MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky
Karl Kautsky, Kulturpolitik? Meine „Gesinnungswandel“ in der Kolonialpolitik, Vorwärts, 24. Jg., Nr. 233, 5. Oktober 1907.
https://library.fes.de/ddb/vw24233/VW24233_01.jpg.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wir haben Genossen Bernstein zur Begründung seiner Ansichten so weiten Spielraum gegeben, einmal, um ihm jede Möglichkeit zu nehmen, zu behaupten, wir wichen einer Diskussion aus, zum anderen, um zu zeigen, auf welch schwächlichen Argumenten seine Auffassung beruht.
Bernstein lässt zunächst sozialistische Kapazitäten zum vermeintlichen Beweis dafür aufmarschieren, dass die von ihm und David vertretene Bevormundungstheorie gar nichts Unerhörtes sei, sondern dass auch Lassalle und Engels das Recht der Bevormundung von Nationen und Rassen mit höherer Kultur über solche mit niederer Kultur anerkannt hätten.
Zunächst Lassalle. Das von Bernstein wiedergegebene Zitat stammt aus Lassalles Schrift Der italienische Krieg. [1] Diese Schrift erschien im Jahre 1859. Es handelte sich damals darum, ob Deutschland Österreich in dem Unabhängigkeitskampf Italiens gegen Italien beistehen solle. Die Frage wurde durch die Einmischung Napoleons III. kompliziert. Trotzdem stellte sich Lassalle damals gleich Marx und Engels auf den Standpunkt, dass die deutschen Interessen nicht die Erhaltung, sondern die Beseitigung der österreichischen Fremdherrschaft in Italien geböten. In seiner Schrift betonte Lassalle, dass das Prinzip der Demokratie „seinen Boden- und Lebensquell an dem Prinzip der freien Nationalitäten“ habe. Prinzip erleide nur eine einzige Einschränkung, nämlich in dem Falle, dass Volkstrümmer aufhörten, sich zu entwickeln und in ihnen kein mit dem Kulturprozess des Ganzen Schritt haltender Volksgeist mehr da sei, oder dass Völker mit früherer Kultur in ihrer Entwickelung hinter der Geschichte zurückblieben. In diesem Falle hätten andere Nationen das Recht, Völker derselben Rasse zu assimilieren oder Völker anderer Rasse zu verdrängen. Mit diesem Recht habe die angelsächsische Rasse Amerika, Frankreich Algier, England Indien, hätten die Völker deutscher Abkunft von denen slawischer Zunge ihren Boden erobert.
Man sieht: der sonst gegen Buchstabenglauben und Dogmenfanatismus wetternde Genosse Bernstein wird auf einmal Buchstabengläubiger und Dogmenfanatiker einer Auffassung gegenüber, die Lassalle 1859 entwickelte und die zu zweifellos anfechtbarstem gehört, was Lassalle jemals geschrieben hat. Selbst Bernstein scheint keine Lust zu haben, Lassalles Theorie mit Haut und Haar zu schlucken. Er meint, über die Anwendung der Theorie auf bestimmte Fälle könne man mit Recht streiten. Als ob nicht der Satz Lassalles gerade aus solchen bestimmten Fällen abstrahiert sei. Bestreitet man die Einzelfälle, so fällt damit auch der ganze Lehrsatz.
Wie will man bestimmen, ob ein Volk, eine Rasse hinter der Geschichte zurückgeblieben ist? Oder ob es für seine Barbarei wenigstens die nach Lassalle ausreichende Entschuldigung hat, dass diese Barbarei immerhin „ein rationales Element“ sei, eine Entschuldigung, die Lassalle zum Beispiel für Russland gelten lässt? Und ist die ökonomische Kultur, der Grad der Entwicklung der Industrie, der Maßstab, oder vielleicht die geistige Kultur eines Volkes? Lassalle macht für Italien geltend, dass es bis auf die neueste Zeit im Reich der Literatur „eine Reihe der klassischsten Erzeugnisse in allen Gebieten des Geistes hervorgebracht“ habe! Zudem bleiben die Nationen nicht immer dieselben. Völker, die ehemals die Führung hatten, sinken von der Höhe ihrer Macht, ihrer Kultur herab. Aber sie können sich auch wieder heben, wie die Geschichte oft genug bewiesen hat.
