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Erschienen als Flugblatt des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Mitte August 1911 zum Marokkokonflikt, Berlin: Paul Singer & Co., 1911.
Abgedruckt in Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 2. Auflage, Berlin: Dietz Verlag, Band IV: März 1898–Juli 1914, 1975, pp. 356–61.
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Unversehens, über Nacht sehen sich die Völker Europas von allen Schrecken eines Weltkrieges bedroht. Das marokkanische Reich scheint zusammenzubrechen, dank den liebevollen Bemühungen seiner Nachbarn, seine Unversehrtheit zu wahren; und der Zank derjenigen, die sich als Erben melden, nimmt zeitweise Dimensionen an, die ganz Europa in Flammen zu setzen vermögen.
Anscheinend ist es Frankreich, das dabei in gefährlichen Gegensatz zu anderen Mächten, namentlich Deutschland, gerät, in Wirklichkeit droht aber dem Weltfrieden die größte Gefahr, nicht von dem Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, sondern von dem zwischen Deutschland und England. Und dieser Gegensatz ist nur eine Teilerscheinung, ein Stück des großen Gegensatzes beider Mächte, der aufgetaucht ist, seitdem das Deutsche Reich vor einem Dutzend Jahren seine neue Welt- und Flottenpolitik begann, und der sich von Jahr zu Jahr vertieft und verschärft.
Die Bedeutung Marokkos für England ist eine andere als für Deutschland und Frankreich. Für letzteres ist Marokko wichtig als Zwischenglied, das ihm fehlt, um seinen nordafrikanischen Besitz abzurunden und in ein ungeheures, zusammenhängendes Gebiet zu verwandeln. Daneben streben französische und deutsche Kapitalistengruppen nach Herrschaft im Lande, um mit Hilfe der Staatsgewalt die reichen Mineralschätze seines Bodens zu monopolisieren. Teils neigen diese Gruppen dazu, sich freundschaftlich zu vereinigen, um sich zu verstärken, teils aber stoßen sie auch feindselig aufeinander, wobei sie ihre Gegensätze als Gegensätze der Nationen, die Verfechtung ihrer monopolistischen Gelüste als dringendstes Interesse und Ehrensache des Staates hinstellen.
Für die Engländer dagegen besitzt Marokko Bedeutung wegen seiner geographischen Lage, die ebenso den Zugang zum Mittelmeer wie den Verkehr auf dem Atlantischen Ozean, namentlich nach Südafrika und Südamerika, beherrscht.
An Marokko führen die beiden Seewege nach Ostindien vorbei, diesem ungeheuren Gebiet mit dreihundert Millionen Einwohnern, von unerschöpflichem natürlichem Reichtum, auf dessen Besitz und dessen Ausbeutung die Kolonialpolitik Englands beruht die eine unerhört gewinnreiche war und noch ist im Gegensatz zu der der anderen kapitalistischen Staaten, denen ihre Kolonien nur Quellen steter Verluste und Opfer geworden sind. Der Besitz Indiens und die Seeherrschaft die jenen Besitz sichert, bilden heute den wichtigsten Grundstein des sozialen Systems Englands, der Existenz seiner herrschenden Klassen.
Darum ist England auch seit dem 18. Jahrhundert bestrebt gewesen, die Seewege nach Ostindien zu beherrschen. Um den Eingang zum Mittelmeer zu sichern, hat es Gibraltar besetzt und aufs stärkste befestigt. Es wird nie dulden, daß eine feindliche seegewaltige Macht diese Vorkehrungen lahmlegt.
Es war daher unvermeidlich, daß das Erscheinen eines deutschen Kreuzers vor Agadir den lebhaftesten Protest der englischen Regierung hervorrief und uns an den Rand des Krieges brachte. Hier hat unsere Reichsregierung wieder einmal den Lebensnerv der herrschenden Klassen Englands in empfindlichster Weise verwundet – und zwar wieder ohne jedes ersichtliche Interesse für das deutsche Volk.
Es ist wohl zu erwarten, daß uns diesmal noch die Schrecken des Krieges erspart werden. Die Interessengegensätze zwischen den französischen und deutschen Kapitalistengruppen, die in Marokko in erster Linie für die Regierung Deutschlands in Betracht kommen, sind nicht so gewaltige, daß sie selbst vom kapitalistischen Standpunkt – ganz abgesehen vom Interesse des Volkes, das ja die herrschenden Klassen wenig kümmert – alle die entsetzlichen Verheerungen und das ungeheure Risiko eines Krieges lohnten.
