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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 21 (14. Februar 1906), S. 677–680.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Zwei Umstände sind [es], denen vor allem die außerordentliche Kraft des russischen Proletariats zuzuschreiben sein dürfte: dem Mangel an einer starken inländischen Kapitalistenklasse und der Notwendigkeit einer politischen Revolution in Russland.
Der Kapitalismus ist im russischen Reiche auf einer anderen Grundlage erwachsen als in Westeuropa. Dort entwickelte sich ein starkes städtisches Bürgertum schon vor dem fürstlichen >Absolutismus; dieser war in seinen Anfängen auf die Hilfe jenes angewiesen gegenüber dem selbständigen Grundadel und Klerus. Beide erstarkten miteinander. Den Überschuss der Arbeit der produktiven Klassen, der unter der Warenproduktion immer mehr die Form von Mehrwert annahm, konnten Monarchen, Aristokraten und Pfaffen nicht allein einstecken, sie mussten einen Teil davon auch der städtischen Bourgeoisie überlassen. Was die Monarchen und Aristokraten schluckten, wurde vergeudet in Kriegführung und Prunk. Was die Kirche annektierte, wurde, soweit es nicht in Wohlleben aufging, als Schatz aufgespeichert. Die Bourgeoisie aber verwandelte den ihr zufallenden Anteil an der Plünderung der arbeitenden Klassen des In- und Auslandes in Kapital, das sie immer mehr anhäufte. Je geringer die Macht der Monarchen, Aristokraten und Pfaffen, je größer die der Bourgeoisie im Lande, desto rascher ging unter sonst gleichen Umständen die Akkumulation, die Aufhäufung von Kapital vor sich. Andererseits, je rascher diese Akkumulation vor sich ging, desto größer – bis zu einem gewissen Punkte – die Zahl und unter allen Umständen die Macht der Kapitalisten nicht bloß den besitzlosen, beherrschten, sondern auch den nichtkapitalistischen, besitzenden, herrschenden Klassen gegenüber; desto größer ihre Macht im Staate.
Anders war die Entwicklung in Russland. Die Macht des Zarismus kam nicht gleichzeitig mit dem Erstarken einer Bourgeoisie oder gar infolge davon auf. Der russische Staat geriet noch als reiner Agrarstaat, als ein geradezu orientalischer Despotismus in engere Verbindung mit Westeuropa, gerade zu jener Zeit, als der Absolutismus dort gesiegt, Kirche und Adel sich unterworfen, eigene Organe der Alleinherrschaft im stehenden Heere und der Bürokratie geschaffen und Misstrauen, ja Feindseligkeit der aufstrebenden Bourgeoisie gegenüber entwickelt hatte. Der russische Despotismus erkannte sofort, wie wertvoll ihm die Machtmittel des westeuropäischen Absolutismus, stehendes Heer und Bürokratie, werden könnten, und er führte sie schnellstens bei sich ein. Das war vor allem die vielgerühmte zivilisatorische Tat Peters des Großen. Franzosen, namentlich aber Deutsche wurden die ersten und besten Werkzeuge, den orientalischen Despotismus der Zaren durch die Machtmittel der kapitalistischen Zivilisation zu kräftigen und dem westeuropäischen Absolutismus ebenbürtig zu machen. Das heißt aber für die innere Politik nichts anderes, als dass die Macht der Zaren stieg, den produktiven Klassen ihre Überschüsse abzunehmen, und dass die Menge der unproduktiven Aufwendungen stieg, die aus diesen Überschüssen, namentlich für Soldaten und Bürokraten, zu bestreiten waren. Peters I. Werk war die Vermehrung der Steuern um das Fünffache. Die Zivilisierung Russlands bedeutete nur eine Verstärkung der Mittel zu seiner Ausplünderung, nicht eine Vermehrung seines Kapitalreichtums, wie in Westeuropa. Eine Kapitalistenklasse von Bedeutung, wie dort, wurde unter diesen Umständen nicht geschaffen.
