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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 24 (7. März 1906), S. 783–785.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Der hier beleuchtete Niedergang des amerikanischen Arbeiters vollzog sich in einem Jahrzehnt kolossalsten wirtschaftlichen Aufschwungs, dessen Ende eine geradezu schwindelerregende Prosperitätsepoche bedeutete; in einem Jahrzehnt enormer Erhebung der Kapitalistenklasse und massenhafter Akkumulation von Kapital. In der großen Industrie allein stieg der Wert des angelegten Kapitals in diesem Zeitraum von 6524 Millionen Dollar auf 9857 Millionen, also um 3333 Millionen Dollar, das sind 14 Milliarden Mark!
Und diese Akkumulation wurde nicht etwa durch ängstliche Sparsamkeit und puritanische Einfachheit der Lebensführung erzielt. Hand in Hand mit dem Wachstum des Kapitals geht vielmehr ein geradezu wahnsinniger Drang nach Verschwendung, der alles übertrifft, was die seit Jahrhunderten an Ausbeutung, arbeitsloses Genießen und Verschwenden gewöhnten großen Ausbeuter Europas bisher auf diesem Gebiete geleistet haben. Auch dafür können wir uns auf Sombart berufen:
„So viel ist außer Zweifel, dass die absoluten Gegensätze zwischen arm und reich nirgends auf der Erde auch nur annähernd so große sind wie in den Vereinigten Staaten. Vor allem weil die Reichem drüben so sehr viel reicher sind als bei uns. Es gibt sicher in Amerika mehr Leute, die 1000 Millionen Mark besitzen, als in Deutschland solche mit 100 Millionen. Wer je etwa in New Port. dem Bajä New Yorks war, wird den Eindruck erhalten haben, dass drüben die Million eine Massenerscheinung ist. Es gibt wohl keinen zweiten Ort der Welt. wo das fürstliche Palais allergrößten Stils so durchaus den Typus des Wohnhauses bildet wie dort. Und wer einmal durch die Verkaufsmagazine von Tiffany in New York geschlendert ist, der wird immer etwas wie Armeleutegeruch selbst in den glänzendsten Luxusgeschäften der europäischen Großstädte verspüren. Der Tiffanyladen, weil er gleichzeitig in Paris und London Filialen hat (eine Proletenstadt wie Berlin oder Wien kommt natürlich für derartige Geschäfte gar nicht erst in Frage), kann vortrefflich dazu dienen, Vergleiche anzustellen zwischen dem Luxus und also dem Reichtum der obersten 400 in den drei genannten Ländern. Da erzählten mir nun die Direktoren des New Yorker Stammhauses, dass von den Waren, die sie in New York feilbieten, der größte Teil zwar aus Europa stamme, wo er speziell für Tiffany New York angefertigt werde. Es sei aber gänzlich ausgeschlossen, dass ein Geschäft in Europa – auch ihre eigenen Filialen in Paris und London – Waren in solchen Preislagen führe, wie sie in New York verlangt würden. Die teuersten (mein Gewährsmann vergaß, hinzuzufügen: und die scheußlichsten) Stücke seien ausschließlich in New York an die Frau zu bringen“ (S. 217, 218).
Also fabelhafte Verschwendung gepaart mit fabelhafter Akkumulation in einem Lande, dessen Bourgeoisie vor wenigen Jahrzehnten erst ökonomisch wie in ihrem Fühlen und Denken das Stadium eines strengen Puritanismus verlassen hatte! Welches Anschwellen der Ausbeutung, der Ausdehnung und dem Grade nach, setzt diese plötzliche Umwandlung voraus!
Auf der einen Seite riesenhaftes Wachstum des Reichtums, auf der anderen ebenso riesenhaftes Wachstum des Elends – wahrhaftig das Eintagsdogma des Revisionismus von der allmählichen Abschwächung der Klassengegensätze wird nirgends glänzender ad absurdum geführt; die Lehre unseres Erfurter Programms, die unsere Revisionisten schon ins alte Eisen werfen wollten, wird nirgends offenkundiger bezeugt, als in der großen Republik jenseits des Weltmeers.
So unbestreitbar und scharf tritt diese Entwicklung aus, dass sie jetzt selbst ein deutscher Professor bezeugen muss, der viel lieber für den Revisionismus Zeugnis ablegte.
Es war ein Gesinnungsgenosse dieses Professors, es war Lujo Brentano, der vor einem Menschenalter, im Jahre 1872 gegen Karl Marx die gröbsten Schmähungen ausstieß, sogar den Vorwurf bewusster Lüge erhob, weil dieser in der Inauguraladresse der „Internationale“ folgenden Satz geschrieben hatte:
„Geblendet durch den ‚Fortschritt der Nation‘, umgaukelt von den Zahlen der Statistik, ruft der (englische) Schatzkanzler in wilder Verzückung aus: In den Jahren 1842 bis 1852 hat sich das steuerpflichtige Einkommen des Landes um 6 Prozent vermehrt, in den acht Jahren 1853 bis 1861 hat es im Verhältnis zum Einkommen des Jahres 1853 um 20 Prozent zugenommen. Diese Tatsache ist so staunenswert, dass sie beinahe unglaublich ist. ... ‚Diese berauschende Vermehrung von Reichtum und Macht‘, fügt Herr Gladstone hinzu, ‚ist ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt.‘“ [1]
Heute finden wir in den Vereinigten Staaten eine noch weit berauschendere Vermehrung von Reichtum und Macht – nach der Zunahme des industriellen Kapitals gemessen eine Vermehrung von mehr als 50 Prozent in einem Jahrzehnt. Aber diese weit berauschendere Vermehrung von heute ist nicht bloß ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkt, sie geht Hand in Hand mit einer absoluten Verschlechterung der Lage der arbeitenden Klassen; die Fortschritte einzelner ihrer Schichten werden mehr als wett gemacht durch die Rückschritte der großen Masse. Das heißt aber, dass die soziale Lage des Proletariats, sein Anteil am Produkt der nationalen Arbeit in ungeheurem Maße zurückgegangen ist.
1. Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation (1864).
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024