ist das sein Pech. Ich bedauere ihn darum, aber man ist doch nicht so ganz wehrlos, man braucht sich das Lob der Gegner doch nicht ruhig gefallen zu lassen. Ich habe Bernstein schon früher vorgeworfen, dass er das Lob der Gegner willenlos über sich ergehen ließ; er hat darauf erwidert, dass auch von mir ein Satz missverstanden und von den Gegnern gegen die Partei ausgenutzt wurde. Er meint meine Broschüre über die Handelspolitik, aus der die Agrarier einen Satz ausgebeutet haben. Aber doch nur, solange sie nur ein vom Vorwärts abgedrucktes Kapitel aus der Broschüre kannten! Als die ganze Broschüre ihnen bekannt war, konnten sie diesen Satz nicht mehr ausnützen. Trotzdem habe ich mich nicht dabei beruhigt, sondern die Tatsache, dass ein Satz von mir gegen uns als Waffe gebraucht wurde, als solche Schmach empfunden, dass ich sofort am nächsten Tage, nachdem ich den Artikel in der Kreuz-Zeitung gelesen hatte, meinen Herren Lobrednern in der agrarischen Presse einen solchen Fußtritt versetzte, dass sie sofort auf die Bundesgenossenschaft mit mir verzichteten.
Bei Bernstein handelt es sich nicht um einen Satz aus einem einzigen Kapitel, sondern um das ganze geistige Wirken dreier Jahre; er macht seit drei Jahren nichts als Selbstkritik, soweit er überhaupt kritisch tätig ist. Natürlich hat er auch noch eine andere Tätigkeit, aber seine kritische Tätigkeit richtet sich nur gegen die Partei. Warum tritt er nicht einmal gegen seine Lobredner außerhalb der Partei auf? Das ist dringend notwendig im Interesse der Partei, denn unsere Gegner halten uns fort und fort Bernstein entgegen; sie sagen: „Was versteht denn ihr vom Sozialismus? Bernstein versteht das viel besser, er ist ein alter Marxist, der das und das nicht für durchführbar hält.“ Würde sich Bernstein einmal gegen diese Gegner wenden, gegen die falschen Freunde, die die Arbeiterbewegung für ihre Zwecke ausnutzen wollen, würde er jedes Misstrauen und jede Zweideutigkeit zerstreuen, so könnte er in jeder Beziehung Selbstkritik üben, wie er will. Das ist das, was wir von ihm erwarten und verlangen müssen. Bernstein hat uns daran erinnert, dass er zehn Jahre lang als Redakteur des Sozialdemokrat gewirkt hat. [6] Ja, zehn Jahre lang hat er am Sozialdemokrat gewirkt zu unserer Freude und zu unserem Nutzen, und ich wünsche nichts sehnlicher, als dass er die Tradition, auf die er sich beruft, wieder erneuert. Er hat im Sozialdemokrat Selbstkritik geübt, aber auch unsere Gegner kritisiert, auch die bürgerlichen Sozialreformer, denen er auf das schärfste entgegengetreten ist. Möge er die alten Traditionen erneuern! Dann kann er überzeugt sein, dass auch das alte Verhältnis wiederhergestellt wird und dass er nicht mehr nötig hat, sich über seine Kritiker in der Partei zu beklagen. (Lebhafter Beifall, Händeklatschen.
1. Gemeint ist Eduard Bernstein: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, Berlin 1901
2. In seiner Stellungnahme auf dem Parteitag hatte Eduard Bernstein zu seiner Verteidigung aus einem Brief Karl Kautskys vom 30. August 1897 zitiert. Die Briefstelle lautete: „Was nun den strengen Marxismus anbelangt, so hätte ich das Wort öffentlich kaum gebraucht, aber Dir gegenüber durfte ich mir die Abbreviatur wohl erlauben. Ich meinte selbstverständlich nicht starres Festhalten an allen Resultaten, zu denen Marx und Engels gekommen; das wäre das Gegenteil von Marxismus. Ich betrachte vielmehr die Neue Zeit vornehmlich als Organ der Kritik, und zwar der Selbstkritik, und gerade diese ihre Eigenschaft ist es, die uns so viel Feinde macht.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. September 1901, Berlin 1901, S. 142)
3. Der Begrüßungsartikel zum Parteitag erschien im Vorwärts am 22. September 1901.
4. Gemeint ist Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.
5. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie Österreichs vom 30. Dezember 1888 bis 1. Januar 1889 in Hainfeld wurde ein marxistisches Programm angenommen, auf dessen Grundlage sich verschiedene Gruppen der österreichischen Arbeiterbewegung zu einer revolutionären Partei zusammenschlossen. Auf dem Wiener Parteitag 1901 aber wurde das Hainfelder Programm durch ein revisionistisches ersetzt.
6. Während des Sozialistengesetzes war Eduard Bernstein von 1881 bis 1890 Redakteur der Zeitung Der Sozialdemokrat.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012