Aber auch, wenn wir noch einmal um den Krieg herumkommen, die kriegdrohende Situation bleibt; sie verschärft sich von Jahr zu Jahr; der Krieg wird immer schwerer vermeidbar, solange das Deutsche Reich seine jetzige Weltpolitik und seine damit zusammenhängende Politik des Wettrüstens mit England fortsetzt, eine Politik, die wohl nur beabsichtigt, Englands Ansehen und Macht zurückzudrängen, die aber unter den gegebenen Voraussetzungen geradezu die Existenz der herrschenden Klassen Englands bedroht Keine Klasse, keine Nation läßt sich friedlich expropriieren; und so treibt unsere jetzige Weltpolitik Deutschland unvermeidlich einem blutigen Konflikt mit England entgegen oder vielmehr mit den herrschenden Klassen Englands.
Die arbeitenden Klassen Englands wollen freilich den Krieg nicht. Sie leben nicht von der Ausbeutung anderer, sondern von dem Produkt ihrer Hände, wie alle Arbeiter. Dieses Produkt fällt ihnen, wie allen Lohnarbeitern, nicht einmal völlig zu; den Löwenanteil müssen sie in den Händen ihrer Herrscher und Ausbeuter lassen. Sie haben nicht das mindeste Interesse daran, Opfer an Gut und Blut zu bringen, um die Existenzbedingungen ihrer Ausbeuter zu verlängern, sie haben vielmehr jedes Interesse daran, diesen den Boden unter den Füßen abzugraben. Der Zusammenbruch der Seeherrschaft und des Kolonialreichs Englands könnte sie vielleicht vorübergehend schädigen, auf die Dauer müßte er sie fördern, weil er die Klassengegensätze in ihrem Lande verschärfen würde, was bei der großen Macht des britischen Proletariats hur zu seinen Gunsten ausschlagen könnte. Die Fortsetzung seiner Ausbeutung wird unmöglich von dem Moment an, wo es sich seiner Macht und seines Interessengegensatzes zu den herrschenden Klassen bewußt wird.
Tatsächlich ist denn auch heute schon der sozialistisch denkende Teil des Proletariats Englands eine der stärksten Friedensbürgschaften. Ihm ist es vor allem zu danken, daß die englische Regierung den deutschen Seerüstungen noch nicht mit kriegerischen Machtmitteln entgegengetreten ist.
Aber auf diese Friedensbürgschaft allein dürfen wir uns nicht vorlassen. So groß auch die Friedensliebe des sozialistischen Teils der englischen Proletarier ist, die ausbeutenden Klassen sind auch in England noch die herrschenden. Sie verfügen über die gesamten Maclitmittel des Staates, aber auch über gewaltige Mittel der Informierung und Beeinflussung der Volksmassen. Eine provozierende Politik Deutschlands kann sie sehr wohl in Stand setzen, einen großen Teil des britischen Proletariats, wenigstens vorübergehend, mit sich fortzureißen, wie es auch zur Zeit des Burenkrieges der Fall war.
Wir dürfen daher nicht dem Sozialismus Englands allein die Sorge für die Erhaltung des Weltfriedens auferlegen. Wir in Deutschland müssen auch das Unsere dazu tun und auf das energischste jener Politik entgegenwirken, die uns die schwersten Opfer im Frieden auferlegt, um den Weltkrieg immer unvermeidlicher zu machen, die auf das Weltrüsten mit England gestützte Weltpolitik.
Wir sind daher insofern besser daran als unsere englischen Arbeitsbrüder, als in Deutschland nicht einmal die Interessen der besitzenden Klassen diese Art Weltpolitik erfordern. In England wird es wenige Familien der besitzenden Klassen geben, die nicht in der einen oder anderen Weise an Englands Kolonialbesitz und damit an seiner Seeherrschaft interessiert wären. In Deutschland ist die Zahl der Besitzenden heute noch, nach dreißig Jahren Kolonialpolitik, äußerst geringfügig, die durch Posten oder Besitz aus den Kolonien Vorteil ziehen.
Anderseits mildert der reiche Gewinn aus den Kolonien in England die Klassengegensätze, wenn auch in stets abnehmendem Maße; in Deutschland erfordern dagegen Kolonien und Flottenrüstungen wachsende Steuern, die teils direkt, teils durch die Verteuerung der Lebensmittel die arbeitenden Klassen immer mehr belasten und die Klassengegensätze dadurch verschärfen. Indes nehmen die Lasten des Wettrüstens und der Kolonialkriege heute schon solche Dimensionen an, daß es unmöglich ist, sie dauernd nur auf die arbeitenden Klassen allein abzuwälzen. Einen Teil davon müssen die Besitzenden tragen. Nicht nur keinen Gewinn, sondern Nachteile bringen Kolonialpolitik und Flottenbauten der Masse der Besitzenden. Bloß eine kleine Minderheit von Offizieren, Beamten, Panzerplattenfabrikanten, Lieferanten und Spekulanten zieht Profit daraus.
