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Kaum war der grandiose Massenstreik Italien vorbei, so begann schon eine neue Massenstreikbewegung in Rußland, und auch die war wieder ganz eigenartiger Natur. Wir kommen weiter unten noch auf sie zurück. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß sie dem Massenstreikgedanken in Deutschland plötzlich zum Durchbruch verhalf. Sie konnte es um so eher, als sie mit einer Aera der Prosperität in Westeuropa zusammentraf, die das Kraftbewußtsein und die Kampfeslust unseres Proletariats gewaltig steigerte.
Lange hatte unsere Partei diesem Gedanken sehr mißtrauisch gegenüberstanden. Als 1895 und 1896 die Situation sich derart gestaltete, daß es schien der Massenstreik könne praktische Bedeutung gewinnen, setzten die Probleme des Revisionismus und die Erfolge der Gewerkschaften ein. Von 1902 au schien es abermals, als tauchten auch für uns Konflikte auf, die eines schönen Tages einen Massenstreik möglich machen würden, aber schon 1903 bemerkte die Genossin Luxemburg, wie 1904 auch ich, daß ein Massenstreik in einem Staate wie Deutschland auf größere Schwierigkeiten stoße, als zum Beispiel in Belgien. Mehring lehnte gleichzeitig die Parvusschen Massenstreikideen sehr entschieden ab.
In der Mehrheit der deutschen Genossen war die Neigung sehr gering, den Massenstreik auch nur zu diskutieren. Wohl blieb die Massenstreikepidemie, die von 1902 bis 1905 ganz Europa durchzog, auf die deutsche Sozialdemokratie nicht ohne Einfluß, aber das Interesse für die Idee wuchs doch sehr langsam. Friedeberg, der damals den Generalstreik in anarchistischem Sinne predigte, schadete dem Gedanken mehr als er ihm mitzte.
Auf dem Dresdner Parteitag 1903 brachte Friedeberg den Antrag ein, die Frage des Generalstreiks auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen. Der Antrag wurde von Legien bekämpft, ebenso von Ledebonr, und schließlich gegen wenige Stimmen abgelehnt.
Auf dem Amsterdamer Kongreß erklärte Robert Schmidt:
„Friedeberg sagt, der Generalstreik könne die Klassenherrschaft erschüttern. Er ist aber auch geeignet, das Proletariat zu erschüttern und den Klassenstaat zu befestigen. Das ist die Nachtseite der Frage, die überhaupt erst vor ein paar Wochen von einer kleinen Gruppe in Deutschland zur Diskussion gestellt worden ist.
Die großen deutschen Gewerkschaften mit ihren 900.000 Mitgliedern, die allein eine bedeutsame Stellung in der Arbeiterbewegung inne haben, halten die Frage des Generalstreiks überhaupt nicht für diskutabel. Der Kampf des Proletariats um die politische und wirtschaftliche Macht wird nicht durch den Generalstreik, sondern durch die unausgesetzte Arbeit auf allen Gebieten des politischen und wirtschaftlichen Lebens entschieden werden.“ (Lebhafter Beifall, besonders bei der deutschen Delegation)
Auf dem Bremer Parteitag, der bald nach dem Amsterdamer Kongreß tagte, 18.–24. September 1904, fast zur Zeit des italienischen Massenstreiks, wurde abermals ein Antrag behandelt, den Generalstreik auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages zu setzen. Den ersten Anstoß dazu hatte Friedeberg gegeben, und das bewirkte wieder, daß der Antrag nicht allzu freundschaftlich aufgenommen wurde. Karl Liebknecht und Clara Zetkin befürworteten ihn, gerade um eine reinliche Scheidung zwischen dem Friedebergschen Generalstreik und der Idee des politischen Massenstreiks in unserem Sinne möglich zu machen. Auch Bernstein sprach für ihn. Der Parteivorstand ersuchte, ihn abzulehnen. Schließlich wurde er dem Parteivorstand zur Erwägung überwiesen. Große Begeisterung für den Massenstreik hatte sich auf dem Parteitag nicht geäußert.
