Karl Kautsky

Die neue Taktik

(1912)


Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 30. Jahrgang, 2. Band, 1912.
Abgedruckt in Antonia Grunenberg (Hrsgb.): Die Massenstreikdebatte, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970, S. 295–334.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.



I. Die Methode

1. Einleitung

Die letzten Monate haben etwas viel polemische Arbeit in der Partei gebracht. Trotzdem ist mir die Auseinandersetzung mit Freund Pannekoek nicht unwillkommen. Sie verspricht, mehr als die sonstigen Polemiken der letzteren Zeit, zu einer Klarstellung sachlicher Unterschiede beizutragen.

Den Ausgangspunkt der Pannekoekschen Kritik bildet die Artikelserie, die ich im letzten Herbst über die Aktion der Masse [1] in der Neuen Zeit veröffentlichte (XXX, 1, Nr 2, 3, 4), veranlaßt durch die Unruhen, die sich kurz vorher in England, Frankreich, Österreich abgespielt hatten, im Anschluß an Riesenstreiks (im August in England), sowie an Demonstrationen gegen die Teuerung (im September in Frankreich und Österreich). An diesen Unruhen hatten sich vornehmlich unorganisierte Massen beteiligt. Das veranlaßte mich, zu untersuchen, ob neben den Kämpfen der organisierten Arbeiterschaft in nächster Zeit nicht auch „jene besondere Art der Massenaktion, die man kurz als Aktion der Straße bezeichnet“, wieder eine Rolle spielen könne und welcher Art sie sein dürfte.

Ich kam zu dem Schlusse, daß bei der steten Zuspitzung der Klassengegensätze, der Teuerung und der Kriegsgefahr, ein zeitweises Zusammenwirken des organisierten Proletariats mit starken unorganisierten Massen in großen, plötzlichen, spontanen Aktionen eine große Rolle zu spielen verspreche. Bei der Unberechenbarkeit der unorganisierten Massen käme damit ein katastrophales Element in die politische Entwicklung, ähnlich dem, das ihr von 1789 bis 1871 in Europa ihren Charakter gab. Aus dieser Besonderheit der Situation gehe aber nicht die Notwendigkeit einer neuen Taktik für unsere Partei hervor.

Dagegen wendet sich Pannekoek. Er will nachweisen, daß eine neue Taktik nötig sei. Zu diesem Zwecke erörtert er die Methode meines Artikels und verwirft sie. Daneben entwickelt er die Begriffe der Organisation, der Massenaktion, der Staatsgewalt, um die neue Taktik, die er für notwendig hält, zu begründen.

Wohl wird die von Pannekoek angestrebte Taktik von ihm noch nicht mit aller wünschenswerten Klarheit zur Darstellung gebracht. Manches bleibt dunkel, manches Mißverständnis ist noch möglich. Aber immerhin genügt das von Pannekoek Ausgeführte, um zu zeigen, daß die Differenz zwischen seinen Freunden und mir nicht, wie mancher von ihnen vermeint, aus einer Schwenkung von meiner Seite, sondern aus ganz neuen Forderungen von ihrer Seite hervorgeht. Aber freilich, in einem Punkte findet auch Pannekoek, daß ich meinem Marxismus untreu geworden sei: in der Methode, die ich bei meinen Untersuchungen über die Aktion der Masse anwende.
 

2. Klasse und Masse

Diese Methode soll uns zunächst beschäftigen.

Sie erregt Pannekoeks ernsteste Bedenken. Und daß sie ganz schlecht ist, das erhellt für ihn schlagend schon aus einer einzigen Tatsache: ich komme zu keinem Resultat. Mein „Resultat ist kein Resultat“. „Die Untersuchung ist resultatlos geblieben.“

In der Tat, ein ganz gewaltiger Mangel. Wodurch glaubt sich aber Pannekoek berechtigt, zu sagen, daß ich zu keinem Resultat komme? Habe ich vielleicht etwas Derartiges selbst ausgesprochen? Mitnichten. Ich habe das Ergebnis meiner Untersuchungen sehr bestimmt dahin formuliert, daß jene unorganisierte Masse, die ich untersuche, höchst unberechenbarer Natur sei. Das nennt Pannekoek kein Resultat.

Eine Untersuchung liefert also nach seiner Meinung nicht schon dann ein bestimmtes Ergebnis, wenn sie zu einer bestimmten Anschauung führt, sondern nur dann, wenn sie zur Anschauung von etwas Bestimmtem, Festem führt. Die Untersuchung einer Sandwüste führt danach nur dann zu einem Resultat, wenn sie zu dem Schlusse kommt, hier liege fester Granitboden vor. Kommt sie zu dem Resultat, daß flüchtiger Flugsand vorliegt, auf dem sich kein Gebäude aufrichten läßt, so ist dies Resultat „kein Resultat“, und es beweist an sich schon, daß der Erforscher der Sandwüste sich nicht der richtigen Methode bediente!

Nachdem Pannekoek so einleuchtend nachgewiesen, daß meine Methode falsch sein muß, zeigt er auch, worin ihr Irrtum besteht:

Kautsky hat sein marxistisches Rüstzeug zu Hause gelassen, und dadurch kommt er zu keinem Resultat. Nirgends in seiner historischen Darlegung ist von dem besonderen Klassencharakter der Massen die Rede.

Die Aktionen von Lumpenproletariern, Lohnarbeitern, Kleinbürgern, Bauern seien grundverschieden und könnten nur durch eine Betrachtung ihrer Klassenlage begriffen werden.

Ja, glaubt Genosse Pannekoek wirklich, ich hätte das Abc des Marxismus vergessen, Gedanken, deren Anerkennung zu erreichen ich den besten Teil meines Lebens aufgewendet? Hat Pannekoek sich nicht veranlaßt gesehen, auch nur eine Minute darüber nachzudenken, warum ich diesmal von dem „besonderen Klassencharakter der Massen“ nicht ausführlicher sprach?

Ich habe keineswegs vergessen, zu untersuchen, aus welchen Klassen sich jene Menge rekrutiert, die ich in meinem Artikel untersuchte; jene, die sich in unorganisierten, spontanen Straßenaktionen zusammenfindet: und nur von dieser ist hier die Rede, was ich den Leser auch im folgenden im Auge zu behalten bitte. Auf S. 45 meines Artikels untersuchte ich, welche Elemente heute in Deutschland bei solchen Aktionen in Frage kommen könnten. Ich kam zu dem Resultat, daß dazu ohne Kinder und landwirtschaftliche Bevölkerung etwa 30 Millionen zu rechnen seien, wovon etwa ein Zehntel organisierte Arbeiter. Den Rest bilden unorganisierte Arbeiter, zum großen Teil noch mit Ideengängen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats infiziert, und endlich nicht wenige Mitglieder der letzteren zwei Schichten selbst.

Auch jetzt, nach Pannekoeks Tadel, ist es mir noch nicht klar geworden, wieso ich in einer so bunt gemischten Masse einen einheitlichen Klassencharakter entdecken könnte. Das „marxistische Rüstzeug“ dazu habe ich nicht etwa „zu Hause gelassen“, sondern nie besessen. Genosse Pannekoek meint hier offenbar, das Wesen des Marxismus bestehe darin, überall, wo von Masse die Rede sei, darunter eine bestimmte Klasse zu verstehen, und zwar heute das industrielle, klassenbewußte Lohnproletariat.

Hätte ich das getan, dann wäre ich freilich zu einem anderen Resultat gekommen, dann wäre mir die Masse nicht unberechenbar, sondern sehr bestimmt in ihren Tendenzen und Entschlüssen erschienen. Alles hätte aufs schönste geklappt, nur eine Kleinigkeit hätte gefehlt: die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Die wirkliche, unorganisierte Masse bei spontanen Straßenunruhen hätte zu dem Bilde gepaßt wie die Faust aufs Auge.
 

3. Der Instinkt der Masse

Pannekoek findet, heute seien die Massen proletarische, ehedem seien sie bürgerliche gewesen. Darum durfte ich auch nicht zur Kennzeichnung der Aktionen der Masse solche aus der Zeit der Französischen Revolution heranziehen, wo sie „bürgerlich“ war.

Darauf muß ich zunächst erwidern, daß es ebenso falsch ist, die heutige „Masse“ einfach eine proletarische, wie die der Französischen Revolution eine bürgerliche zu nennen. Wohl waren unter den Massen der Pariser Straßenaktionen zur Zeit der großen Revolution Lohnproletarier weit weniger vertreten wie heute, aber das Lumpenproletariat war ungeheuer stark und die Handwerker selbst in der großen Mehrheit dem Lohnproletariat sehr nahestehende besitzlose Alleinarbeiter. Die Klassenzusammensetzung der Masse war damals eine ebenso bunte wie heute, allerdings mit dem Unterschied, daß das großindustrielle Lohnproletariat fast ganz fehlte, das heute in ihr dominiert. So einfach, wie Pannekoek sich’s vorstellt – ehedem bürgerliche, heute proletarische Masse –, liegt die Sache nicht. Aber sicher bleiben die Wandlungen der Klassen nicht ohne Wirkung auf den Charakter und die Aktion der Masse, und daß diese heute in manchen Punkten andere sind als ehedem, habe ich selbst betont in dem Kapitel über Die historischen Wandlungen der Massenaktion.

Wenn ich trotzdem auch die Erfahrungen aus der Französischen Revolution zu meiner Untersuchung heranzog, so war dabei vor allem der Umstand maßgebend, daß gerade diese Erfahrungen stets von den unbedingten Verehrern der Masse als Beweis für deren Unfehlbarkeit vorgeführt werden. Und heute noch wird von Genossen, die Pannekoek sehr nahe stehen, der Instinkt der Masse ohne Unterschied, ob „proletarisch“ ob „bürgerlich“, als der richtigste Kompaß jeder revolutionären Bewegung hingestellt.

Eine einzige Nummer der Bremer Bürger-Zeitung, die vom 12. April dieses Jahres, enthält gleich zwei Artikel, in denen die Unfehlbarkeit des Instinkts der Massen gepriesen wird. In dem einen, Der revolutionäre Instinkt der Massen, heißt es: Proletarische Massen sind ein wetterhartes Volk, sie lassen sich weniger als der geschmeidige Theoretiker durch den Schein bluffen. Ein sehr bequemes Auskunftsmittel, Ergebnisse theoretischen Forschens abzulehnen, gegen die man keine Argumente vorzubringen weiß. Nur muß ich darauf hinweisen, daß der „Instinkt der proletarischen Massen“ nicht immer in der Richtung des Radikalismus geht. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind es gerade revisionistische Genossen, die sich auf den Instinkt der Massen gegenüber den Theoretikern berufen, um ihre Feindseligkeit gegen farbige Proletarier zu beschönigen. Und der tschechische Separatismus, worauf kann er sich stützen, außer auf den „Instinkt der proletarischen Massen“? In der gleichen Nummer des Bremer Blattes wird aber nicht nur der Instinkt der proletarischen Massen über wissenschaftliche Einsicht erhoben, sondern der Instinkt der Massen überhaupt, mit ausdrücklicher Beziehung auf die Französische Revolution, ja auf den Bauernkrieg, also auch der Instinkt der, wie Pannekoek sagen würde, „bürgerlichen Masse“.

In dem Artikel Ein Gedenktag wird „an Lassalles Ansichten über die Bedeutung der Massen in der Geschichte“ erinnert und werden mit freudigster Zustimmung folgende Sätze aus Lassalles Brief über die tragische Idee des Franz v. Sickingen zitiert:

In der Tat, so schwer es dem Verstand wird, dies einzugestehen, beinahe scheint es, als ob ein unlöslicher Widerspruch zwischen der spekulativen Idee, welche die Kraft und Berechtigung einer Revolution ausmacht, und dem endlichen Verstand und seiner Klugheit bestünde. Die meisten Revolutionen, die gescheitert sind, sind – jeder wahrhafte Geschichtskenner wird das zugeben müssen – an dieser Klugheit gescheitert, oder mindestens alle sind gescheitert, die sich auf diese Klugheit gelegt haben. Die große Französische Revolution von 1792, die unter den schwierigsten Umständen siegte, siegte nur dadurch, daß sie verstand, den Verstand beiseite zu setzen. Hierin liegt das Geheimnis der Stärke der äußersten Parteien in den Revolutionen, hierin endlich das Geheimnis, weshalb der Instinkt der Massen in den Revolutionen in der Regel so viel richtiger ist als die Einsicht der Gebildeten. „Und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet usw.“ (in Einfalt ein kindlich Gemüt, heißt es bekanntlich weiter. – Red. d. Bremer Bürger-Zeitung)

Gerade der Mangel an Bildung, der den Massen innewohnt, bewahrt sie vor dem Geschmack an diplomatischen Vermittlungen, bewahrt sie vor der Klippe des klugverständigen Verfahrens.