Oder haben die geschichtlichen Tatsachen einfach als Beweis für das Recht auf Bevormundung zu gelten? Nun, diese Tatsachen beweisen gerade, dass oft genug die Barbarei über die Kultur den Sieg davongetragen hat. So siegten die Germanen über die alte römische Kultur. So brachen die rückständigen Bergvölker Spaniens die überlegene maurische Kultur. Preußen eroberte die Suprematie in Deutschland. Vermöge seiner überlegenen Kultur? Nein, vermittelst seines überlegenen Militarismus! War aber dieser Militarismus die Folge der höheren Kultur? Mehring sagt darüber in seiner Lessing-Legende:
„Eins bedingt das andere als Ursache und Wirkung, denn wenn im Schalten der preußischen Militärdespotie nur die Sklaverei gedeihen konnte, so konnte die preußische Militärdespotie doch auch nur in einem Teil von Deutschland entstehen, wo Bildung und Kultur, Wissenschaft und Wohlstand bis aus der letzten Spur verschwunden war und die Masse der Bevölkerung in jahrhundertelanger Sklaverei jeden selbständigen Willen verloren hatte.“ [2]
Aber selbst, wenn das alles nicht wäre, selbst wenn in der Vergangenheit stets die höhere Kultur den Sieg über die hinter der Geschichte liegen gebliebenen Völker davongetragen hätte, – wer Hülfe uns dann weiter fort, wo wir erst Geschichte zu machen haben!
Man sieht, mit Lassalles Zitat und Theorie kann Bernstein wirklich nicht das geringste anfangen. Der einzige Leitsatz, der für das moderne Proletariat gelten kann, ist der: Welche Stellungnahme zu internationalen Fragen, speziell zur Kolonialpolitik, hat das Proletariat auf Grund seiner spezifisch proletarischen Interessen einzunehmen, welche Taktik gebieten ihm seine sozialistischen Bestrebungen?
Noch weit weniger aber als Lassalles übrigens ganz beiläufige Ausführungen aus dem Jahre 1859 – es handelt sich da nur um eine gelegentliche Einstreuung in eine Erörterung praktischer Gegenwartspolitik! – besagen Engels Briefe an Bernstein. Was sagt denn Engels im Grunde? Er erklärt, dass er die Existenz kleiner Naturvölkchen in Europa für einen Anachronismus halte. Er billigt keineswegs die kapitalistische Methode ihrer Assimilierung – unsere Polen- und Dänenpolitik beweist ja die Brutalität und Sinnlosigkeit solcher Assimilierungsversuche – sondern er meint nur, auch der zur Herrschaft gelangte Sozialismus werde solche Anachronismen beseitigen. Ganz zweifellos! Nur dass er sich dann grundverschiedener Mittel bedienen wird, Mittel, über die heute des Langen und Breiten zu diskutieren ebenso ein Streit um des Kaisers Bart wäre, wie der Streit um die sozialistische „Kolonialpolitik“! Engels warnt hier nur, und zwar mit vollem Recht, wie auch in seinem zweiten Briefe über die ägyptische Frage, vor einer romantischen Schwärmerei für solche Naturvölkchen und die nationale Pascharaubwirtschaft. Von einer solchen Schwärmerei weiß sich aber niemand freier, als gerade die marxistische Sozialdemokratie. Sie hat zum Beispiel, als unsere Alldeutschen
für die braven, patriarchalischen Buren schwärmten, ausdrücklich betont, dass diese Buren alles andere als Idealmenschen seien, vielmehr Eingeborenenbedrücker, wie sie ärger kaum zu finden seien. Wenn die Sozialdemokratie gleichwohl den Buren mehr Sympathien entgegenbrachte, als den Mineninteressenten, die den Krieg provoziert hatten, so geschah das nicht aus romantischer Schwärmerei für die Buren, sondern aus richtiger Einschätzung der treibenden Kräfte der englischen Eroberungspolitik heraus! Auch hat ja seinerzeit Kautsky dem Genossen Belfort-Bax, der sich für die patriarchalischen Zustände in Marokko geradezu enthusiasmierte, klar genug auseinandergesetzt, dass der wissenschaftliche Sozialismus mit Rousseauscher Naturschwärmerei nicht das mindeste zu tun habe! Also Engels Austastung, die auch den berechtigten Kern des Lassalleschen Gedankens enthält, ist durchaus die unsere. Nur fallen wir nicht gleich Eduard Bernstein in das entgegengesetzte Extrem, uns für die kapitalistische Kolonialpolitik zu begeistern und diese Kolonialpolitik der Gegenwart – denn die der Vergangenheit hat aus jeder vernünftigen Diskussion über die gegenwärtige Stellungnahme der Sozialdemokratie zur Kolonialpolitik auszuscheiden – für ein notwendiges Mittel zu erklären, die allgemeine Kultur zu fördern und damit die sozialistischen Ziele zu verwirklichen!