Das änderte sich, als Rußland unter dem Eindruck des Krieges und der japanischen Niederlagen in der arbeitenden Bevölkerung wachsende Erregung und Empörung um sich griff, die im Januar 1905 zu großen Demonstrationen und, nach einem furchtbaren Gemetzel unter einer Prozession bittflehender Arbeiter in Petersburg, zu einer kolossalen Flutwelle immer wieder sich erneuernder Massenstreiks führte, von der man noch in weit höherem Maße als von dem italienischen Septemberstreik sagen konnte, sie sei „so chaotisch, so überwältigend, daß sie in allen, die sie durchlebten, den Eindruck eines Elementarereignisses hervorrief, das lawinenhaft über uns fortrollte“.
Was wir seit Jahren, seit Jahrzehnten ersehnt, was vielen von uns ob des langen vergeblichen Harrens schon ganz unglaubhaft geworden war, nun wurde es zum Ereignis: der russische Absolutismus krachte in allen Fugen, die Revolution meldete sich dröhnend an. Der Streik der Massen erwies sich als die starke Art, die den alten, morschen Bau in Trümmer schlug.
Wie immer, erwies sich auch, diesmal die Sprache der Tatsachen als eindringlicher denn alle Artikel und Reden der Theoretiker. Die russischen Ereignisse erfüllten das ganze Proletariat der Welt mit überströmendem Enthusiasmus für den Massenstreik. Nun kam dieser Gedanke auch in Deutschland ohne Mühe zum Durchbruch.
Das äußerte sich zunächst in wachsendem Verlangen nach einer zusammenfassenden Schrift über die bisherigen Erfahrungen, die man mit dem Massenstreik gemacht, und die Schlußfolgerungen, die man, daraus gezogen und die in zerstreuten und vielfach vergessenen Artikeln niedergelegt waren.
Genosse Wallfisch hatte mich schon zu Ende des Jahres 1904 aufgefordert, eine solche Broschüre zu schreiben. Da ich damals mit der Herausgabe des Marxschen Werkes Theorien über den Mehrwert beschäftigt war, mußte ich ablehnen. Ich hätte auch nur im wesentlichen wiederholen können, was ich schon zu Anfang des Jahres in meiner Artikelserie Allerhand Revolutionäres gesagt. Endlich aber hielt ich es für nützlich, wenn zu den deutschen Genossen über den Massenstreik jemand sprach, der nicht nur die ganze Literatur über ihn beherrschte und theoretisch völlig sattelfest war, sondern auch selbst einen Massenstreik selbst praktisch mitgemacht hatte.
Alle diese Bedingungen trafen bei der Genossin Roland-Holst zu, der daher auch auf dem Amsterdamer Kongreß das Referat über den Generalstreik zugewiesen worden war. Ich riet Wallfisch, die Genossin mit der Arbeit zu betrauen, und sie übernahm den Auftrag gern.
Ihre Schrift erschien im Juni 1905. Sie bildet bis heute die beste Darstellung von Theorie und Praxis des Massenstreiks und ist daher auch jetzt noch höchst lesenswert, trotzdem sie die russischen Erfahrungen nur unvollkommen verwenden konnte, da nur die Anfänge der russischen Massenstreiks zur Zeit der Abfassung bekannt waren, und auch diese nicht immer in einwandfreier Darstellung.
Wir werden noch sehen, ob und inwieweit die russischen Erfahrungen eine Revision der Auffassung nötig machen, die, von einigen Differenzen in Details abgesehen, bis dahin den theoretischen Niederschlag der Erfahrungen mit dem Massenstreik in Westeuropa gebildet und die eben noch der Amsterdamer Kongreß von neuem bestätigt hatte.