Die Bremer Bürger-Zeitung hebt den Satz durch Fettduck besonders hervor, daß in „den Revolutionen“ der Instinkt der Massen in der Regel so viel richtiger ist als die Einsicht der Gebildeten. Lassalle hatte diese Auffassung als Tradition der bürgerlichen Demokratie aus der Französischen Revolution übernommen. Sie wird heute noch von Parteigenossen verfochten. Wenn ich nun untersuche, ob diese Anschauung den wirklichen Tatsachen entspricht, ob wirklich der Instinkt der Massen stets und zu allen Zeiten richtiger war als die Einsicht der Gebildeten, und zu dem Ergebnis komme, daß dies nicht der Fall ist, weiß Pannekoek die Tatsachen, die ich dafür vorbringe, mit keinem Worte zu entkräften. So bleibt ihm freilich nichts übrig als zu glauben, daß ich es sei, der die Massen der Revolution des achtzehnten Jahrhunderts denen des zwanzigsten gleichsetze, und zu finden, die Tatsachen der Vergangenheit bewiesen für die Gegenwart nichts, die früheren Massen seien bürgerlich gewesen, die heutigen proletarisch. Nun mag er sich darüber mit der Bremer Bürger-Zeitung auseinandersetzen und ihr wegen ihres Mangels an marxistischem Rüstzeug den Kopf waschen.

Hier sei darüber nur noch bemerkt, daß die Äußerungen Lassalles in ihrem Zusammenhang nicht so sonderbar sind, wie sie außerhalb dieses Zusammenhanges in unserem Bremer Organ erscheinen. Daß der Mangel an Bildung in revolutionären Zeiten ein Vorzug sei, daß die Revolution von 1792 „nur dadurch siegte, daß sie es verstand, den Verstand beiseite zu setzen“, daß die Revolutionen an Verstand und Klugheit scheitern – das scheint ja ein Plädoyer für Unwissenheit und Sinnlosigkeit darzustellen, das durchaus nicht jene Begeisterung verdient, die ihm in Bremen zuteil wird. Indes erhalten diese Äußerungen ein anderes Gesicht in ihrem Zusammenhang. Lassalle führt aus, die Stärke der Revolution bestehe in ihrer Begeisterung, dem „unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und Unendlichkeit“. Aber diese Begeisterung beruhe in dem Hinwegsehen über die Schwierigkeiten der Verwirklichung der Idee. Und doch muß sie dieser Schwierigkeiten Herr werden. Unter diesen Umständen scheint es ein Triumph übergreifender realistischer Klugheit seitens der Revolutionsführer, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen, die wahren und letzten Zwecke der Bewegung anderen (und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst) geheim zu halten und durch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen, ja durch die Benutzung dieser die Möglichkeit zur Organisation der neuen Kräfte zu gewinnen, um so durch dies klug erlangte Stück Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst dann zu besiegen.

Gegen diese Art von Klugheit wendet sich Lasalle, höher als sie stellt er den Instinkt der Massen, deren Mangel an Bildung sie vor dieser Klippe bewahrte.

Dagegen läßt sich gewiß nichts einwenden. Jene Diplomatie, die den Gegner über die eigenen Absichten zu täuschen sucht, ist bei einer Partei, deren Kraft in der Begeisterung der Massen beruht, stets von Übel. Sie entwaffnet nicht den Gegner, der sich nicht täuschen läßt, sondern verwirrt und entmutigt nur die eigenen Reihen. Aber Lassalle hat sich dann in den von der Bremer Bürger-Zeitung zustimmend abgedruckten Sätzen sehr unglücklich ausgedrückt, wenn er jene besondere Art Klugheit der Revolutionsführer, die die Gegner über die letzten Zwecke der Bewegung zu täuschen versucht, als Folgen von Verstand und Bildung erscheinen läßt und im Mangel an Bildung die beste Sicherung vor dieser Politik der „Revolutionsführer“ erblickt. Als ob die „Bauernschlauheit“ ein Privilegium der Gebildeten wäre und den Ungebildeten gänzlich mangelte! Gerade eine tiefe Erkenntnis der politischen und sozialen Zustände und Gegensätze wird am sichersten vor jenem „Listen“ bewahren, das Lassalle an jener Stelle bekämpft. Nur besondere Arten der Bildung, Ideologien, die die Wirklichkeit nicht aufdecken, sondern die wirklichen Gegensätze verhüllen, können einer Korrektur durch den Instinkt der Massen bedürfen.

Endlich ist es auch nicht richtig, daß „die meisten Revolutionen, die gescheitert sind ..., an dieser Klugheit gescheitert sind“. In den Revolutionen entscheiden die realen Machtverhältnisse der Klassen. Wenn in der Revolution einzelne Führer sich aufs „Listen“ verlegen und diese Art Diplomatie Einfluß auf den Gang der Revolution nimmt, so ist dies ein Symptom, nicht eine Ursache der Schwäche der revolutionären Masse. Andererseits kann man nicht sagen, daß der Radikalismus der siegreichen Massen 1792 ein bloßes Ergebnis des Instinkts der Unbildung war. Der Journalismus bildete damals eine Macht, die auf die Massen gewaltig einwirkte. Man täte aber den radikalen Journalisten jener Zeit, den Marat usw., in hohem Maße Unrecht, wollte man ihnen „Mangel an Bildung“ zuschreiben. Die Sätze Lassalles enthalten also keinen Grund für uns, die theoretische Einsicht vor dem Instinkt der Massen kapitulieren zu lassen. Wir stehen nach wie vor auf dem Boden des Kommunistischen Manifests, das von den Kommunisten – heute würde man sagen Marxisten – erklärt:

Sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.

Und gerade weil sie diese theoretische Einsicht dem Instinkt der übrigen Masse des Proletariats entgegensetzen, erweisen sie sich „praktisch als der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“. Sicher: Respekt vor der proletarischen Masse, nur sie kann uns zum Siege führen. Und sie ist intellektuell und moralisch jeder anderen Masse heute weit überlegen. Aber Respekt vor ihren Anschauungen nur dort, wo sie mit Klassenbewußtsein erfüllt ist, selbständig denkt und Argumente wägt, nicht aber Respekt vor blinden Instinkten!
 

4. Massenstreik und Krieg

Ich weiß nicht, ob Pannekoek auf dem Boden der Bremer Verehrung des Masseninstinkts steht. Auf jeden Fall scheint es, daß er die heutige Volksmasse nicht nur vollständig dem Proletariat gleichsetzt, sondern auch, daß er die ganze proletarische Masse bereits von Klassenbewußtsein erfüllt sieht.

Nur so erklärt sich seine Auffassung der Verhinderung eines Krieges durch den Massenstreik.

Ich hatte darüber in meinem Maiartikel des vorigen Jahres gehandelt und ausgeführt, daß es unmöglich sei, im vorhinein festzustellen, wie sich unsere Aktion im Falle eines Krieges gestalten werde. Es wäre ebenso voreilig, zu erklären, ein Massenstreik zur Verhinderung des Krieges sei unmöglich, wie, er sei unausbleiblich. Alles hänge von den Bedingungen ab, unter denen es zum Kriege komme, und von der Haltung der Bevölkerung. Empfinde diese den Krieg als das Produkt einer verkehrten Politik ihrer Regierung, halte ich ihn für unnütz und für vermeidlich, wenn die Regierung durch eine andere ersetzt werde; glaube sie endlich, daß das Land durch seinen Massenstreik nicht gefährdet werde, dann habe ein solcher Aussicht auf Erfolg. Dagegen sei er aussichtslos dort, wo die Masse der Bevölkerung nicht in der Politik der eigenen Regierung, sondern in den Bedürfnissen des feindlichen Landes die Kriegsursache sieht, sich durch dieses bedroht und bedrängt fühlt und wo endlich die Gefahr droht, daß ein Massenstreik nicht zur Erhaltung des Friedens führe, sondern nur zur Erleichterung einer feindlichen Invasion. Da sei zu erwarten, daß die Masse der Bevölkerung vom wildesten Kriegsfieber erfaßt werde und jeden Versuch, den Kriegsrüstungen durch einen Massenstreik entgegenzutreten, im Keime ersticke.

Über diese Ausführungen ist Genosse Pannekoek ganz entsetzt. Wie kann ein Marxist nur zu einer solchen Auffassung kommen? ruft er. Er würde es nicht glauben, daß ich derartiges zu schreiben vermochte, wenn nicht schon meine Ausführungen über die Aktion der Masse in beklagenswerter Weise zeigten, daß ich jedes marxistische Rüstzeug abgeworfen. Der Marxismus weiß nichts von der „Bevölkerung“ und ihren Stimmungen. Der Marxismus sieht hier die Bourgeoisie und dort das Proletariat. Beim Beginn eines Krieges handelt es sich um einen „Kampf zwischen dem Kriegswillen der Bourgeoisie und dem Friedenswillen des Proletariats“. In diesem Kampfe hat letzteres gar keine Wahl.

In einem hochkapitalistischen Lande, wo die proletarische Masse ihre Macht als die große Volksmacht fühlt, wird sie, wenn sie die schlimmste Katastrophe über sich hereinbrechen sieht, einfach auftreten müssen.

Der Massenstreik im Kriegsfall ist also ein kategorischer Imperativ für die Masse. So einfach liegen die Dinge für jeden Marxisten nach Pannekoekscher Anschauung beim Ausbruch eines Krieges, daß es das überflüssigste Ding von der Welt ist, darüber nachzudenken, in welche Situationen das friedenswillige Proletariat dabei kommen kann. Es wird unter allen Umständen das gleiche tun müssen, welches immer die Ursachen und Bedingungen des Krieges sein mögen. Notabene. Es handelt sich hier nicht um die Frage, ob die Sozialdemokratie nicht stets verpflichtet ist, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, einen Krieg zu verhindern. Das steht im Zeitalter des Imperialismus für uns alle außer Frage. Um was es sich hier handelt und wogegen sich Pannekoek wendet, ist meine Behauptung, daß die Anwendung eines bestimmten Mittels zur Verhinderung des Krieges, des Massenstreiks, nicht unter allen Umständen geboten ist, daß sie in hohem Grade von der Stimmung der Volksmasse abhängig sein wird, die unter verschiedenen Bedingungen sehr verschieden sein kann. Wo diese von chauvinistischem Kriegsfieber ergriffen sei, werde ein Massenstreik undurchführbar.

Ein Marxist hat nach Pannekoek unter der Volksmasse stets nur das Proletariat zu verstehen, und dieses repräsentiert unter allen Umständen in seiner Gesamtheit nur den entschiedensten Friedenswillen und wird stets in den Massenstreik dafür eintreten. Daß selbst im Deutschen Reiche die sozialdemokratischen Stimmen nur ein Drittel aller abgegebenen, zwei Siebentel aller Wahlberechtigten umfassen, daß also daneben im Falle eines Krieges noch andere Volksschichten für eine Massenbewegung ausschlaggebend werden, kommt für ihn ebensowenig in Betracht wie eine Erwägung darüber, ob es nicht auch Situationen geben kann, in denen von jenem Drittel der Bevölkerung, das sozialistisch stimmt, im Falle eines Krieges noch ein erheblicher Teil von patriotischer Begeisterung erfaßt wird. Das sind Probleme, die für einen Marxisten nach Pannekoek nicht existieren dürfen. Sie sind alle gelöst durch die einfache Erkenntnis, daß es einen Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat gibt, daß die Lohnarbeiter stets gegen das Kapital kämpfen.
 

5. Krieg und Invasion

Ich hatte darauf hingewiesen, daß namentlich dann, wenn durch den Massenstreik eine feindliche Invasion erleichtert würde, er die entschiedenste Verurteilung selbst großer proletarischer Schichten erfahren würde.

Darauf entgegnet Pannekoek, das sei eine veraltete Auffassung, aus den Erfahrungen früherer Kriege gewonnen, wo die Hauptbevölkerung Bauernschaft und Kleinbürgertum darstellte. Für die war die feindliche Invasion dort, wo sie hinkam, eine schlimme Heimsuchung. Wo der Feind nicht hindrang, dort hatte man wenig zu leiden. Heute bildet das Proletariat den größten Teil der Bevölkerung, und die Leiden, die durch die Invasion verursacht werden, verschwinden gegenüber jenen, die der Krise entspringen, dem Zusammenbruch des ganzen ökonomischen Lebens, das ein Krieg für ein kapitalistisches Land bedeutet. Darum muß das Ziel der Aktion der Massen heute nicht dahin gehen, die feindliche Invasion fernzuhalten, sondern den Krieg zu verhindern.

Daran ist so viel richtig, daß eine feindliche Invasion in erster Linie die Landbevölkerung trifft, die heute einen geringeren Bruchteil der Bevölkerung ausmacht als ehedem, und daß für die städtische Bevölkerung die Verheerungen des Krieges vor allem und überall die Form einer ökonomischen Krise annehmen werden.

Daraus folgt, daß heute nicht bloß die Landbevölkerung das stärkste Interesse an der Erhaltung des Friedens hat, sondern auch die Stadtbevölkerung. Es folgt aber keineswegs, daß der Schutz vor einer feindlichen Invasion für die Masse der Bevölkerung eine gleichgültige Sache geworden ist. Pannekoek scheint zu vergessen, daß bei einem Kriege nicht ein Staat für sich allein in Betracht kommt, sondern zwei. Wenn von zwei zum Kriege rüstenden nur der eine bei der Mobilisierung durch innere Bewegungen gestört wird, der andere nicht, so bedeutet das keineswegs eine Verhinderung des Krieges. Es kann im Gegenteil den Angriff des Gegners fördern. Die Invasion selbst ist aber heute noch keine so geringfügige Sache, wie sie Pannekoek erscheint. Im Gegenteil, sie muß sich um so verheerender gestalten, je umfangreicher die Armeen und je gewaltiger ihre Vernichtungsmittel, je ausgedehnter die Schlachtfelder, je volkreicher die Städte, die als Festungen dienen.

