Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


4. Die ersten politischen Streiks in Belgien


Belgien ist ein eigenartiges Land, wie geschaffen zum internationalen Vermittler. Die Bevölkerung besteht zur Hälfte aus deutschen (Flämen), zur Hälfte aus Franzosen (Wallonen). Und das Gebiet bildet auf der einen Seite eine Fortsetzung Frankreichs, auf der anderen Seite Deutschlands.

So begegneten sich auch in seiner Arbeiterbewegung französische mit deutschen Elementen und bildeten einen eigenartigen, eklektischen Sozialismus. De Paepe suchte zwischen Proudhon und Bakunin auf der einen Seite und Marx auf der anderen zu vermitteln. In der Theorie kommt man mit der Vermittelung nicht weit, dagegen kann sie in der Praxis unter Umständen wertvoll sein, wenn sie hilft, gleichstrebende Elemente zu vereinigen und damit ihre Kraft zu vermehren. In Belgien führte sie dazu, daß französischer Elan und deutsche Organisationsfähigkeit sich in der „Arbeiterpartei“ zusammenfanden, die 1885 gegründet wurde. Da lag es nahe, daß eine weitere „Synthese“, das heißt Zusammenfassung in einer höheren Einheit, vollzogen wurde: die anarchistische Idee des Generalstreiks, die auch in Belgien Wurzel gefaßt hatte, vereinigte sich jetzt mit der des Wahlrechtskampfes. Aus einem Mittel, das Wahlrecht zu ersetzen, wurde er dort ein Mittel, es zu erkämpsen. Von 1886 an begann in Belgien eine rege Streikkampagne, die bei der Schwäche der Organisationen noch zahlreiche Züge primitiver oder anarchistischer Streikbewegungen trug, gleivhzeitig aber auch eine energische Wahlrechtskampagne, die beide, ähnlich wie Jahrzehnte vorher in der Chartistenbewegung, zeitweise zusammenflossen.

Im Jahre 1891 gelang es einer gewaltigen Streikbewegung, namentlich der Kohlengräber, Regierung und Kammer zu bewegen, eine Wahlreform in Angriff zu nehmen. Aber die neue 1892 gewählte Kammer glaubte, sich billig von ihrer Verpflichtung loskaufen zu können. Sie beriet die Wahlreform, lehnte aber das allgemeine Wahlrecht ab, am 11. April 1893. Damit entfesselte sie einen Streiksturm der gesamten Arbeiterschaft, der alle früheren Streikbewegungen in den Schatten stellte und jeden Moment zu einem wahrhaften Aufstand anzuschwellen drohte. Regierung und Kammer, erschreckt, der Truppen nicht sicher, klappten zusammen und bewilligten am 18. April, was sie am 11. verweigert. Freilich mußte man das Pluralsystem mit in Kauf nehmen, immerhin hatte der Streik einen unzweifelhaften und glänzenden Sieg errungen.

Damit hatte die Erfahrung bewiesen, daß der Streik der Massen zu einer wirksamen politischen Waffe werden könne. Es hieß jetzt für die bisherigen absoluten Gegner des Generalstreiks, dieser Erfahrung Rechnung zu tragen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011