Besonders bemerkenswert erscheint mir am der Schrift der Genossin Roland-Holst die Untersuchung der Voraussetzungen des politischen Massenstreiks. Einige neue Gesichtspunkte, die bisher nicht erörtert wurden, seien hier aus der Fülle des Stoffes hervorgehoben:
„Der politische Streik ist die Verbindung von politischem und wirtschaftlichem Kampf, die Mobilisierung der ökonomischen Macht des Proletariats zum Zwecke der Erreichung politischer Ziele. Er macht es somit notwendig, daß der Zusammenhang aller seiner Kampfmittel ihm klar vor Augen steht. Wo die politische und die wirtschaftliche Organisation im Gegensatz zueinander stehen, statt einander zu ergänzen ... und sich infolgedessen eine gewisse Animosität zwischen den verschiedenen Formen der proletarischen Organisation entwickelt, da ist der politische Streik ein überaus gefährliches Experiment ...
Die Erfahrung lehrt, daß sozialdemokratisches Bewußtsein, gutes Einvernehmen und Zusammenhalt zwischen gewerkschaftlicher und politischer Organisation, inneres Verwachsen beider, noch wichtiger ist als der Umfang dieser Organisation. In Belgien, wo dieser Zusammenhalt bestand, wo von jeher der wirtschaftliche mit dem politischen Kampf als ein Ganzes funktionierten, war es dem Proletariat, als der Sieg nicht zu erringen war, möglich, einen geordneten Rückzug auszuführen; die Organisation wurde kaum erschüttert. In Holland, wo dieses gute Einvernehmen fehlte, Partei und Gewerkschaften nicht gewohnt waren, bei jeder wichtigen Aktion zusammenzugehen, wo die Masse der Arbeiter sich über das Ziel des politischen Streiks gänzlich im Unklaren befand, führte die Niederlage bekanntlich zu einer Katastrophe der gewerkschaftlichen Organisation ...
Es ist bei der Diskussion über den Generalstreik oft davon die Rede, ob der politische Massenstreik in diesem oder jenem Fall, z. B. zur Erringung oder Sicherung des Wahlrechts anzuwenden sei. Wer dies im voraus bestimmen will, beweist nur, daß er von den psychologischen Bedingungen, die sich zu den wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen der siegreichen Volkserhebung gesellen müssen, keine Ahnung hat. Der politische Massenstreik läßt sich ebensowenig beschließen oder verbieten, wie irgendein großer Streik. eine Massenbewegung, eine Volkserhebung, eine Revolution.
Jeder Gewerkschaftsführer weiß, wie unmöglich es ist, den Massenstreik, selbst wenn die Situation die denkbar günstigste wäre, zu dekretieren, wenn die Massen nicht mit ihrer ganzen Seele dahinter stehen. Jeder Gewerkschaftsführer weiß aber auch, wie schwer und oft unmöglich ist, einen Streik zurückzuhalten, wenn der Unwille, noch länger zu dulden, und die Kampfstimmung in den Massen erwacht sind ...
Deshalb kann sich mit einem Schlage, sowie tiefe Erregung zum Ausbruch des Massenkampfes führen, die seelische Physiognomie der Masse ändern. Es gibt keine Indifferenten, keine Entnervten, keine Widerstrebenden mehr, alle folgen dem Strom der allgemeinen Begeisterung ...
Der politische Massenstreik kann also nur da Ergebnis einer heftigen moralischen Krise im Proletariat sein, eines Ausbruchs lang angesammelter revolutionärer Erregung und Energie.