Aber nehmen wir an, die Angst vor den Schrecken einer Invasion sei ein veraltetes kleinbürgerliches Vorurteil, so kann doch Pannekoek nicht leugnen, daß es heute noch die Denkweise der Massen beherrscht. Ihre Anschauungen vom Kriege und seinen Verheerungen zieht sie naturgemäß nicht aus Pannekoeks Spekulationen über den kommenden Krieg, sondern aus den Erfahrungen der bisherigen Kriege, und nur diese können ihr Denken und Handeln in bezug auf den kommenden Krieg bestimmen. Pannekoek mag sagen, was er will, bei der Volksmasse in Frankreich wie in England ist die Angst vor einer deutschen Invasion weit verbreitet, und sie verursacht vielleicht mehr noch als die imperialistischen Tendenzen der Bourgeoisie, daß das Wettrüsten dort auf so wenig Widerstand stößt, gleichzeitig aber auch der Gedanke internationaler Abrüstung immer stärkere Zustimmung findet.

Wenn Pannekoek vermeint, die Volksmasse werde unter allen Umständen, auch wenn der eigene Staat der angegriffene Teil ist und nicht der Angreifer, die Mobilisierung hindern wollen, so kann ich ihn darauf verweisen, daß er in der Sozialdemokratie selbst nicht viele Genossen finden wird, die seinen Standpunkt teilen. Auf dem Essener Parteitag von 1907 erklärte zum Beispiel Bebel:

Wenn wir wirklich einmal das Vaterland verteidigen müssen, so verteidigen wir es, weil es unser Vaterland ist, als den Boden, auf dem wir leben ... Und deshalb müssen wir gegebenenfalls das Vaterland verteidigen, wenn ein Angriff kommt. (Protokoll, S. 255)

In gleichem Sinne hat sich in Frankreich Guesde ausgesprochen. Ich habe damals schon in einer Artikelserie über Patriotismus, Krieg und Sozialdemokratie in der Neuen Zeit den gleichen Standpunkt entwickelt wie jetzt und unter anderem geschrieben:

Eine Invasion feindlicher Kriegsheere bedeutet so namenloses Elend für das ganze Land, daß sie von selbst die gesamte Bevölkerung zur Abwehr dagegen aufruft und keine Klasse sich der mächtigen Strömung entziehen kann. (Neue Zeit, XXIII, 2, S. 369)

Ich hatte also offenbar damals schon mein ganzes marxistisches Rüstzeug im Stiche gelassen, um kleinbürgerlichen veralteten Vorurteilen anheimzufallen.

Lägen die Dinge wirklich so einfach, wie sie Pannekoek erscheinen: hier absoluter Friedenswille des Proletariats, dort absoluter Kriegswille der Bourgeoisie; müßten wir unter allen Umständen mit Sicherheit darauf rechnen, daß die Masse sich gegen jeden Krieg mit Naturnotwendigkeit erheben werde, so daß jedes weitere Nachdenken darüber eine Preisgabe aller Erkenntnisse von den modernen Klassengegensätzen bedeute – dann könnte man doch erwarten, daß die letzten Kriege uns bereits Proben dieses unfehlbaren Masseninstinkts zeigten.

Diese Kriege vollzogen sich unter Bedingungen, die für die Bekundung des Friedenswillens der Masse die günstigsten waren. Nirgends war dabei das eigene Land von einer feindlichen Invasion bedroht, wenn die Mobilisierung gehemmt ward, und doch, nirgends sehen wir die Massen immun gegen das Gift des chauvinistischen Taumels. Überall gerieten die Gegner des Krieges, sobald es einmal zum Schlagen kam, in hoffnungslose Minderheit, die nicht imstande war, eine energische Massenaktion gegen den Krieg durchzuführen. So in England beim Ausbruch des Burenkriegs, so in Italien beim Beginn des Überfalls über die Türkei. Man weist uns auf Rußland hin als auf das gelobte Land des Massenstreiks. Aber nicht der mindeste Versuch wurde dort unternommen, gegen den Krieg mit Japan auch nur schüchtern zu protestieren. Die Massenstreiks kamen, in gewaltigster Weise, aber nicht als Mittel, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, sondern als Ergebnis des Krieges.

„Der unvermeidliche Versuch des Proletariats, den Krieg zu verhindern“, wie Pannekoek sagt, hat sich bisher durch sein unvermeidliches Ausbleiben ausgezeichnet.

Das braucht sicher nicht für alle Ewigkeit zu gelten. Wir wachsen von Tag zu Tag, und manches wird für uns morgen möglich, das gestern noch Unmöglichkeit war. Und die Situationen, aus denen Kriege entspringen, sind der mannigfachsten Art und können in der verschiedensten Weise wirken.

Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, daß wir irgendwo dahin kommen werden, einen Krieg, zu dem sich eine Regierung stark genug durch die allgemeine Volksstimmung fühlt, durch einen Massenstreik zu verhindern, aber für völlig ausgeschlossen brauchen wir es nicht zu erklären.
 

6. Vereinfachter Marxismus

Wogegen ich mich wende, ist jene Auffassung, die unsere einzelnen Aktionen, unabhängig von allem Studium der jeweiligen Kräfteverhältnisse, Situationen und Stimmungen der verschiedenen ßevölke-rungsklassen, ein und für allemal schablonenhaft durch bloße Spekulationen aus dem Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital abzuleiten sucht und diese Methode für die marxistische hält, weil sie auf der marxistischen Theorie fußt. Sie vergißt, daß eine Theorie eine Abstraktion ist, nicht ein vollständiges, sondern ein vereinfachtes Bild des Lebens. Eben durch diese Vereinfachung ermöglicht es die Theorie, Sinn und Ordnung in das Chaos der Erscheinungen zu bringen und sich in ihrem Labyrinth zurechtzufinden. Aber sie bleibt nur der Ariadnefaden durch das Labyrinth, wird nie dieses selbst, wird nie identisch mit der Wirklichkeit, erheischt vielmehr deren stete weitere Beobachtung.

Es ist nicht erst heute, daß ich mit jener vereinfachten Art des Marxismus in Konflikt gerate. Um ihr entgegenzutreten, schrieb ich unter anderem schon 1889 meine Abhandlung über die Klassengegensätze im Zeitalter der Französischen Revolution. In der Vorrede zur zweiten Auflage (1908) erwähnte ich einen Vulgärmarxismus, der ausreichen mag, wo er sich begnügt, zu popularisieren, was Marx und Engels gefunden, der versagt, wenn er die befahrenen Geleise verlassen will. Ich fuhr fort:

Diesem 1889 grassierenden Vulgärmarxismus entgegenzuwirken, der den Schlüssel aller Weisheit zu besitzen glaubte, wenn er wußte, daß die gesellschaftliche Entwicklung ein Produkt der Klassenkämpfe ist, und daß die sozialistische Gesellschaft aus dem Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hervorgehen wird – der Gefahr entgegenzuwirken, daß der Marxismus zu einer bloßen Formel und Schablone herabgedrückt würde, das war die Aufgabe, der neben anderen Arbeiten auch die vorliegende dienen sollte. Sie wollte die Fülle der Einsicht zeigen, die aus der Anwendung des Prinzips des Klassenkampfes in der Geschichte zu gewinnen ist, aber auch die Fülle von Problemen, die daraus hervorgehen. Sie wollte dabei nicht bloß der Verflachung der Theorie, sondern auch der der Praxis des Klassenkampfes entgegenwirken, indem sie zeigte, daß die sozialistische Politik sich nicht damit begnügen darf, den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit im allgemeinen zu konstatieren, daß sie den ganzen sozialen Organismus in all seinen Details durchforschen muß, da unter diesem großen Gegensatz noch zahllose andere in der Gesellschaft bestehen, von geringerer Bedeutung, die aber nicht übersehen werden dürfen und deren Verständnis und Ausnutzung die proletarische Taktik bedeutend erleichtern und viel fruchtbarer machen kann. (S. 4, 5)

Und in der Einleitung schrieb ich dann:

Man ist nur zu geneigt, wenn eine historische Entwicklung auf Klassengegensätze zurückgeführt wird, anzunehmen, daß in der Gesellschaft jeweilig bloß zwei Lager, zwei Klassen sind, die einander bekämpfen, zwei feste, homogene Massen, die revolutionäre und die reaktionäre Masse, daß ein „Hüben und Drüben nur gilt“. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, wäre die Geschichtschreibung (und auch die praktische Politik) eine ziemlich leichte Sache. Aber in Wirklichkeit liegen die Verhältnisse nicht so einfach. Die Gesellschaft ist und wird immer mehr ein ungemein komplizierter Organismus mit den verschiedensten Klassen und den verschiedensten Interessen, die sich je nach der Gestaltung der Dinge zu den verschiedensten Parteien gruppieren können. (S. 9)

Jene Genossen, die ich damals als „Vulgärmarxisten“ im Auge hatte, weil sie den Marxismus allzusehr vereinfachten, Max Schippel, Hans Müller, Paul Ernst und andere, begannen gerade 1889 den Kampf gegen den Parteivorstand und seine „offiziösen Journalisten“, gegen Bebel und Liebknecht, Singer und Auer, Engels und mich, denen sie Preisgabe des revolutionären und proletarischen Charakters der Partei und deren Verwandlung in eine kleinbürgerlich-possibilistische Reformpartei vorwarfen. Anklagepunkte bildeten schließlich die Stichwahlparole von 1890, die Teilnahme der Abgeordneten an den Verhandlungen eines arbeiterfeindlichen Parlamentes, das Versagen der Maifeier, die Ablehnung des Militärstreiks im Kriegsfall, die der Holländer Domela Nieuwenhuis auf dem Brüsseler Internationalen Kongreß 1891 verlangte.

Seitdem sind mehr als zwei Jahrzehnte verflossen. Die heutige Generation kennt nicht mehr die Kämpfe, die wir damals ausfochten. Der vereinfachte Marxismus ist aber so naheliegend, anschaulich, populär, daß er immer wieder auftaucht, wenn die Verhältnisse ihm günstig sind und die Masseninstinkte für ihn aufnahmefähig machen. Die Erregungen des Kampfes um das stürzende Sozialistengesetz hatten von 1889 bis 1893 den radikalen Vulgärmarxismus emporgehoben. Die Ära der Prosperität seit 1895 ebnete die Wege für die Revision des Vulgärmarxismus. Die Verschärfung der Klassengegensätze seit 1907 erweckt wieder Masseninstinkte, denen der Marxismus in seiner schroffsten, absolutesten, einfachsten Art am ehesten zusagt. So müssen wir noch einmal Erörterungen pflegen, die wir vor zwei Jahrzehnten schon übergenug gepflogen zu haben glaubten. Aber wir dürfen wenigstens sicher sein, daß diesmal dem Übermarxismus kein neuer Revisionismus folgt. Dazu ist die Ära wachsender Klassengegensätze nicht angetan.


II. Die Organisation

1. Organisation und Charakter

Wo es sich darum handelt, marxistische Gedankengänge möglichst einfach und klar darzustellen, gelingt dies Pannekoek vortrefflich. Sobald es sich dagegen um die Würdigung konkreter Erscheinungen handelt, gerät seine spekulative Fortspinnung der einfachen Gedanken mitunter in Widerspruch zu der Wirklichkeit.

So stellt er sehr schön dar, wie sich die Faktoren der sozialen Revolution entwickeln. Er kommt zu dem Schlusse:

Die Organisation ist die mächtigste Waffe des Proletariats. Die gewaltige Macht, die die herrschende Minderheit durch ihre feste Organisation besitzt, kann nur durch die noch gewaltigere Macht der Organisation der Mehrheit besiegt werden.

Durch das stetige Wachstum dieser Faktoren: wirtschaftliche Bedeutung, Wissen und Organisation steigt die Macht des Proletariats über die Macht der herrschenden Klassen hinaus. Damit ist erst die Vorbedingung zur sozialen Revolution gegeben (S. 544). Das ist sehr gut gesagt. Aber nach Pannekoek ist man sehr schief gewickelt, wenn man nun die wirklichen, konkreten Organisationen des Proletariats als jene betrachtet, die zu erhalten, zu entwickeln und zu vervollkommnen neben der Verbreitung von Wissen unsere wichtigste Aufgabe bildet. Mitnichten! Für die wirklichen Organisationen bekundet Pannekoek wenig Interesse. Er macht sich mit dem Gedanken vertraut, daß sie in den kommenden Kämpfen zugrunde gehen. Die proletarische Organisation, meint er, wird trotzdem wachsen. Er sagt:

Vielfach herrscht die Furcht, in diesen gefährlichen Kämpfen könne die Organisation des Proletariats, sein wichtigstes Machtmittel, vernichtet werden; und auf diesem Gedanken beruht vor allem die Abneigung gegen die Anwendung des Massenstreiks bei denjenigen, deren ganzes Wirken sich auf die Leitung der heutigen großen proletarischen Organisationen bezieht. (S. 548)

Pannekoek meint dann, wenn die Arbeiterorganisationen den Kampf beginnen, werde der Staat sicher nicht davor zurückschrecken, die Führer zu verhaften, die Kassen zu beschlagnahmen. Aber solche Gewaltakte werden ihm nichts helfen, er kann damit nur die äußere Form zertrümmern, aber nicht das innere Wesen treffen. Die Organisation des Proletariats, die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen, bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters der Proletarier. (S. 548)

Pannekoek selbst unterstreicht diesen Satz, so bemerkenswert erscheint ihm seine Konstatierung, daß die Organisation in Wirklichkeit gar keine Organisation ist, sondern ganz etwas anderes, der Charakter der Proletarier.