Die ökonomische Entwicklung des Landes wurde dadurch ungemein verlangsamt, während in dem Maße, in dem seine „Zivilisierung“ fortschritt und seine Verbindung mit Westeuropa enger wurde, die Teilnahme der Zaren an der Politik der europäischen Großstaaten wuchs. Das Reich sollte an Machtmitteln immer mehr gleichen Schritt mit den an Reichtum rasch zunehmenden kapitalistischen Großstaaten halten, indes sein ökonomischer Abstand von ihnen sich eher immer mehr vergrößerte. Die Folge war schon im achtzehnten Jahrhundert eine unglaubliche finanzielle Misswirtschaft. In reichlichstem Maße wurden die beiden Mittel der Regierungen kapitalistischer Länder angewandt, um sich Geld zu verschaffen: Anleihe und Geldfälschung – die Fabrikation ungedeckten Papiergeldes ist auch nichts anderes. War der Kredit gering, pumpte niemand, dann wurde die Notenpresse in Anwendung gebracht. Fand man Geldgeber, dann mochte die Fabrikation falschen Geldes eine Zeitlang ruhen. Wusste man sich gar nicht mehr zu helfen, dann versuchte man einen kleinen Staatsbankrott, wie 1843, wo man das alte Papiergeld außer Kurs setzte und gegen neues eintauschte, wobei man aber für 3½ Rubelnoten bloß eine neue Rubelnote gab.
Die Verschuldung des Staates stieg dabei ununterbrochen. Nun ist freilich das Wachsen der Staatsschulden keine russische Eigentümlichkeit, und es gibt sogar bürgerliche Ökonomen, die meinen, eine große Staatsschuld bilde die Grundlage des Gedeihens für einen Staat. Unter Umständen enthält das ein Körnchen Wahrheit. Die Verzinsung der Staatsschuld bedeutet eine Tributzahlung des Staates an das Kapital. Sie bedeutet, dass die Staatsgewalt die produktiven Klassen ausbeutet, um mit dem Ergebnis das Kapital zu vermehren. Vergrößerung des Proletariats auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite – das bedeutet das Anwachsen der Staatsschulden. Befinden sich nun die Kapitalisten in dem Staate selbst, der ihnen verschuldet ist, dann kann die Staatsschuld zu einer Förderung kapitalistischer Produktion werden, deren Elemente – Proletarier und Kapital – durch ihre Verzinsung geliefert werden. Das arbeitende Volk verarmt dabei, aber die Kapitalistenklasse wird reich und die kapitalistische Produktion entwickelt sich.
Ganz anders wirkt jedoch die Staatsschuld, wenn die geldgebenden Kapitalisten außerhalb des Landes leben. Die Verzinsung der Staatsschuld wird nun zu einem beständigen Abfließen von Geld ins Ausland; soweit die Zinsen zu Kapital werden, bereichern sie das Ausland; das verschuldete Land dagegen verarmt. Hier produziert die Staatsschuld im Lande wohl Proletarier, aber Kapitalisten produziert sie nicht dort, sondern im Ausland. So ergeht es der Türkei und nicht minder dem russischen Reiche.
Aber zwischen den beiden ist doch ein Unterschied. Die Türkei ist bereits so hilflos geworden, dass sie sich den Diktaten des Auslandes willenlos unterwerfen muss. Sie existiert als selbständiger Staat nur noch dank der Eifersucht der verschiedenen Mächte, die keinem die Beute gönnen. Darin sind sie aber alle einig, das unglückliche Land zu plündern und ihm ihre Produkte aufzuzwingen, also das Aufkommen jeglicher Industrie in seinen Grenzen zu verhindern. So führt die türkische Wirtschaft wohl, ebenso wie die russische, zu fortschreitendem Verkommen der Landwirtschaft und Zunahme des Proletariats, aber dieses findet in der Türkei keine kapitalistische Industrie, in der es sich betätigen könnte. Soweit es indolent, bettelt es, soweit es energisch, liefert es Banditen und Aufständische – die sterben in der Türkei nicht aus, so viele man ihrer auch erschießen mag.