Für die Sozialdemokratie ist einzig das proletarische, das sozialistische Interesse entscheidend.
Darüber mehr in einem Schlußartikel.
Es tut mir leid, den kostbaren Raum unseres Zentralorgans durch eine persönliche Angelegenheit einengen zu müssen. Aber Bernstein hat es einmal für nötig gehalten, die Verwirrung, die in Stuttgart durch das Schlagwort der „sozialistischen Kolonialpolitik“ herausbeschworen wurde, jetzt neben anderem noch dadurch zu vermehren, dass er mir im Vorwärts vorwirft, ich hatte vor zehn Jahren über die Kolonialpolitik ebenso gedacht, wie er heute denkt.
Das beweist er freilich nicht durch eine Äußerung von mir, sondern durch eine von ihm.
Er schreibt in dem Artikel Kulturrecht und Kolonialfrage, II (4. Oktober 1907):
„Wenn ich mir nicht das Erstaunen allmählich abgewöhnt hätte, so hätte ich wohl erstaunt sein dürfen, als Karl Kautsky in Stuttgart sich als „erstaunt“ darüber bezeichnete, dass ich die Unterwerfung der Wilden gutheiße. Ich habe das nämlich seinerzeit unter großem Beifall Kautskys in der Neuen Zeit auch schon getan. In der Neuen Zeit kann man es – Jahrgang 1896/97, 1. Teil, Seite 109 – lesen, dass die Erhebungen solcher Völkerschaften gegen die Kulturnationen uns kühl lassen, ja, gegebenenfalls sogar zu Gegnern haben würden,“
und:
„Wir werden bestimmte Methoden der Unterwerfung von Wilden verurteilen und bekämpfen, aber nicht, dass man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber das Recht der höheren Kultur geltend macht.“ [3]
„Es steht Kautsky frei, heute zu verfluchen, was er damals gesegnet hat, aber es sind keine Ereignisse eingetreten, die mich veranlassen könnten, von jenem Satze auch nur ein Jota zurückzunehmen.“ [4]
Wo und wie ich diesen Satz „gesegnet“ habe, davon erfahren wir nichts. Betrachtet Bernstein etwa die Tatsache seiner Veröffentlichung in der Neuen Zeit auch schon als einen Akt der Zustimmung? Als ob die Neue Zeit nicht ein Organ der Diskussion wäre, in dem jeder nur für sich, keiner im Namen der Redaktion spricht!
Aber Bernstein weist ausdrücklich auf meinen „großen Beifall“ hin. Wo habe ich den gezollt? In der Öffentlichkeit nirgends. Die Äußerung, auf die er sich bezieht, kann also nur eine private gewesen sein. Es ist etwas viel verlangt von mir, dass ich mich heute noch jeder vertraulichen Äußerung erinnern soll, die ich vor mehr als zehn Jahren getan, aber ich stehe nicht an, zu erklären, dass, wie immer sie gelautet haben mag, sie nur durch ein grobes Missverständnis zu einer Gutheißung kolonialer Unterdrückung und Fremdherrschaft gedreht werden kann. Denn den Standpunkt in der Kolonialfrage, den ich heute vertrete, habe ich bereits 1883 in der Neuen Zeit in meinen Artikeln über Auswanderung und Kolonisation festgelegt und nie seitdem geändert. [5] Ich habe denselben Standpunkt kurz nach dem oben zitierten Bernsteinschen Artikel in der Neuen Zeit verfochten in meiner Artikelserie über Aeltere und neuere Kolonialpolitik und Kiautschau (Neue Zeit, Jahrg. 1897/98, I. und II. Band.). [6]
Der Artikel dagegen, aus dem das Bernsteinsche Zitat über das Recht der „höheren Kultur“ entnommen ist, handelt nicht von der Kolonialpolitik, sondern über „Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren“. Dem Standpunkt, den Bernstein dort der Türkei gegenüber entwickelt, zolle ich heute noch vollen Beifall. Von unserer Haltung den Wilden gegenüber ist aber in dem Artikel von acht Seiten nur nebenbei auf ein paar Zeilen die Rede.