Nachdem er dieses Kunststück sozialer Alchimie vollbracht, ist es ihm ein leichtes, zu zeigen, daß die Massenkämpfe, die zur Zerstörung der Organisation führen, die Massen der Arbeiter aufrütteln und ihren Charakter vervollkommnen, so daß wunderbarerweise gerade die Zertrümmerung der Organisationen der Weg ist, „die innere Festigkeit der Organisation zu heben“ und die „Macht des Proletariats so hoch zu steigern, als zur Herrschaft über die Gesellschaft nötig ist“. „Am Schlusse des Revolutionsprozesses“, nachdem alle Organisationen des Proletariats sich völlig aufgelöst haben, steht „das ganze arbeitende Volk als hochorganisierte ... Masse da und kann daran gehen, die Organisation der Produktion in die Hand zu nehmen“. (S. 550)

Es fällt Pannekoek nicht ein, zeigen zu wollen, und er vermöchte es auch kaum, daß anstelle „der Form der heutigen Organisationen und Verbände“ im Fortgang des Kampfes schließlich andere, den neuen Bedingungen besser angepaßte treten werden. Derartiges ist möglich, sollte es aber dazu kommen, dann wäre das eines der Gebiete, auf denen die Praktiker den Theoretikern vorausgehen müssen. Davon spricht Pannekoek denn auch gar nicht. Da die wirkliche Organisation des Proletariats seinen theoretischen Schlußfolgerungen im Wege steht, wird sie einfach in Luft aufgelöst. Denn etwas anderes ist es nicht, wenn man erklärt: das Wesen der Organisation ist die Umwälzung im Charakter des Proletariers.

Kein Zweifel, die Organisation wälzt den Charakter des Proletariers um. Aber diese Umwälzung ist doch die Folge und nicht das Wesen der Organisation.
 

2. Die Machtmittel der Organisationen

Eine der Hauptwirkungen der Organisation auf den Charakter des Arbeiters besteht in der Zuversicht auf den materiellen Rückhalt der Gesamtheit, den der einzelne findet. Einen sehr kräftigen Ausdruck findet dieser Rückhalt in den Geldmitteln, die die Verbände aufbringen und für Fälle der Not und des Kampfes aufsammeln. Daß der Charakter die Geldmittel ersetzen könne, haben sich wohl die revolutionären Syndikalisten eine Zeitlang eingebildet, aber auch sie fangen an, den Irrtum dieser Annahme einzusehen. Natürlich können auch umgekehrt Geldmittel nicht den Charakter ersetzen; und wie im Kriege die geistige und körperliche Verfassung des Menschen wichtiger ist als seine materielle Ausrüstung, so gilt das auch für den Klassenkampf. Feiglinge werden durch das beste Gewehr keine brauchbaren Soldaten, und charakterlose Burschen werden durch volle Gewerkschaftskassen keine Klassenkämpfer. Aber andererseits erliegen das höchste Heldentum und die größte Kraft, wenn sie unbewaffnet einem wohlgerüsteten und kampfbereiten Gegner gegenüberstehen. Und der hingehendste Klassenkämpfer muß den Streik aufgeben, wenn keine Mittel mehr da sind, ihn und die Seinen am Leben zu erhalten.

Diese Seite der Organisation, die freilich ganz und gar nicht dem Charakter identisch ist, berührt Pannekoek nicht. Das Wesen der Organisation ist ihm die Disziplin, die Solidarität. Und die gehen durch eine Zertrümmerung der Organisation nicht verloren: In den Arbeitern bleibt derselbe Geist, dieselbe Disziplin, derselbe Zusammenhalt, dieselbe Solidarität, dieselbe Gewohnheit des organisierten Handelns (nach Auflösung der bisherigen Organisationen) lebendig wie zuvor, und dieser Geist wird sich neue Formen der Betätigung schaffen. Mag ein solcher Gewaltakt auch schwer treffen, die wesentliche Macht des Proletariats wird dadurch nicht berührt, so wenig wie der Sozialismus durch das Sozialistengesetz getroffen werden konnte, das die regelmäßige Vereins- und Agitationsform behinderte. (S. 549)

Worin besteht aber die Disziplin, die „Gewohnheit organisierten Handelns“? In der Unterordnung unter eine gemeinsame Leitung, ohne die ein „organisiertes Handeln“ einer großen Masse ganz unmöglich ist. Das Wesen einer demokratischen Organisation besteht nun darin, daß diese Leitung von der Masse selbst gewählt wird, und daß auch die Ziele und Mittel des Kampfes von der Masse wenigstens grundsätzlich, wenn auch nicht immer im einzelnen, festgesetzt werden. Das ist aber nur möglich „unter der heutigen Form der Organisationen und Verbände“, die „unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung“ zustande kommen. Werden diese Formen unmöglich gemacht, können die Massen nicht mehr regelmäßig zusammentreten, um nach festen Regeln die gemeinsamen Angelegenheiten zu erledigen, so wird die demokratische Organisation unmöglich. Es wird dann, wie bei spontanen Massenaktionen, reine Sache des Zufalls, wer sich zu ihrem Führer aufschwingt, oder, wie es unter dem Sozialistengesetz der Fall war, die Führer, die bis dahin von den Massen anerkannt worden waren, behalten gewohnheitsgemäß ihre Funktionen weiter. Oder, und das kam für lokale Angelegenheiten auch unter dem Sozialistengesetz vor, eine kleine Minderheit organisiert sich geheim und leitet die große, unorganisierte Masse. Ein kampffähiges Proletariat wird auch unter solchen Umständen eine beachtenswerte Macht bleiben. Aber eine Steigerung und Vervollkommnung der Organisation des Proletariats über das unter freiheitlicheren Zuständen erlangte Maß hinaus hat bisher noch niemand in solchen Zuständen entdeckt.

Das Proletariat wird, wenn seine Organisation einem Gewaltstreich erliegt, an seinen „Gewohnheiten“ und Traditionen um so hartnäckiger festhalten, je mehr die Organisation ihm nützte, je mehr sie gerade deshalb angefeindet wurde, weil sie seine Kraft vermehrte. Dagegen würde sich das Proletariat voll Mißtrauen von seiner Organisation und ihren „Gewohnheiten“ abwenden, wenn diese ihm bloß Niederlagen brächten, die es schwächten. Pannekoek sieht nur eine Veranlassung des von ihm erwarteten Unterganges der heutigen Organisationen des Proletariats: Gewaltstreiche der Gegner. Aber noch eine andere Veranlassung ist möglich: eine falsche Taktik, die in leichtfertiger Weise, mit arger Unterschätzung der Kräfte der Gegner und höchster Überschätzung der eigenen Macht der Organisation Aufgaben setzt, an denen sie elend scheitern muß. Wenn die Organisation sich ohne jede Not in Kämpfe einläßt, die bei richtiger Einschätzung der Kraftverhältnisse vermeidbar wären, wenn sie hierbei die höchsten Anforderungen an die Opferwilligkeit der Mitglieder stellt, ohne irgendwelchen Erfolg, wenn sie ihre Kräfte völlig verpulvert, so daß sie schließlich bedingungslos kapitulieren muß – dann wird der Untergang der Organisation nicht eine Vermehrung der Kampfeslust der Proletarier, nicht ein zähes Festhalten an ihren Führern und an der freiwilligen Disziplin herbeiführen, sondern Entmutigung, Gleichgültigkeit, ja Mißtrauen gegen jedes „organisierte Handeln“ für lange hinaus. Hierfür paßt der Satz Pannekoeks:

Auf diesen Gedanken beruht vor allem die Abneigung gegen die Anwendung des Massenstreiks bei denjenigen, deren ganzes Wirken sich auf die Leitung der heutigen großen proletarischen Organisationen bezieht.

Wir werden aber noch sehen, daß gerade die Art der Aktion, die Pannekoek vorschlägt, die Gefahr eines derartigen Scheiterns der Organisationen mit Notwendigkeit heraufbeschwört. Das fühlt er selbst, und darum muß er, der Materialist, sich mit der spiritualistischen Erwägung trösten, daß nur der Leib der Organisation sterblich ist, ihre Seele aber unsterblich, und daß die Seele das Wesen der Organisation ausmacht.

Wir aber wissen, daß ein Mensch ohne Leib kein Mensch mehr ist und eine Organisation ohne Organe keine Organisation.
 

3. Die Gefährdung der Organisationen durch die Gegner

Gewiß bringt die Verschärfung der Klassengegensätze und der Klassenkämpfe die Gefahr mit sich, daß die Gegner die proletarischen Organisationen zu zertrümmern suchen. Aber wir dürfen dem nicht begegnen mit der Anschauung, das sei ein ziemlich gleichgültiger Vorgang, solange nur die unsterbliche Seele gerettet werde, sondern müssen dem damit begegnen, daß wir in dem Proletariat die Erkenntnis aufs tiefste einwurzeln, seine Organisationen, und zwar ihre bestehenden Formen, vor allem Partei und Gewerkschaft, seien für seinen. Kampf und für seine Behauptung unentbehrlich; es habe sie aufs eifrigste zu stärken, aufs eifersüchtigste zu schützen; es dürfe sie keinen leichtfertigen Abenteuern aussetzen; es müsse aber auch, wenn es einmal zu großen Kämpfen kommt, mit aller Zähigkeit und Kraft an ihnen festhalten; das Recht der Vereinigung und Koalition bilde sein wichtigstes Recht, an dessen Bewahrung es alles daransetzen müsse, Gut und Blut.

Pannekoek rechnet damit, daß die proletarischen Organisationen zertrümmert, Recht und Gesetz für sie aufgehoben werden, als mit einer selbstverständlichen Konsequenz der Verschärfung der Klassengegensätze. So selbstverständlich erscheint mir das nicht. Auch hier dürfen wir nicht Tendenzen als unabänderliche Resultate hinnehmen. Die Tendenz, das Streben, die proletarischen Organisationen zu zerschlagen, wächst sicher in dem Maße, in dem diese Organisationen stärker und gefährlicher für die bestehende Ordnung werden. Aber in demselben Maße wächst auch die Widerstandskraft der Organisationen, ja vielfach ihre Unentbehrlichkeit. Dem Proletariat jede Möglichkeit der Organisation abzuschneiden, ist heute in kapitalistisch entwickelten Staaten bereits unmöglich geworden, und die herrschenden Klassen selbst zeigen das Streben, jene Proletarier, die ihnen treu bleiben, zu organisieren, um ihre Kraft zu verstärken, was unmöglich ist, wenn jede Möglichkeit proletarischer Organisation aufgehoben wird. Eine Zerstörung proletarischer Organisation kann heute stets nur eine zeitweilige, nirgends mehr eine dauernde sein – auch wenn man das Wort Organisation in seinem wirklichen, nicht im Pannekoekschen Sinne nimmt.

Aber auch jede vorübergehende Zerstörung einer proletarischen Organisation bedeutet eine schwere Schädigung des proletarischen Klassenkampfes, und die Arbeiterklasse hat alle Vorsicht, aber auch alle Energie aufzubieten, um eine derartige Zerstörung zu verhindern. Welche Resultate der Kampf der entgegengesetzten Tendenzen zeitigen wird, läßt sich im vorhinein nicht sagen. Die Theorie kann nur die Verschärfung der Klassenkämpfe vorhersehen, nicht deren Ergebnisse in jedem einzelnen Falle. Das hängt von Situationen ab, die niemand auch nur zu ahnen vermag; von Imponderabilien, die niemand abzuwägen imstande ist; endlich aber auch von der Klugheit und Entschiedenheit hüben wie drüben. Von der Energie, mit der wir jeden Kampf ausfechten, in den wir einmal verwickelt sind; von der Klugheit, mit der wir es vermeiden, uns von den Gegnern oder von ungeduldigen Elementen in den eigenen Reihen zu Kraftproben verleiten zu lassen, denen wir noch nicht gewachsen sind.

Mögen Pannekoek und seine Freunde über diese Klugheit die Nase rümpfen und sie der Art Klugheit gleichsetzen, die Lassalle in seinem Briefe über Sickingen, aber nicht in seiner Praxis verwarf. Die Klugheit, die wir empfehlen, ist jene, die uns Friedrich Engels in seiner letzten Veröffentlichung, seinem politischen Vermächtnis, empfahl.


III. Die Massenaktion

1. Was bedeutet die neue Taktik?

Pannekoeks Vereinfachung der Marxschen Methode und seine Spiritualisierung der Organisation sind nur die Einleitung zur Hauptsache, die ihn beschäftigt:

Eine bestimmte neue Form der Betätigung der organisierten Arbeiter. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus hat dem klassenbewußten Proletariat diese neuen Aktionsformen aufgezwungen. (S. 586)

Neue Aktionsformen – das ist gewiß eine sehr wichtige Sache. Wer aber solche entdeckt oder vorschlägt, ist vor allem verpflichtet, klar und deutlich zu sprechen. Leider verläßt gerade hier Pannekoek seine gewöhnliche Klarheit. Ich weiß daher nicht mit Bestimmtheit, ob es mir gelungen ist, ihn richtig zu verstehen.