Freilich, man verweist uns auf die Zukunft der Kolonien, und man muß gestehen, daß all unser Tun mehr von der Zukunft als von der Gegenwart, mehr von unseren Erwartungen und Befürchtungen als von unseren augenblicklichen Verhältnissen bestimmt wird. Das gilt nicht bloß für die Sozialdemokraten. Auch die Liberalen und Konservativen haben ihren Zukunftsstaat, den sie uns aufs glänzendste ausmalen. Und das sind eben die Kolonien. Um dieses kolonialen Zukunftsstaates willen verlangt man von uns, daß wir nicht bloß alle die erdrückenden Lasten des Wettrüstens, sondern auch alle die entsetzlichen Schrecknisse und Verheerungen eines Weltkrieges in Kauf nehmen. Durch die Gefahr, daß ganz Europa so verwüstet wird, wie es Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege war, soll der koloniale Zukunftsstaat nicht zu teuer erkauft sein.
Diese Erwartungen beruhen auf den glänzenden Ergebnissen der englischen Kolonialpolitik. Man denkt, sobald Englands Vorherrschaft zur See gebrochen ist, müsse Deutsdiland im 20. Jahrhundert den gleichen Beichtum aus kolonialem Besitz an sich ziehen können wie England im 18. und 19. Jahrhundert.
Aber die Zeiten jener Kolonialpolitik sind für immer vorbei. Denn sie beruhten auf der Wehrlosigkeit der außereuropäischen Nationen gegenüber der europäischen Kriegstechnik sowie auf ihrer zurückgebliebenen staatlichen Organisation. Seitdem sind die alten Kulturvölker Asiens und des mohammedanischen Kulturkreises erwacht, sie be-mächtigen sich europäischen Wissens, europäischer Technik, europäischer Einrichtungen. Mit Riesenschritten eilen sie ihrer Selbständigkeit entgegen, soweit sie sie nicht schon errungen haben oder noch behaupten.
Nehmen wir den möglichst günstigen Fall an, der für die deutsche Weltpolitik eintreten könnte: Es gelänge ihr wirklich, Englands Seeherrschaft zu brechen, was könnte sie damit erreichen? Könnte sich Deutschland Chinas oder auch nur eines Stückes davon bemächtigen? Davon mochte man vor einem Dutzend Jahren träumen, als die neuere deutsche Welt- und Flottenpolitik inauguriert wurde. Der Wunsch, bei der anscheinend bevorstehenden Teilung Chinas einen tüchtigen Bissen an sich reißen zu können, bildete wohl den Anstoß zu dieser Politik. Aber seitdem ist China erstarkt, es macht riesenhafte Fortschritte, und es wäre einem so fern gelegenen Land wie Deutschland heute ganz unmöglich, einen größeren Teil des "Reiches der Mitte" einzunehmen und dauernd zu behaupten, ganz abgesehen davon, daß außer China selbst auch Amerika und Japan ein energisches Veto einlegen würden, wenn England dazu nicht mehr imstande wäre.
Aber sollte der koloniale Reichtum durch Eroberung englischen Kolonialbesitzes kommen? Ein glücklicher Krieg Deutschlands gegen England könnte sehr wohl dahin führen, daß Ostindien, Ägypten, Südafrika sich losreißen – aber nie dahin, daß sie deutscher Besitz werden. Gelingt es heute schon England nur mit Mühe, sich dort zu behaupten, das doch seit langen Jahren, zum Teil mehr als hundert Jahre lang, im Besitz ist, und seine Herrschaft durch die mannigfachsten Organisationen so fest als möglich verankert hat, so wäre es einem neuen Eindringling ganz unmöglich, in einem dieser Länder, nachdem es seine Freiheit erobert hat, noch als Herrscher und Ausbeuter Wurzel zu fassen.
Nein, Kolonien der Art, wie sie das 17. und 18. Jahrhundert kannte, in denen überschwenglicher Reichtum mühelos zu holen war, sind heute nicht mehr zu erobern. Diese Art Kolonialpolitik findet ihr Ende. Durch die Vernichtung der Seeherrschaft Englands haben dessen besitzende Klassen wohl alles zu verlieren, aber jene Deutschlands nichts zu gewinnen.