In der Fußnote zu diesem Artikel bemerkte Bernstein:
„Der vorstehende Aufsatz war nahezu vollendet, als mir die Nummer der Sächsischen Arbeiterzeitung mit den Artikeln des Fräulein Rosa Luxemburg über die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie zugingen. [7] Es wird aus dem Nachfolgenden zu ersehen sein, wie sehr ich mit dem Grundgedanken und den Schlussfolgerungen dieser vortrefflichen Arbeit einverstanden bin.“ [8]
In der türkischen Frage standen und stehen die Genossin Luxemburg, Bernstein und ich auf gleichem Boden. Damit ist aber doch nicht gesagt, dass ich auf jedes Wort zu schwören habe, dass Bernstein damals schrieb.
Einen Artikel beurteilt man nach seinen Grundgedanken und Schlussfolgerungen und nicht nach einzelnen, beiläufigen Äußerungen. Richtig ist, dass in diesen beiläufigen Äußerungen schon der revisionistische Bernstein von heute steckt; richtig, dass ich ihnen kein Gewicht beilegte, dass ich mich sogar hartnäckig dagegen sträubte, ihre Bedeutung anzuerkennen, als andere, wie die Genossen Parvus, Plekhanov, Luxemburg es schon getan hatten; dass ich immer noch suchte, Bernsteins vieldeutige Äußerungen in einem Sinne aufzufassen, der unserer so langjährigen gemeinsamen Wirksamkeit entsprach, um dieses gemeinsame Wirken auch weiterhin noch durchführbar zu machen. Wohl möglich, dass ich darin gefehlt habe, indem ich aus Freundschaft für Bernstein seine Worte harmloser auslegte, als sie gemeint waren. Wenn meine engeren Gesinnungsgenossen mir darob einen Vorwurf machen, muss ich mir's gefallen lassen. Bernstein aber ist der letzte, der mir daraus einen Strick drehen darf, indem er den Vorwurf des Gesinnungswechsels gegen mich erhebt, wo höchstens der übertriebenen Toleranz und Freundschaftlichkeit erhoben werden darf.
1. Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preussen, Berlin: Franz Duncker, 1859, S. 8.
2, Franz Mehring, Die Lessing-Legende: Eine Rettung, Stuttgart: J. H. W. Dietz, 1893, S. 84.
3. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg., Bd. 1 (1897), Nr. 4, S. 108–116 (Zitat auf S. 109).
4, Eduard Bernstein, Kulturrecht und Kolonialfrage, Vorwärts, Nr. 231, 232, 3.–4. Oktober 1907.
5. Karl Kautsky, Auswanderung und Kolonisation: Eine Entgegnung, Die neue Zeit, 1. Jg. (1883), H. 8, S. 365–370, H. 9, S. 393–404.
6. Karl Kautsky, Aeltere und neuere Kolonialpolitik, Die neue Zeit, 16. Jg., 1. Bd. (1898), H. 25, S. 769–781, H. 26, S. 801–816. Karl Kautsky, Kiaotschau, Die neue Zeit, 16. Jg., 2. Bd. (1898), H. 27, S. 1 –26.
7. Rosa Luxemburg, Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8., 9., 10. Oktober 1896. In: Rosa Luxemburg, Reden und Schriften, Berlin 2006, S. 57–69. https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/57
8. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg., Bd. 1 (1897), Nr. 4, S. 108–116 (Zitat auf S. 108, Anmerkung).
Zuletzt aktualisiert am 9. November 2024