Vor allem müssen wir uns fragen: Woher rührt die Notwendigkeit der neuen Form? Wo sind die neuen Verhältnisse, die sie hervorrufen? Darauf erhalten wir keine deutliche Antwort. Pannekoek sagt zur Erläuterung des eben von ihm zitierten Satzes nur folgendes: Durch den Imperialismus mit großen Gefahren bedroht, im Kampfe um mehr Macht im Staate, um mehr Rechte, ist das Proletariat genötigt, in der energischsten Weise seinen Willen gegen die anderen mächtigen Kräfte des Kapitalismus zur Geltung zu bringen – energischer, als durch die Reden seiner Vertreter im Parlament möglich ist. Es muß selbst auftreten, in den politischen Kampf eingreifen und durch den Druck seiner Massen Regierung und Bourgeoisie zu beeinflussen suchen. Wenn wir über Massenaktionen und deren Notwendigkeit reden, meinen wir damit eine außerparlamentarische politische Betätigung der organisierten Arbeiterklasse, wobei sie selbst unmittelbar durch ihr Auftreten statt durch Vertreter auf die Politik einwirkt. Wieso durch diese Ausführungen die Notwendigkeit einer neuen Taktik begründet wird, ist nicht recht verständlich. Ist das Proletariat nicht seit jeher „genötigt, in der energischsten Weise seinen Willen gegen die anderen mächtigen Kräfte des Kapitalismus zur Geltung zu bringen“? Und warum muß es heute zu diesem Zweck mehr als früher zu außerparlamentarischen Mitteln greifen? Sind unsere Vertreter im Parlament heute schwächer als ehedem?

Eine sehr zwingende Begründung einer neuen Taktik durch neue Verhältnisse ist in diesen Ausführungen sicher nicht gegeben. Aber noch weniger klar ist die Darstellung der neue Taktik selbst. Ich hatte ausdrücklich die Verfechter dieser Taktik aufgefordert, auseinanderzusetzen, was sie darunter verstehen. Ehe man über sie diskutiere, „müßte man wissen, ob man neue taktische Grundsätze oder neue Maßnahmen verlangt“. Was entgegnet Pannekoek?

Darauf ist einfach zu erwidern, daß wir keine Vorschläge zu machen brauchen. Die Taktik, die wir als richtig betrachten, ist schon die Taktik der Partei; ohne daß dazu Vorschläge nötig waren, hat sie sich praktisch durchgesetzt in den Massendemonstrationen. Theoretisch hat die Partei sie schon anerkannt in der Jenaer Resolution, wo vom Massenstreik als Mittel der Eroberung neuer politischer Rechte geredet wird. (S. 592)

Und so kommt Pannekoek zu dem Schlusse: Wenn wir mitunter über eine neue Taktik reden, so nicht in dem Sinne von neu vorzuschlagenden Grundsätzen oder Maßnahmen ..., sondern um klare theoretische Einsicht zu bringen über das, was sich tatsächlich vollzieht. (S. 592)

Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, daß Pannekoek die Organisation für das wichtigste Machtmittel des Proletariats erklärt, dann aber entdeckt, das Wesen der Organisation sei gar nicht die Organisation. So erklärt er jetzt: Eine neue Taktik ist notwendig geworden, darüber müssen wir diskutieren, darüber uns verständigen – und siehe da, diese Taktik ist seit sechs Jahren von einem Parteitag fast einstimmig festgelegt und wird ebensolange von der Partei befolgt, ohne irgendwelche Einwendungen von irgendeiner Seite, so daß es Pannekoek für höchst überflüssig hält, sie näher auseinanderzusetzen. Wenn man Pannekoek fragt, welches die besondere Taktik sei, die er selbst im Gegensatz zum Parteivorstand, zu mir, zu vielen anderen Genossen vertrete, verweist er statt einer Antwort auf die Jenaer Resolution, die mit 287 gegen 14 Stimmen angenommen worden war. Fast alle Revisionisten stimmten dafür, so Bernstein, David, Peus, Südekum. Haben die alle schon „theoretisch“ die Taktik Pannekoeks anerkannt, und zwar in so unzweideutiger Weise, daß er sich jede nähere Darstellung dieser Taktik sparen kann?

Indes, wenn Pannekoek auch sehr mit positiven Ausführungen über die neue Taktik spart, so ist er um so freigebiger mit seiner Negation, mit seiner Kritik meiner Taktik. Und die kann er doch nicht vollziehen, ohne sich auch gelegentlich einige Andeutungen über seine eigenen taktischen Anschauungen entschlüpfen zu lassen.

Ich war in meiner Abhandlung über die Aktion der Masse zu dem Ergebnis gekommen:

Ausbau der Organisation, Gewinnung aller Machtpositionen, die wir aus eigener Kraft zu erobern und festzuhalten vermögen, Studium von Staat und Gesellschaft und Aufklärung der Massen: andere Aufgaben können wir uns und unseren Organisationen auch heute noch nicht bewußt und planmäßig setzen. (a. a. O., S. 117)

Man sollte glauben, Pannekoek sei mit dieser Anschauung völlig einverstanden. Sagt er doch selbst:

Durch das stetige Wachstum dieser Faktoren: wirtschaftliche Bedeutung, Wissen und Organisation steigt die Macht des Proletariats über die Macht der herrschenden Klasse hinaus.

Jetzt aber erscheinen ihm die Tätigkeiten der Organisierung und Aufklärung der Massen und des Kampfes um einzelne Machtpositionen als etwas ganz Unbeträchtliches. Er gibt meine Auffassung mit den Worten wieder:

Bis dahin (zur Schlußkatastrophe, deren Theorie Pannekoek bei mir entdeckte. – K.) hat die Arbeiterbewegung ihre bisherige Praxis einfach weiter zu verfolgen: die Wahlen, die Streiks, die parlamentarische Arbeit, es geht alles in alter Weise in allmählich steigendem Umfang weiter, ohne etwas Wesentliches an der Welt zu ändern. (S. 591)

Meine Auffassung erscheint Pannekoek als purer Revisionismus: Kautsky stimmt mit dem Revisionismus dahin überein, daß unsere bewußte Tätigkeit sich in dem parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfe erschöpft; und daher ist es nicht sonderbar, daß seine Praxis nur allzu oft – wie neulich bei dem Stichwahlabkommen – eine Annäherung an die revisionistische Taktik aufweist. (S. 592) Ober diese Behauptung brauche ich mich nicht allzusehr aufzuregen. Was Pannekoek hier Revisionismus nennt, das ist die bisherige Praxis der Partei! Nachdem er die Jenaer Resolution, der neun Zehntel der Revisionisten zustimmten, als die ausreichende Begründung seiner eigenen Taktik hingestellt, verurteilt er die bisherige Taktik der Partei als revisionistische Taktik! Ein schöner Kuddelmuddel. Aber schon naht die Klärung. Pannekoek fährt fort:

Von dem Revisionismus unterscheidet sich Kautsky dadurch, daß jener von solcher Tätigkeit selbst den Umschwung, den Übergang zum Sozialismus erwartet und sie daher auf Reformen zuspitzt, während Kautsky diese Erwartung nicht teilt, sondern revolutionäre Ausbrüche voraussieht als Katastrophen, die ohne unseren Willen und unser Zutun, wie aus einer anderen Welt plötzlich hereinbrechen und dem Kapitalismus den Garaus machen. Es ist „die alte bewährte Taktik“ in ihrer negativen Seite zum System erhoben. Es ist die Katastrophentheorie in der Form, in der wir sie bisher nur als bürgerliches Mißverständnis kannten, zur Parteilehre avanciert (S. 592). Zum Glück haben wir den Genossen Pannekoek, der meine „bürgerlichen Mißverständnisse“ ebenso klarlegt wie den „Revisionismus“, dem sich die gesamte deutsche Sozialdemokratie unter der Zustimmung von Marx und Engels seit bald einem halben Jahrhundert ergeben hat.
 

2. Passiver Radikalismus

Über meine „Katastrophentheorie“ mich ausführlich auszulassen, ist eigentlich nicht notwendig. Ich habe darüber schon vor zwei Jahren sehr eingehend mit der Genossin Luxemburg diskutiert. Das sagt Pannekoek selbst:

Es ist dieselbe Theorie, die während der Massenstreikdebatte vor zwei Jahren von Kautsky vertreten wurde – die Theorie des Massenstreiks als eines einmaligen revolutionären Aktes, dazu bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen, die hier in neuer Form auftritt. Es ist die Theorie des aktionslosen Abwartens ... die Theorie des passiven Radikalismus. (S. 591)

Ich habe weder Zeit noch Lust, die ohnehin schon lang gediehene Auseinandersetzung mit Pannekoek noch durch eine Wiederholung der Argumente zu verlängern, die jeder, der sich dafür interessiert, in der schon zitierten Diskussion (Neue Zeit, XXVIII, 2) nachlesen kann. Hier sei nur kurz bemerkt, daß ich weder jemals behauptet habe, der Massenstreik sei ein Ereignis, bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen, noch, wir hätten tatenlos zu warten, bis „wie aus einer anderen Welt“ ein Massenstreik losbricht. Ich habe nur behauptet, daß unter westeuropäischen Verhältnissen, wo es wirkliche proletarische Organisationen, nicht bloß solche im Pannekoekschen Sinne gibt, ein politischer Massenstreik jedesmal zu einer Kraftprobe wird, die in der Regel entweder zu einem entscheidenden Siege oder zu einer entscheidenden Niederlage führt, wobei die Kräfte auf beiden Seiten so erschöpft werden, daß eine baldige Wiederholung des Kampfes nicht zu erwarten ist. Eine Periode chronischen Massenstreiks sei höchstens in rückständigen Staaten wie Rußland und auch da nur unter bestimmten Umständen möglich.

Zweitens hatte ich behauptet, ein Massenstreik habe in Westeuropa nur Aussicht auf Erfolg, wenn eine Reihe von Bedingungen zusammentreffen, die von uns benutzt, nicht aber willkürlich geschaffen werden können. Wo durch solche Bedingungen eine Massenbewegung hervorgerufen werde, hätten wir sie aufs energischste zu fördern und zur Stärkung des Proletariats zu benutzen, was wir um so eher vermöchten, je stärker unsere Organisationen, je besser unterrichtet ihre Mitglieder. Für das Gelingen solcher Massenaktionen entscheidend werde eine hochgradige, alle Dämme niederreißende Erregung der proletarischen Massen. Eine solche Erregung könne nur großen historischen Ereignissen entspringen. Ich verfolgte hier den gleichen Gedanken, den in ihrem Leitartikel über Rußland vom 31. Mai die „Leipziger Volkszeitung“ aussprach, als sie das Wort Lassalles zitierte: Die Massen werden nicht nur praktisch, sondern auch geistig nur durch die Siedehitze tatsächlicher Ereignisse zu Fluß und Bewegung hingerissen.

Diese Gedanken hier noch zu verteidigen, habe ich keinen Grund. Pannekoek macht nicht den leisesten Versuch, sie zu entkräften. Bequemer ist es, sie in der Weise totzuschlagen, daß man sie in absurdester Form wiedergibt.

Ich möchte nur noch zur Vermeidung von Mißverständnissen darauf hinweisen, daß ich in meiner Polemik mit der Genossin Luxemburg vom politischen Massenzwangsstreik handelte, in meinem Artikel über die „Aktion der Masse“ von Straßenunruhen rede. Von ihnen behauptete ich, sie könnten unter Umständen politische Katastrophen herbeiführen, seien aber unberechenbar und nicht nach Belieben zu veranstalten.

Ich handelte dabei nicht von bloßen Straßendemonstrationen. Die sind durchaus nicht ein unberechenbarer Faktor und können sehr wohl von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen ohne jede Beteiligung unorganisierter Massen vorbereitet und veranstaltet werden. Der Beispiele dafür gibt es genug. Aber die Veranstaltung von Straßendemonstrationen bedeutet nichts weniger als eine „neue Taktik“. Die Engländer üben sie seit den Tagen des Chartismus, auch in Amerika sind sie längst üblich. In Österreich bedeuten sie eine wirksame Demonstrationsform seit 1890. Gegen die Veranstaltung von Straßendemonstrationen habe ich mich ebensowenig grundsätzlich gewehrt wie irgendein anderer Genosse. Über den Zeitpunkt, zu dem eine solche Demonstration am Platze, kann man natürlich hin und wieder verschiedener Meinung sein. Davon handeln wir hier nicht, wo bloß grundsätzliche Fragen erörtert werden.

Wahrscheinlich im Interesse höherer Klarheit mischt Pannekoek Straßendemonstrationen, Straßenunruhen und Massenstreiks in den gemeinsamen Brei der Massenaktion zusammen und läßt mich das, was ich über die Unberechenbarkeit von Straßenunruhen sage, auch auf Straßendemonstrationen ausdehnen. Mein Theorie sei die Theorie der Praxis des Parteivorstandes, Straßendemonstrationen möglichst rasch ein Ende zu bereiten.

