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Es war am 17. Juni 1789, daß sich die Deputierten des dritten Standes der Generalstände Frankreichs unter dem Drucke der revolutionären Gärung des ganzen Landes als Nationalversammlung konstituierten und damit jene riesenhafte soziale Katastrophe einleiteten, die wir die große. Revolution par excellence nennen.
Wie weitgehend auch die Hoffnungen waren, die sich an diesen Schritt knüpften, sie wurden durch die tatsächliche Entwicklung übertroffen. Wie ein Kartenhaus brach das anscheinend noch feste Gefüge des Feudalstaates vor dem Ansturm der Menge zusammen, binnen wenigen Monaten wurden alle Fesseln gesprengt, die Frankreich eingeschnürt und fast erstickt hatten, der junge Riese der neuen Produktionsweise bekam Luft und Licht und alle Mittel, sich zu entfalten. Vor dem Enthusiasmus des befreiten Volkes zerstob jeder Widerstand; Frankreich, das unter dem alten Regime der Spott Europas geworden, widerstand jetzt siegreich dem vereinten Ansturm der europäischen Monarchien, die sich mit der Konterrevolution im Innern der Republik verbunden hatten. Bald sollte das Banner der Revolution siegreich den ganzen Kontinent durchziehen. Auf der anderen Seite freilich erwiesen sich viele Erwartungen der Revolutionsmänner als leere Illusionen. Trotz der Aufhebung der ständischen Vorrechte wollte das Reich der Gleichheit und Brüderlichkeit nicht kommen; neue Klassengegensätze traten hervor, die neue soziale Kämpfe und Umwälzungen in ihrem Schoße bargen. Das Elend verminderte sich nicht, das Proletariat wuchs und ebenso die Ausbeutung des arbeitenden Volkes. Der Staat und die Gesellschaft, die aus der Revolution erwuchsen, entsprachen weder dem Ideal Montesquieus noch dem J. J. Rousseaus. Die Verhältnisse hatten sich stärker erwiesen als die Ideen.
Ein historisches Ereignis wie die Revolution bietet selbstverständlich so viele Seiten, daß jede Parteirichtung, sowohl diejenigen, die sie zu verherrlichen und zu preisen, wie diejenigen, die sie zu schmähen, zu verhöhnen oder zu verdammen das Bedürfnis haben, Momente in ihr finden, deren Hervorhebung ihren Zwecken entspricht.
Noch viel leichter ist die Verwertung der Revolution zu Parteizwecken, wenn man sich auf den moralisierenden Standpunkt stellt. Eine Katastrophe wie die Revolution steigert die Leidenschaften der Beteiligten aufs äußerste: in jeder der mitwirkenden Parteien finden wir Beispiele der liebenswürdigsten und großartigsten Tugenden, eines Heroismus und einer Selbstlosigkeit ohnegleichen, aber auch Beispiele furchtbarer Gemeinheit, Grausamkeit, Charakterlosigkeit und Habsucht. Es ist da ein sehr billiges Vergnügen, die sympathischen Züge der einen Seite rühmend hervorzuheben und die abstoßenden der anderen den Gegnern an den Kopf zu werfen.
So sonderbar eine solche Manier der Geschichtschreibung ist, es haben sich nur wenige Darstellungen der französischen Revolution davon frei zu halten gewußt. Und das ist ganz natürlich. Sind doch die Gegensätze, die in ihr aufeinander platzten, noch nicht völlig überwunden; sie selbst hat neue Gegensätze geschaffen, die sich in ihr zum ersten Male bemerkbar machten, die seitdem noch viel schroffer und deutlicher geworden sind. Es gibt keine moderne Partei, die nicht durch Tradition oder Sympathie, Ähnlichkeit der Situation oder der Ziele mit irgend einer Richtung der französischen Revolution einige Verwandtschaft hätte und daher nicht geneigt wäre, diese Richtung besonders schonend, deren Gegner besonders streng zu beurteilen.
Indes hat gerade die französische Revolution den Anstoß zu einer Geschichtsauffassung gegeben, die eine objektive Betrachtung dieser wie jeder historischen Erscheinung ermöglicht, indem sie die bewegende Kraft der geschichtlichen Entwicklung in letzter Linie nicht im Wollen der Menschen sucht, sondern in Verhältnissen, die von ihnen unabhängig sind, ja sie beherrschen.
Mochten die Darsteller der französischen Revolution dieselbe noch so sehr als das Werk einerseits der Philosophen, der Voltaire und Rousseau, und, der Redner in den Nationalversammlungen, der Mirabeau und Robespierre, hinstellen, über die Tatsache kamen sie nicht hinweg, daß der Konflikt, der zur Revolution führte, aus dem Gegensatz der ersten zwei Stände zu dem dritten entsprang; sie sahen, daß dieser Gegensatz nicht ein vorübergehender, zufälliger war; wie in den Generalständen von 1789 hatte er in denen von 1614 und früher schon gewirkt; er hatte als ein wesentliches Element der historischen Entwicklung gedient, namentlich der Befestigung des absoluten Königtums; sie mußten endlich sehen, daß dieser Konflikt seine Wurzeln in den ökonomischen Verhältnissen hatte.
Freilich erschien und erscheint noch in den meisten Darstellungen der Revolutionszeit der Klassenkampf nicht als das treibende Moment der ganzen Umwälzung, sondern nur als eine Episode inmitten der Kämpfe der Philosophen, Redner und Staatsmänner, als wenn diese nicht das notwendige Ergebnis jenes wären. Es bedurfte gewaltiger Gedankenarbeit, ehe das, was als Episode erschien, als Triebkraft nicht bloß der ganzen Revolution, sondern der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung von dem Augenblick der Bildung der Klassengegensätze an erkannt wurde.
Die so gebildete materialistische Geschichtsauffassung ist heute noch vielbestritten. Die Auffassung, daß die französische Revolution das Ergebnis eines Klassenkampfes des dritten gegen die beiden ersten Stände war, ist dagegen längst fast allgemein anerkannt; sie hat aufgehört, eine bloß für Fachgelehrte bestimmte Theorie zu sein, sie ist völlig populär geworden, namentlich in der Arbeiterklasse Deutschlands. Die Aufgabe der Anhänger dieser Auffassung besteht heute weniger darin, sie zu verteidigen, als darin, sie vor Verflachung zu bewahren.
Man ist nur zu geneigt, wenn eine historische Entwicklung auf Klassenkämpfe zurückgeführt wird, anzunehmen, daß in der Gesellschaft jeweilig bloß zwei Lager, zwei Klassen sind; die einander bekämpfen, zwei feste, homogene Massen, die revolutionäre und die reaktionäre Masse, daß ein „Hüben und Drüben nur gilt“. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, wäre die Geschichtschreibung eine ziemlich leichte Sache. Aber in Wirklichkeit liegen die Verhältnisse nicht so einfach. Die Gesellschaft ist und wird immer mehr ein ungemein komplizierter Organismus mit den verschiedensten Klassen und den verschiedensten Interessen, die sich je nach der Gestaltung der Dinge zu den verschiedensten Parteien gruppieren können.
Dies gilt für heute, dies gilt auch für die Zeit der französischen Revolution.
Zuletzt aktualisiert am 02.08.2010