So hilflos war bisher Russland nicht. Sobald die russische Regierung erkannte, welch ein Machtmittel eine kapitalistische Industrie ist, versuchte sie auch, das Aufkommen einer solchen zu fördern. An Proletariern mangelt es ja nicht. Millionen von Bettlern und Arbeit suchenden Bauern durchzogen Russland. Woher aber das nötige Kapital nehmen? In Russland war nur wenig davon zu finden. Wieder musste das ausländische Kapital angelockt werden, damit es Eisenbahnen baue, Bergwerke eröffne, Hochöfen, Spinnereien, Webereien, Zuckerfabriken errichte. Und der Überfluss Westeuropas an Kapital, an Mehrwert, den es aus den Arbeitern des eigenen Landes und des Auslandes herausgeschunden, ist seit den achtziger Jahren so gewachsen, dass es in der Heimat längst nicht mehr genügende Anlagemöglichkeiten findet und auf das schlimmste Risiko hin ins Ausland fließt, nach Portugal, Griechenland, der Türkei, Venezuela, warum nicht nach Russland? So wurde vorwiegend mit auswärtigem Kapital eine russische Großindustrie geschaffen, die namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten rapid in die Höhe schoss. Damit verwandelte sich auch ein großer Teil des russischen Proletariats aus Lumpenproletariern oder dürftigen Zwergbauern in Lohnarbeiter, aus furchtsamen und demütigen Bettlern und Knechten in entschlossene revolutionäre Kämpfer. Aber diesem Aufkommen eines starken kämpfenden Proletariats entsprach nicht das Aufkommen einer entsprechenden russischen Kapitalistenklasse. Und das gibt dem Klassenkampf des Proletariats im Zarenreich einen ganz eigentümlichen Charakter.
Wenn das Proletariat Russlands das Kapital bekämpft, kämpft es zum großen Teil gegen das Ausland, gegen die Ausbeuter, die ganz Russland aussaugen und entkräften, die allen Mehrwert, den das Land produziert, aus ihm ziehen. Das Proletariat wird so zum Vorkämpfer des Gesamtinteresses der russischen Gesellschaft.
Andererseits erscheint jetzt der Zar mit seinem ganzen Herrschaftsorganismus an Soldaten, Kosaken und Tschinowniks als der Vertreter der Interessen des Auslands, das ganz Russland ausbeutet. Überall sind die modernen Regierungen die bloßen Kommis des Kapitals, aber der russische Absolutismus ist der Kommis des ausländischen Kapitals. Er ist der Vertreter der Interessen der europäischen Finanz gegenüber dem russischen Volk, das er plündert, um ihr den Löwenanteil der Beute gehorsam auszufolgen. Darin beruht in einer Beziehung die Stärke der jetzigen russischen Regierung. Weil die internationale Wucherbande weiß, welch diensteifrige Vertretung ihrer Interessen sie im Absolutismus hat, stützt sie ihn mit aller Macht, trotzdem sie von der Schwindelhaftigkeit seiner Hochstaplerexistenz vollständig unterrichtet ist. Aber eben deshalb weiß die politisch denkende Bevölkerung Russlands sehr wohl, dass das Reich der Verarmung und Verelendung nicht entgehen kann ohne den Sturz des Absolutismus, und eben deshalb, da es eine starke kapitalistische Bourgeoisie im Lande selbst nicht gibt, die der ruinierenden Politik der Regierung entgegenwirken könnte, fällt der Vorkampf für die Interessen ganz Russlands der einzigen starken modernen Klasse zu, die es besitzt, dem industriellen Proletariat. So übt dieses dort einen gewaltigen politischen Einfluss aus; so wird in Russland der Kampf um die Erlösung des Reiches von dem es erwürgenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der industriellen Arbeiterklasse; zu einem Zweikampf, in den die Bauernschaft in hohem Grade helfend, in keiner Weise aber führend eingreifen kann.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024