In Wirklichkeit habe ich schon 1885 an der Pannekoek so neu erscheinenden Taktik der Straßendemonstrationen in England teilgenommen, die dort damals schon eine sehr alte Taktik darstellte, und ich habe seitdem noch in keinem Lande, in dem ich war, bei einer Straßendemonstration gefehlt, die veranstaltet wurde, wohl das beste Zeichen, daß ich sie auch theoretisch forderte. Pannekoek hat kein Recht, mir eine Theorie und eine Praxis der Straßendemonstrationen zuzuschreiben, die nicht die meine ist.

Ich wiederhole es nochmals: meine Theorie des „passiven Radikalismus“, das heißt des Abwartens der passenden Gelegenheit und Stimmung der Masse, die beide nicht von vornherein zu berechnen oder durch Organisationsbeschluß herbeizuführen seien, bezog sich nur auf Straßenunruhen und Massenstreiks, die eine politische Entscheidung erzwingen wollen – also nicht auf Straßendemonstrationen und auch nicht auf Demonstrationsstreiks. Solche können sehr wohl gelegentlich durch Partei- oder Gewerkschaftsbeschluß ohne Rücksicht auf die Stimmung der unorganisierten Masse herbeigeführt werden, bedingen aber auch keine neue Taktik, solange sie bloße Demonstrationen bleiben. Durch Demonstrationen zu wirken, gehörte stets zu der Taktik unserer Partei. Die Demonstrationstechnik wechselt mit den wechselnden Kräften, legalen Bedingungen und sonstigen Umständen, in den Grundsätzen der Taktik tritt dadurch keine Änderung ein.
 

3. Die revolutionäre Aktivität

In der Haltung gegenüber den Demonstrationen besteht kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Pannekoek und mir. Wo steckt aber dann der Gegensatz?

Er ist nicht leicht bloßzulegen. Aber bei aller Zurückhaltung im Darstellen der eigenen Taktik kann Pannekoek doch nicht umhin, meiner „negativen“ Taktik wenigstens eine Andeutung seiner positiven Taktik entgegenzustellen. In Gegensatz zu meiner „Theorie des passiven Radikalismus“ spricht er von seiner „Lehre der revolutionären Aktivität des Proletariats, das in einer Periode steigender Massenaktionen seine Herrschaft aufbaut und die Macht des Klassenstaats immer mehr abträgt“. (S. 592)

Er wendet sich gegen meine „Theorie des aktionslosen Abwartens –aktionslos nicht in dem Sinne, daß nicht in der üblichen Weise parlamentarisch und gewerkschaftlich weitergearbeitet wird, sondern in dem Sinne, daß man die großen Massenaktionen wie Naturereignisse passiv an sich herankommen läßt, statt sie jedesmal in dem richtigen Moment aktiv zu veranstalten und weiterzutreiben“. (S. 591) Die bisherigen Massenaktionen bilden nur den Anfang einer Periode revolutionärer Klassenkämpfe, in denen das Proletariat, statt passiv zu warten, bis Katastrophen von außen die Welt erschüttern, selbst im stetigen Angriff und Vorwärtsdrängen in schwerer, opfervoller Arbeit seine Macht und seine Freiheit aufbauen muß. Das ist die „neue Taktik“, die man auch mit vollem Rechte die naturgemäße Fortsetzung der alten Taktik nach ihrer positiven Seite nennen könnte. (S. 593) Und weiter spricht Pannekoek in seinem Kapitel über den „Kampf gegen den Krieg“ von einem „sich von Aktion zu Aktion zu höchster Intensität steigernden Klassenkampf, aus dem die Macht der Staatsgewalt aufs empfindlichste geschwächt, die Macht des Proletariats aufs höchste gesteigert herauskommt“. (S. 616). Und endlich weist Pannekoek hin auf „den Prozeß der Revolution, worin durch das aktive Auftreten des Proletariats die eigene Macht allmählich aufgebaut wird, die Herrschaft des Kapitals stückweise abbröckelt.“ Alles das ist reichlich unklar und geheimnisvoll, erinnert mehr an delphische Orakel und sibyllinische Bücher als an die Begründung einer neuen Taktik.

Aber es erhält einige Bestimmtheit, wenn man bedenkt, daß diese Taktik in Gegensatz gestellt wird zu der von mir entwickelten, die fordert Ausbau der Organisationen, Gewinnung aller Machtpositionen, die wir aus eigener Kraft zu erobern und festzuhalten vermögen, Studium von Staat und Gesellschaft, Ausnutzung jedes Ereignisses, das die Massen erregt, zu Demonstrationen, Anwendung des Zwangsmassenstreiks, aber nur in seltenen, äußersten Fällen, nur dann und dort, wo die Massen nicht mehr zu halten sind.

Pannekoek fordert, der Parteivorstand solle eine Reihe von Massenstreiks veranstalten, die einander rasch zu folgen hätten, ohne Rücksicht darauf, ob sie Niederlagen herbeiführen, die Organisationen zertrümmern oder nicht. Er rechnet darauf, daß der Kampf an sich die Arbeiter erbittert, immer neue Scharen in ihn hineinzieht, sie mit wachsender revolutionärer Leidenschaft erfüllt, durch die Niederlage ebensosehr oder noch mehr als durch den Sieg. So wachsen die Scharen der Kämpfenden durch den Kampf selbst und wächst ihre Organisation im Pannekoekschen Sinne, steigert sich von Aktion zu Aktion die Intensität des Klassenkampfes zum Prozeß der Revolution. „Dies ist, wenn ich ihn recht verstand, Die Ansicht dieser eminenten Hand.“

Sollte ich Pannekoek mißverstanden haben, dann trägt er selbst die Schuld daran. Dann muß er sich eben deutlicher ausdrücken. Aber seine ganze Kritik an der von mir verfochtenen Taktik wird nur verständlich, wenn wir die seine so auffassen, wie ich eben geschildert. Dann aber reduziert sich seine Taktik auf die Forderung, der Parteivorstand solle die Revolution „veranstalten“, allerdings nicht direkt, wie es die alten Verschwörer der Barrikadenzeit versuchten, aber indirekt, durch Veranstaltung von Massenaktionen nicht nur dort und dann, wo sie eine bestimmte Wirkung versprechen, sondern durch Veranstaltung von Massenaktionen, auch wenn sie zu Niederlagen und zum Zusammenbruch der Organisationen führen, in der Absicht, die Erbitterung der Massen zu erregen und auf höchste zu steigern – natürlich Erbitterung gegen die herrschenden Klassen und nicht etwa gegen die Befürworter dieser famosen Taktik.

Ist das nicht die Pannekoeksche Taktik, dann möge er deutlicher sagen, was er unter seiner „Lehre der revolutionären Aktivität des Proletariats in einer Periode steigender Massenaktionen“ versteht. Habe ich aber seine Meinung richtig aufgefaßt, dann ist es überflüssig, sie zu kritisieren. Diese Lehre wird keine Schule bei uns machen.
 


IV. Die Eroberung der Staatsgewalt

1. Die Zerstörung des Staates

Was immer Pannekoek unter der sich stetig steigernden Massenaktion verstehen mag, er nimmt offenbar an, sie soll unsere bisherige Art der Tätigkeit der Aufklärung, der Organisation, der politischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit ersetzen und übertreffen: Ähnlich wie die bisherigen politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe steigern die Massenkämpfe die Macht des Proletariats, nur in viel umfassenderer, gewaltigerer und gründlicherer Weise. (S. 548) Was ist aber das Ziel dieser Aktion? So hoch auch Pannekoek die Resultate der Massenaktion für die proletarische Erziehung und Organisierung (in seinem Sinne) anschlagen mag, Aktionen werden nie die Massen hinreißen, wenn sie nichts sind als bloße Exerzitien in höherer proletarischer Moral. Ein greifbares Ziel muß der Aktion gesetzt sein. In Übereinstimmung mit unserer bisherigen Politik bezeichnet auch Pannekoek als das höchste Ziel der proletarischen Aktion die Eroberung der Staatsgewalt.

Aber auch darin versteht er ein Haar zu finden. Er behauptet: Der Kampf des Proletariats ist nicht einfach ein Kampf um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt. (S. 544) Das mag zunächst als bloße talmudistische Spitzfindigkeit erscheinen. Es heißt dann aber weiter:

Der Inhalt der Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats.

Und später:

Der Kampf hört erst auf, wenn das Endresultat, die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat. (S. 548)

Bisher bestand der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten darin, daß jene die Staatsgewalt erobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides. Leider auch hier wieder ohne jede nähere Erläuterung. So ausführlich er wird, wenn es gilt, die Notwendigkeit seiner neuen Taktik zu beweisen, so kurz und dunkel –ein neuer Heraklit – wird er dort, wo es heißt, Wesen und Ziel der neuen Taktik darzustellen.

So schiebt er uns die Aufgabe zu, uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was er eigentlich gemeint haben mag. Das ist schwer schon deshalb, weil er nirgends eingehender dartut, was er unter der Staatsgewalt eigentlich versteht. Einmal sagt er:

Die Organisation der herrschenden Klasse ist die Staatsgewalt. Sie tritt als die Gesamtheit der Beamten auf, die überall als Behörden zwischen den Volksmassen zerstreut, von dem Zentralsitz der Regierung aus in einer bestimmten Weise geleitet wird. Die Einheitlichkeit des Willens, der von der Spitze ausgeht, bildet die innere Kraft und das Wesen dieser Organisation. (S. 543)

Was an der so gekennzeichneten Organisation will Pannekoek zerstören? Den Zentralismus? Auch eine Föderativrepublik ist ein Staat und hat eine Staatsgewalt. Sollen wir eine Auflösung des Staates in selbständige Gemeinden anstreben?

Im Jahre 1850 erklärte die Zentralbehörde des Kommunistenbundes (das heißt wohl im wesentlichen Marx und Engels) von der Revolution, die sie damals erwarteten:

Die Demokraten werden entweder direkt auf die Föderativrepublik hinarbeiten oder wenigstens, wenn sie die eine und unteilbare Republik nicht umgehen können, die Zentralregierung durch möglichste Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Provinzen zu lähmen suchen. Die Arbeiter müssen diesem Plane gegenüber nicht nur auf die eine und unteilbare deutsche Republik (dazu rechnete man damals auch in Deutsch-Österreich. – K.), sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinwirken. (Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln, 1885, S. 81)

Ist Pannekoek derselben Meinung, was will er dann mit der „völligen Zerstörung der staatlichen Organisation“ sagen?

Will er vielleicht die staatlichen Funktionen der Beamten aufheben? Aber wir kommen in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus, geschweige denn in der Staatsverwaltung. Unser Programm fordert denn auch nicht Abschaffung der staatlichen Beamten, sondern die Erwählung der Behörden durch das Volk. Diese Forderung kann sich auch nur auf die Erwählung der höheren Beamten beziehen. Man kann nicht für die Ernennung eines jeden Schreibers eine Volkswahl anberaumen.

Sicher müssen wir eine andere Verwendung als die heutige der Beamtenschaft im Staate anstreben. Aber deren Zahl und gesellschaftliche Wichtigkeit werden wir kaum verringern, wenigstens nicht im Rahmen der heutigen Gesellschaft. Nicht darum handelt es sich bei unserer jetzigen Erörterung, wie sich der Verwaltungsapparat des „Zukunftsstaates“ gestalten wird, sondern darum, ob unser politischer Kampf die Staatsgewalt auflöst, ehe wir sie noch erobert haben. Welches Ministerium mit seinen Beamten könnte aufgehoben werden? Das des Unterrichts? Sicher nicht. Wir verlangen noch weit mehr Schulen und Lehrer, als der heutige Staat, wollen auch die Schulen nicht in Privatschulen verwandeln. Ändern wollen wir nur die Abhängigkeit der Schule von der Kirche und von den heutigen herrschenden Klassen – aber das soll nicht durch Zerstörung der Staatsgewalt, sondern dadurch geschehen, daß die Gesetzgebung und Regierung dem Proletariat dienstbar gemacht werden. Oder das Justizministerium? Wir müssen dahin streben, daß die heutige Klassenjustiz aufhört, aber doch nicht dahin, daß die Justiz aufhört. Zivilprozesse werden durch das Erstarken des Proletariats nicht aufgehoben werden, aber auch gemeine Verbrechen werden nicht aufhören, solange es einen Kapitalismus gibt und seine Folgen noch merkbar sind.

Aber das Finanzministerium! Nein, die Steuern können wir nicht abschaffen. Im Gegenteil. Je stärker das Proletariat, desto mehr Sozialreformen fordert es, die Geld, also Steuern erheischen. Nicht Aufhebung der Steuern, sondern eine andere Veranlagung derselben, die weitestgehende Besteuerung der Reichen ist unser Ziel. Dies wird eines der wirksamsten Mittel der Expropriation der Expropriateure werden. Also auch die Steuerbeamten können wir nicht entbehren. Und das Ministerium des Innern, die Polizei? Nein, auch da geht unser Streben nicht dahin, sie aufzuheben, sondern nur ihre Funktionen zu ändern. Sicher wollen wir keine politische und keine Sittenpolizei mehr. Aber um so mehr Sanitätspolizei, Wohnungspolizei, Polizei zur Verfolgung der Lebensmittelfälschungen, zur Überwachung der Fabriken, zur Durchführung der Arbeitsschutzgesetze, Polizei gegen die Reichen, statt gegen die Armen. Bleibt das Kriegsministerium. Nun, fordern wir nicht die Miliz? Wie ist die möglich ohne Beamte, die für die Ausrüstung sorgen, ohne Generalstab, ohne Instruktoren für Mannschaften und Offiziere? Nein, keines der heutigen Ministerien wird durch unseren politischen Kampf gegen die Regierung beseitigt werden. Gibt es einzelne der heutigen Regierungsfunktionen, die wir aufheben wollen, so wollen wir nicht wenige andere zu den bestehenden hinzufügen. Ich wiederhole es, um Mißverständnissen vorzubeugen: hier ist nicht die Rede von der Gestaltung des Zukunftsstaats durch die siegreiche Sozialdemokratie, sondern von der des Gegenwartsstaates durch unsere Opposition.
 