Es liegt im Interesse nicht nur des Proletariats, sondern des gesamten deutschen Volkes, auch der Masse seiner besitzenden Klassen, wenn seine Regierung daran gehindert wird, ihre Weltpolitik fortzusetzen, die dem Volke unerhörte Lasten aufbürdet und die Gefahr eines verheerenden Krieges immer näher bringt ohne irgendeinen Nutzen, außer für ein paar Monopolisten und Spekulanten.
Trotzdem gibt es in Deutschland heute nur noch eine Partei, die jener Weltpolitik und den Flottenrüstungen energisch Widerstand leistet: die Sozialdemokratie.
Die Konservativen und Nationalliberalen verfochten seit jeher die Weltpolitik, denn sie vertreten jene Schichten, die im Gegensatz zum ganzen übrigen Volk Vorteil aus ihr ziehen: Sie verfügen über die Offiziers- und Beamtenposten, unter ihnen dominieren die Scharfmacher, die Panzerschiffe und Kanonen fabrizieren, Anleihen unterbringen, Landspekulationen machen, Lieferungen für Staatszwecke unternehmen.
Freisinnige und Zentrum waren ehedem zum großen Teil Gegner der Weltpolitik, aber sie sind seitdem umgefallen. Zum Teil aus Bedientenhaftigkeit und Streberei. Denn nach den Traditionen des deutschen Bürgertums wird politische Macht nicht dadurch gewonnen, daß man sie dem herrschenden Regiment abtrotzt, sondern dadurch, daß man sich ihm durch Liebesdienste unentbehrlich macht Augenblicklich ist es das Zentrum, das sich durch diese Bedientenrolle bei der durch die Konservativen beherrschten Regierung lieb Kind gemacht hat.
Zum Teil rührt aber die Begeisterung für die Weltpolitik aus Unwissenheit her. Man sieht nur das glückliche Beispiel Englands, empfindet andererseits mit Verdruß, daß die eigenen Kolonien nicht vorwärtskommen, nicht das leisten, was England aus seinen Kolonien zieht und zog; man weiß nicht, daß die Unfruchtbarkeit der heutigen Kolonialpolitik unvermeidlich und in den Verhältnissen tief begründet ist, und man glaubt, alles werde besser werden, wenn man imstande sei, England die Spitze zu bieten.
Den Krieg gegen England wollen freilich diese bürgerlichen Politiker nicht. Ängstlich sind sie für den Frieden besorgt. Und selbst unter den Konservativen und National-liberalen dürfte die Zahl der gewissenlosen Burschen, die nach dem Krieg verlangen, nur gering sein.
Das beweist aber bloß die Haltlosigkeit ihrer Politik: Sie schrecken von den unvermeidlichen Konsequenzen ihres eigenen Tuns zurück und zetern doch gegen die Sozialdemokratie, die sich diesem Tun widersetzt Sie wünschen den Frieden, verabscheuen den Krieg und fördern und fordern doch eine Politik, die notwendigerweise zum Kriege führt, wenn nicht die Sozialdemokratie hüben wie drüben stark genug ist, den Krieg zu verhindern.
Die Sozialdemokratie ist die einzige wirkliche Friedenspartei. Die einzige Partei, die nicht nur den Frieden wünscht und den Krieg verabscheut, sondern auch diesem seine Wurzeln abgräbt, den Ursachen entgegenwirkt, die zum Kriege führen.
Je stärker die Sozialdemokratie, je stärker die Organisationen, die dem proletarischen Klassenkampf dienen, je entschlossener diese sind, alle ihre Machtmittel zur Erhaltung des Friedens aufzubieten, desto mehr ist dieser gesichert.
Diese Organisationen zu stärken ist die Aufgabe eines jeden, der zur Erhaltung des Friedens wirken will.
Wer die einzige Kraft verstärken will, die dem Frieden ernstlich dient, der liest die sozialdemokratische Presse, besucht sozialdemokratische Versammlungen, schließt sich einer sozialdemokratischen Organisation und, wenn er Lohnarbeiter ist, einer freien Gewerkschaft an, der wählt sozialdemokratische Kandidaten, wo immer er dazu Gelegenheit findet.
Ein biblisches Wort sagt: Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn.
Heute kann man sagen: Der Anfang der Weisheit der Regierungen ist ihre Furcht vor der Sozialdemokratie.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012