2. Staatsgewalt und Massenstreik

Wenn Pannekoek vermeint, der Klassenkampf des Proletariats werde in seinem Fortgang zu einer Zerstörung der Staatsgewalt führen, so kann er dazu nicht durch eine Untersuchung der konkreten Verhältnisse und des wirklichen Staates gelangt sein, sondern auch hier wieder durch einfaches Spekulieren über Abstraktionen. Er reduziert die ganze kommende politische Tätigkeit des Proletariats auf Massenstreiks – eine Periode chronischer Massenstreiks. Ein Massenstreik kann nur siegen dadurch, daß er die staatliche Organisation lahmlegt, die Machtmittel der Staatsgewalt desorganisiert, – daraus folgt offenbar der logische Schluß, daß die Periode der chronischen Massenstreiks nur ein Ende nehmen kann durch völlige Zerstörung der Staatsgewalt! Pannekoek geht davon aus, daß in den kommenden Kämpfen zuerst die Staatsgewalt die proletarischen Organisationen zertrümmert. Dann vernichtet das erbitterte Proletariat durch seine Massenaktionen die staatliche Organisation, und auf diese Weise wird durch Zerstörung jeglicher Organisation hüben wie drüben die sozialistische Organisation aufgebaut!

Pannekoek vergißt, daß auch in der Zukunft Massenstreiks stets nur Episoden des proletarischen Klassenkampfes, nie sein ganzer Inhalt sein können. Wohl kann ein Massenstreik nur siegen durch Lahmlegung der Machtmittel der Staatsgewalt, aber diese Lahmlegung kann nur eine vorübergehende Erscheinung sein, ebenso wie der Massenstreik selbst. Seine Aufgabe kann nicht die sein, die Staatsgewalt zu zerstören, sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu bringen, oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen.
 

3. Regierung und Parlament

Pannekoeks Erwartung, der proletarische Klassenkampf werde die Staatsgewalt zerstören, wäre falsch, selbst wenn wir mit ihm die Machtmittel der Regierung einfach der Staatsgewalt gleichsetzen. Aber die Machtmittel der Regierung sind ebensowenig die Regierung, als die Hände der Kopf sind; und die Regierung selbst ist noch nicht die Staatsgewalt, sondern nur ein Teil davon.

Schon Montesquieu wußte, daß die staatlichen Funktionen dreierlei Art sind und drei verschiedenen Gewalten zufallen: der gesetzgebenden, der verwaltenden oder regierenden (Exekutive) und der richtenden. Auf dem Gleichgewicht dieser drei Gewalten im Staate beruht nach ihm die Freiheit.

In Wirklichkeit ist ein solches Gleichgewicht nirgends zu finden. Überall dominiert die eine der drei Gewalten über die beiden andern. In den meisten Staaten die Regierung. In den Vereinigten Staaten die Gerichte. In England der gesetzgebende Körper.

Das Verhältnis dieser drei Gewalten zueinander und ihre Macht im Staate hängt von den Interessen und Kräften der einzelnen Klassen ab. Nicht jede dieser Gewalten ist für jede Klasse in gleichem Maße zugänglich. Jede Klasse sucht jene von ihnen zu stärken, durch die sie ihre Klasseninteressen am besten gewahrt glaubt; jene, die ihr am leichtesten oder ihren Gegnern am wenigsten leicht zugänglich ist. Solange die Bourgeoisie im gesetzgebenden Körper jene Gewalt erkannte, die ihr am ehesten zugänglich war, trachtete sie, dessen Anteil an der Staatsgewalt auf Kosten der Regierung wie der Gerichte zu erhöhen. Heute fürchtet sie das Eindringen des Proletariats in der Gesetzgebung, so unterstützt sie die Anmaßungen der Regierung, wenn diese nicht gar zu unverschämt oder dummm ist, oder, wo die Regierungsgewalt nur schwach, wie in den Vereinigten Staaten, unterstützt sie die Gerichte.

Das Proletariat hat alle Ursache, sich dem zu widersetzen; es muß danach trachten, die gesetzgebenden Körper zu Herren der Regierung wie der Gerichte zu machen, gleichzeitig aber auch danach, seinen Vertretern den Zugang zu den gesetzgebenden Körpern zu erleichtern, sowie jene gesetzgebenden Körper, aus denen es ausgeschlossen ist (Oberhäuser, Herrenhäuser, Senate), aus dem Wege zu räumen. Das und nicht die Zerstörung der Staatsgewalt ist die politische Aufgabe des Proletariats. Bei ihrer Lösung mag es wohl zeitweise Schwierigkeiten finden, die nur durch Massenaktionen zu überwinden sind, wobei zeitweise eine dem Proletariat feindliche Regierung matt gesetzt wird. Aber nie und nimmer kann dies zu einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen.
 

4. Der Niedergang des Parlamentarismus

Das ist freilich gar nicht die Meinung Pannekoeks, denn dieser rechnet mit wachsender Ohnmacht des Parlaments. Hier stoßen wir auf die zweite Wurzel seiner Auffassung, die Eroberung der Staatsgewalt sei gleichbedeutend mit ihrer Zerstörung. Die erste Wurzel fanden wir in der Meinung, an Stelle unserer bisherigen Kampfesmethoden würde in Zukunft eine Ära chronischen Massenstreikens treten. Da der Gedanke der wachsenden Ohnmacht der Parlamente, des Verfalls des Parlamentarismus heute in den Parteidiskussionen eine große Rolle spielt, sei er hier eingehender erörtert.

Die Erscheinungen, auf die sich dieser Gedanke stützt, sind offenkundig, und nichts ist leichter, als sie zu konstatieren. Die gesetzgeberischen Leistungen der Parlamente werden immer kläglicher, ihre Bedeutung gegenüber der Regierungsgewalt immer geringer. Das kann niemand leugnen. Daraus schließen manche Genossen, daß wir uns um die Parlamente immer weniger zu kümmern und auf die außerparlamentarischen Aktionen der Masse immer mehr den Schwerpunkt zu legen haben. Der Parlamentarismus werde für den Befreiungskampf des Proletariats immer gleichgültiger. Nichts kann irriger sein als dieser Schluß.

Woher rührt denn der sogenannte Verfall des Parlamentarismus? Wenn die Parlamente gesetzgeberisch immer mehr versagen, wird das nicht etwa dadurch verursacht, daß ihr Mechanismus immer untauglicher wird, große gesetzgeberische Leistungen zu vollbringen, sondern dadurch, daß die bürgerlichen Parteien, die heute ihre Mehrheit bilden, das Interesse an solchen Leistungen verloren haben. Sie haben längst ihre revolutionären Zeiten hinter sich, haben den Staat nach ihren Bedürfnissen eingerichtet. Wohl zerfällt die bürgerliche Mehrheit in sehr verschiedene Gruppen mit verschiedenen gegensätzlichen Interessen, die einander deshalb befehden.

Aber große neue, weitreichende politische Ziele hat keine mehr. Ihre Interessengegensätze können noch von Bedeutung werden dort, wo es sich darum handelt, eine große Neuerung, die der einen der herrschenden Cliquen zugute kommen soll, zu verhindern. Doch nirgends mehr bilden die Gegensätze innerhalb der herrschenden Klassen eine Triebkraft energischen Vordringens zugunsten großer Neuerungen. Eine solche Triebkraft bildet heute in den Parlamenten ebenso wie in der Gesellschaft nur noch das Proletariat. Diese Situation spiegelt sich in den Parlamenten, denn der Parlamentarismus ist nur ein Bild der jeweiligen Interessen- und Machtverhältnisse der modernen Gesellschaft. Nicht er ist es, der als Mechanismus versagt, sondern die bürgerliche Mehrheit ist es, die seinem Funktionieren immer mehr Hindernisse in den Weg legt. Man ändere die Mehrheit, und der Mechanismus wird wieder in Gang kommen.

Die bürgerliche Mehrheit ist es aber auch, die bewirkt, daß die Regierungen den Parlamenten gegenüber an Kraft und Bedeutung gewinnen. Trotz aller Hindernisse, die dem Eindringen proletarischer Vertreter in das Parlament entgegenstehen, können sie von ihm nirgends mehr ferngehalten werden, und überall dringen sie unaufhaltsam vor. Die Regierungen sind dagegen überall in den Händen der herrschenden Klassen. „Sozialistische Minister“ werden mitunter in eine Regierung zugelassen, aber nicht als Kämpfer für das Proletariat, sondern als Lohnarbeiter für die Bourgeoisie, die jederzeit entlassen werden können, wenn sie den Erwartungen ihrer Auftraggeber nicht entsprechen.

Die Regierungen scheinen heute dem Proletariat weniger leicht aus eigener Kraft zugänglich zu sein als die Parlamente. Die Bourgeoisie hat daher in der Regel durchaus nicht das Bestreben, die Macht des Parlamentes gegenüber der Regierung zu stärken. Wohl kommt es immer noch zu Gegensätzen zwischen bürgerlichen Parteien und einer Regierung; denn keine vermag allen mitunter recht gegensätzlichen Interessen der verschiedenen besitzenden Elemente zu genügen oder gutbezahlte Posten für alle Streber aller Parteien zu schaffen. Aber kein Gegensatz zwischen einer Regierung und einer bürgerlichen parlamentarischen Partei gestaltet sich mehr so schroff, daß eine solche Partei einen energischen Kampf zur Stärkung des Parlamentes gegenüber der Regierung aufnähme. Besagt das aber, daß die Proletarier sich von jetzt an mit Geringschätzung oder Mißachtung von den Parlamenten abwenden sollen, um in Massenaktionen ihr Ziel zu suchen?
 

5. Direkte Aktion

Pannekoek scheint das anzunehmen. Er weist auf die Übel des modernen Kapitalismus hin:

Die Steuern, die Teuerung, die Kriegsgefahr machen eine erbitterte Abwehr notwendig. Aber sie finden nur zum Teil ihren Ursprung in Parlamentsbeschlüssen und können daher nur zum Teil im Parlament bekämpft werden. Die Massen selbst müssen auf den Plan treten, sich direkt geltend machen und einen Druck auf die herrschende Klasse ausüben. Zu diesem Müssen gesellt sich das Können durch die steigende Macht des Proletariats. Zwischen der Ohnmacht der Parlamente sowie unserer Parlamentsfraktionen, diese Erscheinungen zu bekämpfen, und dem steigenden Machtbewußtsein der Arbeiterklasse entsteht immer mehr ein Widerspruch. Daher sind die Massenaktionen eine natürliche Folge der imperialistischen Entwicklung des modernen Kapitalismus und bilden sie immer mehr die notwendige Form des Kampfes gegen ihn. (S. 542)

Das sieht doch so aus wie ein Plädoyer für direkte Aktion, da die Parlamente und unsere Parlamentsfraktionen sich ohnmächtig zeigen. „Außerparlamentarische politische Betätigung“, wie Pannekoek es an anderer Stelle nennt, also diese direkte Aktion, wird zunächst in auffallender Weise gefordert mit dem Hinweis darauf, daß nur ein Teil der Übel des modernen Kapitalismus seinen Ursprung in Parlamentsbeschlüssen hat und durch sie geheilt werden kann. Die „direkte Aktion“ hat aber doch den Zweck, Parlamentsbeschlüsse zu ersetzen oder zu erpressen. Übel des Kapitalismus, die nicht durch politische Aktionen beseitigt werden können, sind zum Teil solche, die auch nicht durch irgendeinen „Druck auf die herrschenden Klassen“ beseitigt werden können, zum Beispiel Mißernten, technische Fortschritte der Goldproduktion usw. Andere können durch nichtpolitische Aktionen beseitigt werden, zum Beispiel niedrige Löhne. Direkte Lohnkämpfe mit den Unternehmern hat man aber bisher noch nicht „direkte Aktion“ genannt, sie bilden durchaus nicht irgendeine neue, der Ära des Imperialismus eigentümliche Taktik.

So bleibt als Ursache der neuen Taktik nur noch der wachsende Widerspruch zwischen der „steigenden Macht des Proletariats“ und der „Ohnmacht der Parlamente und unserer Parlamentsfraktionen“, die Übel des Kapitalismus zu bekämpfen.

In Wahrheit sind aber die heutigen Mehrheiten der Parlamente nicht ohnmächtig, sondern unwillig, diesen Übeln zu Leibe zu gehen. Willig dazu sind bloß unsere Parlamentsfraktionen. Freilich konstatiert Pannekoek, sie seien ohnmächtig. Und er nimmt offenbar an, sie müssen ohnmächtig bleiben.

Hier läge in der Tat ein krasser Widerspruch vor: die Arbeiterklasse wird immer mächtiger und ihre parlamentarische Fraktion immer ohnmächtiger. Das Ende muß sein die Ersetzung des parlamentarischen Kampfes durch den direkten Massenkampf, der allein greifbare Resultate verspricht. Pannekoek spricht sich auch darüber nicht deutlich aus, aber es scheint dies seine Auffassung zu sein, denn er spricht „von der historischen Bedeutung der parlamentarischen Kampfmethode während der Zeit, als das Proletariat noch schwach, im ersten Aufstieg begriffen war“. (S. 546) Daraus darf man wohl schließen, daß Pannekoek meint, diese Methode passe nicht mehr für ein starkes Proletariat; sie besitze heute nur noch „historische Bedeutung“. Ohne Zweifel läge zwischen Ohnmacht (wohl zunehmender Ohnmacht?) der sozialistischen Parlamentsfraktionen und wachsender Macht des Proletariats ein gewaltiger Widerspruch vor – aber zum Glück besteht er in Wirklichkeit nicht. Die Macht des Proletariats im Parlament und außerhalb des Parlamentes stehen in engster Wechselwirkung zueinander, sie können höchstens vorübergehend, nicht aber dauernd in entgegengesetzter Richtung vorschreiten. Die eine Seite stärkt die andere.

Pannekoek nimmt an, daß Massenaktionen des Proletariats einen immer stärkeren Druck auf die herrschenden Klassen ausüben und so die steigende Ohnmacht der Parlamentsfraktionen mehr als wett machen. In welcher Weise kann das geschehen, wenn es sich um Erscheinungen handelt, die durch Parlamentsbeschlüsse bestimmt werden? Durch Herbeiführung von Parlamentsbeschlüssen. Die Massenaktion, etwa der Massenstreik, übt eine solche Pression auf die bürgerliche Mehrheit im Parlament aus, daß diese sich gedrängt fühlt, einen Beschluß im Interesse des Proletariats zu fassen. So haben wir uns wohl nach Pannekoek die durch Massenaktionen steigende Macht des Proletariats zu denken.

Welche Rolle spielt aber die sozialistische Parlamentsfraktion dabei? Die des ohnmächtigen Zuschauers? Das, was die bürgerliche Mehrheit infolge des Massenstreiks akzeptiert, es ist etwas, wofür die sozialistische Fraktion auf das lebhafteste gekämpft hat. Der Sieg der Massenaktion ist auch ihr Sieg. Die Massen können an politischer Macht nicht erstarken, ohne daß nicht auch gleichzeitig die Macht ihrer Vertreter im Parlament wächst.

Von Ohnmacht der sozialistischen Parlamentsfraktion kann man nur dort reden, wo auch die Massenaktion des Proletariats noch ohnmächtig ist. Es ist ein Unding, sich die Massenaktion in unwiderstehlichem Fortschreiten und die Parlamentsfraktion in völliger Ohnmacht vorzustellen. Wenn aber Massenaktionen wohl imstande sind, den sozialistischen Parlamentsfraktionen erhöhte Kräfte zu verleihen, so findet auch das Umgekehrte statt. Blicken wir auf England, wo die Beinflussung des Parlaments durch Massenaktionen augenblicklich am stärksten entwickelt ist und wo wir am besten das Wesen moderner Massenaktionen studieren können, weit besser als im Rußland der revolutionären Periode mit seinen von westeuropäischen so verschiedenen Zuständen, seinem Mangel an jeglicher proletarischen Massenorganisation, jeglicher Koalitions-, Versammlungs-, Preßfreiheit usw. Betrachten wir zum Beispiel den letzten Kohlengräberstreik Englands. Durch ihre Massenbewegung hatten die Kohlengräber die liberale Majorität im Parlament und ihre Regierung gezwungen, ihnen durch einen Akt der Gesetzgebung entgegenzukommen. Wenn dieser sich bei näherem Zusehen als höchst unzureichend erwies, so liegt die Schuld daran vor allem an dem unbefriedigenden Zustand der Arbeiterpartei. Wäre die Arbeiterfraktion im Unterhaus zahlreicher, besser diszipliniert und steifnackiger gegenüber den Liberalen gewesen, die Arbeiter hätten mehr erreicht.

Also nicht die Kraft der Massenaktion allein entschied über den Parlamentsbeschluß, sondern auch die Kraft der sozialistischen Parlamentsfraktion. Die Kohlengräber hätten bessere Erfolge erzielt, wenn die englischen Arbeiter mehr auf selbständige Vertretung im Parlament bedacht gewesen wären.

Andererseits hat auch schon ihre bisherige Vertretung, so unvollkommen sie ist, sehr günstige Rückwirkungen auf die Kraft der proletarischen Massen gehabt. Diese sind keineswegs von vornherein eine so einheitliche Schicht, wie Pannekoek anzunehmen scheint. Sie bestehen aus den Arbeitern der verschiedensten Berufe mit sehr verschiedenen Arbeits- und Lebensbedingungen und sehr verschiedenen Interessen. Die gewerkschaftliche Organisation hat zunächst die Tendenz, diese Verschiedenheiten in den Vordergrund zu drängen, die gemeinsamen Interessen weniger zum Bewußtsein gelangen zu lassen. Die Organisation einer besonderen Arbeiterpartei, die ihren sichtbarsten Ausdruck in einer sozialistischen Parlamentsfraktion findet, wirkt dagegen in entgegengesetzter Richtung: sie entwickelt in den Massen das Bewußtsein ihrer gemeinsamen Klasseninteressen, um so mehr, je lebhafter sich die Parlamentsfraktion in selbständiger Weise an den parlamentarischen Arbeiten beteiligt und je mehr diese die Bevölkerung interessieren. Theoretische Abhandlungen über das Klassenbewußtsein werden nur von einer kleinen Minderheit gelesen. Der Anschauungsunterricht der parlamentarischen Praxis wirkt auf die gesamte Bevölkerung. Selbst dort, wo die Ohnmacht der sozialistischen Fraktion so hochgradig sein sollte, daß sie an dem Charakter der Gesetzgebung und Staatsverwaltung nicht das mindeste zu ändern vermöchte, entfaltet sie eine große praktische Wirkung dadurch, daß sie in den verschiedenen Schichten des Proletariats das Bewußtsein der Gemeinsamkeit ihrer Interessen aufs stärkste erweckt und dadurch erst eine wirkliche Massenbewegung möglich macht. Ohne Parlamentsfraktion keine gemeinsame Massenaktion aller proletarischen Schichten in Ländern mit entwickelter gewerkschaftlicher Organisation. Der gewerkschaftliche Partikularismus war bisher eine der größten Schwächen der englischen Arbeiterbewegung. Er beginnt überwunden zu werden. Die Gewerkschaften fangen an, sich zu größeren Industrieverbänden zusammenzuschließen, wie in Deutschland, andererseits beginnen sich organisierte und nicht organisierte, gelernte und ungelernte Arbeiter in gemeinsamen Aktionen zusammenzufinden –alles das erst, seitdem es eine besondere Arbeiterpartei gibt. Darum mußte diese, trotz aller ihrer Mängel und Verkehrtheiten, freudig begrüßt werden, nicht als vollkommene Schöpfung, sondern als einziges Mittel, die proletarischen Massen zusammenzufassen, die in ihrem gemeinsamen Wirken schon lernen werden, auch auf ihre Fraktion zurückzuwirken und diese zweckmäßiger zu gestalten – freilich nach englischer Methode ein langwieriger Prozeß, der teures Lehrgeld kostet; aber die Methoden jedes Landes sind geschichtlich geworden und nicht nach Belieben zu ändern. Wir kommen weiter, wenn wir sie zu begreifen suchen, als wenn wir über sie die Nase rümpfen. Wie dem auch sei, auf jeden Fall besteht zwischen der Aktion des Proletariats außerhalb und innerhalb des Parlaments die innigste Wechselwirkung, die eine fördert die andere, die eine wächst mit der andern, es ist ein Unding, zu behaupten, auf dem einen Gebiet wachse die Ohnmacht, auf dem andern die Macht.
 

6. Parlamentarischer und anderer Kretinismus

Von der wachsenden Ohnmacht der sozialistischen Parlamentsfraktionen könnte man nur dann reden, wenn sie sich völlig isolierten, jede Beziehung zur Gesamtbewegung des Proletariats verlören, ihr ganzes Interesse einzig dem Parlamentarismus zuwendeten, kurz, jener Einseitigkeit verfielen, die Marx als parlamentarischen Kretinismus bezeichnete. Der isolierte Parlamentarismus sozialistischer Fraktionen ist zu wachsender Ohnmacht verurteilt angesichts der wachsenden Unlust der bürgerlichen Mehrheiten und Regierungen, dem Proletariat auch nur die unerläßlichsten Konzessionen zu machen. Dasselbe gilt aber heute auch von jeder anderen Isolierung eines Teils der proletarischen Gesamtbewegung von den andern. Gegenüber den wachsenden Unternehmerverbänden kommen auch die Gewerkschaften sehr wichtiger Industriezweige durch isolierte Aktion nicht mehr auf.

Andererseits bedarf das Genossenschaftswesen, um sich seiner wachsenden Feinde zu erwehren, der Unterstützung durch Partei und Gewerkschaft.

Und immer neue Aufgaben erschließen sich der Tätigkeit des klassenbewußten Proletariats, die des Zusammenwirkens der verschiedensten seiner Faktoren bedürfen – wir erinnern nur an die Jugendbewegung.

Die Kräfte der Gegner wachsen; ihr Reichtum steigt durch die Zunahme der Ausbeutung. Ihr Zusammenschluß wird immer enger durch die wachsende Zentralisation des Kapitals. Demgegenüber heißt es auch die Kräfte des Proletariats immer mehr zusammenzufassen zu Organisationen und Aktionen der Massen. Eine der wichtigsten Formen dieser Zusammenfassung ist die Vereinigung parlamentarischer und gewerkschaftlicher Aktion, wie sie uns England in der letzten Zeit an einigen sehr wichtigen praktischen Fällen zeigt. Wir haben dabei eine wachsende Bedeutungslosigkeit weder der Gewerkschaften noch der sozialistischen Parlamentsfraktionen zu erwarten, sondern vielmehr eine gewaltige Steigerung ihrer Aufgaben und ihrer Kämpfe und damit auch ihrer Bedeutung. Die einzelnen Resultate dieser Kämpfe lassen sich nicht voraussehen, ihr Gesamtresultat muß die Steigerung der Macht der Arbeiterklasse, damit aber auch der Gewerkschaften und der sozialistischen Parlamentsfraktionen sein. Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt. Auf welchem Wege will denn Pannekoek die sozialistische Produktionsweise einführen, als mit Hilfe gesetzlicher Maßnahmen über Steuerpolitik, Arbeiterschutz, Wohnungspolitik, Verstaatlichung und Kommunalisierung von Industriezweigen, Herstellung des Gemeineigentums am Boden, zunächst des städtischen Baugrunds, der Bergwerke, der landwirtschaftlichen Großbetriebe, des Pachtlandes? Durch welche Mittel will Pannekoek diese Verhältnisse regeln, wenn nicht durch eine proletarische Staatsgewalt? Und wo soll die herkommen, wenn jegliche Staatsgewalt durch die Aktion der Masse zerstört worden? Ebenso wie die Anschauung, die vollkommenste Organisation des Proletariats sei keine Organisation; die Aktion der Masse in der Form von politischen Massenstreiks sei der dauernde und normale Zustand der kommenden Arbeiterbewegung, und der Parteivorstand habe stets und überall die Pflicht, solche Aktionen zu veranstalten; ebensosehr ist die Auffassung unhaltbar, der Kampf um die Staatsgewalt bedeute einen Kampf zur Zerstörung der Staatsgewalt. Ist das der Inhalt der neuen Taktik, die Pannekoek vertritt – und seine dürftigen Andeutungen darüber geben uns Grund zu dieser Annahme –, dann müssen wir sie entschieden zurückweisen. Ich bleibe bei der Auffassung, mit deren Formulierung ich meine Artikelserie über die Aktion der Masse vor einem Jahre schloß: Ausbau der Organisation, Gewinnung aller Machtpositionen, die wir aus eigener Kraft zu erobern und festzuhalten vermögen, Studium von Staat und Gesellschaft und Aufklärung der Massen: andere Aufgaben können wir uns und unseren Organisationen auch heute noch nicht bewußt und planmäßig setzen.

Politische Massenstreiks und Straßenunruhen können in außergewöhnlich erregten Zeiten eine bedeutende Kraft zur Förderung einzelner unserer Forderungen entfalten. Je größer die Klassengegensätze, je erbitterter die Massen, um so eher und öfter sind solche Explosionen zu erwarten. Aber sie bleiben unberechenbar und können nicht als ständige und normale Methoden des proletarischen Klassenkampfes betrachtet werden.

Die ganze Arbeiterbewegung auf Massenaktionen dieser Art zuspitzen, heißt nichts anderes, als anstelle früherer Einseitigkeit, für die Marx das Wort vom parlamentarischen Kretinismus prägte, eine neue setzen, die wir, wollen wir im Bilde bleiben, als Kretinismus der Massenaktion bezeichnen könnten.


Anmerkungen der Herausgeber

1. Vgl. Anton Pannekoek: Massenaktion und Revolution, Die Neue Zeit, 30. Jhrg., 2. Band, 1912.


Zuletzt aktualisiert am 9.1.2012