Es leuchtet aus dem Vorhergesagten ein, daß der politische Streik sich nicht für bestimmte Fälle in Aussicht stellen läßt. Aber vermag man auch nicht, den Sturm zu befehlen, so läßt er sich doch manchmal voraussagen. So kann auch aus gewissen Erscheinungen, aus der Stimmung der Arbeiterschaft und ihrer Organe, aus der steigenden Erregung und Erbitterung, dem drohenden Charakter der Manifestationen und Demonstrationen ein Ausbruch des angesammelten Zornes mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Dies annehmen, ist aber etwas ganz anderes, wie den politischen Streik als eine bestimmte Maßregel für ganz bestimmte Fälle ins Auge fassen oder für einen bestimmten Termin ansagen, wie als Verteidigungsmittel des Wahlrechts, als Abwehr gegen den Verfassungsbruch überhaupt oder als Angriffsmittel zur Eroberung irgendeines wichtigen politischen Rechtes.
Es ist eben nie vorher zu sagen, welche Ereignisse beim Proletariat jene gewaltige Glut des Zornes, der Empörung und der Begeisterung anfachen werden, die zum politischen Massenstreik absolut erforderlich sind. Dies hängt mit der geschichtlichen Entwicklung und der ganzen Lage zusammen. Eine Enttäuschung oder Entrechtung wird sowohl von der Arbeiterschaft verschiedener Länder verschieden empfunden werden, wie von der ein und desselben Landes zu verschiedenen Zeiten. Es kommt hier ein Gesetz des seelischen Lebens in Betracht, das für die Masse wie für den einzelnen Geltung hat, das Gesetz von Aktion und Reaktion. Jede aufsteigende Linie geht in eine niedersteigende über; auf jeden Höhepunkt folgt ein Niedergang, und erst wenn dieser erreicht ist, kann die Bewegung einem neuen, weiteren Höhepunkt zustreben. Dies Gesetz erklärt, wie das einemal ein Ausbruch der Entrüstung durch ungefähr gleiche Ereignisse wachgerufen werden kann, die zu anderer Zeit wohl einen gewissen Unwillen, keineswegs aber einen Sturm hervorzurufen imstande wären und umgekehrt. Die holländischen Arbeiter, die sich unter dem erhebenden Eindruck des Sieges der Eisenbahner gegen den Angriff der Regierung auf das Streikrecht zorniger Empörung aufbäumten, nahmen ohne besondere Erregung die Vorlage eines Arbeitskontraktentwurfes entgegen, der in seiner ursprünglichen Fassung jede Möglichkeit, zu streiken, aufhob. Die italienischen Arbeiter antworteten auf die Mailänder Metzeleien vom Jahre 1898, wobei Hunderte von Männern, Frauen und Kindern niedergeschossen wurden, nur mit dumpfem Grollen; sechs Jahre später, bei der Nachricht der Mordtaten von Buggaru und Castenuzzi durchwühlte ein gewaltiger Zorn das Herz des italienischen Proletariats – und der Streik als spontane Riesendemonstration dieses Zornes war da ...
Unter den mannigfaltigen Umständen, die den Ausbruch des politischen Streiks fördern oder hemmen können, verdient noch besondere Beachtung die Stärke der Organisation. In den älteren Ländern des Kapitalismus besteht zwischen dem heutigen Proletariat und demjenigen zur Zeit des Kommunistischen Manifestes der Unterschied, daß es, wenn nichts anderes, so doch die von ihm oft in jahrzehntelangem Ringen eroberten Rechte und seine ausgebildeten Organisationen zu verlieren hat. Ein auf politischem Gebiet rechtloses, auch ein sich zwar bürgerlichen Rechts erfreuendes, aber nur schwach organisiertes Proletariat wird leichter für den politischen Massenstreik zu gewinnen sein, als ein Proletariat, das sich gewisser politischer Rechte erfreut und stark organisiert ist; denn dieses hat bei einer eventuellen Niederlage unendlich mehr zu verlieren. Kommt es aber zum Kampf, dann wird ihn das weiter fortgeschrittene Proletariat mit äußerster Anstrengung und zähester Beharrlichkeit führen.
Je umfassender und fester gefügt die Organisation, um so tiefer und nachhaltiger ist die Erregung, welche die Massen erfassen muß, um sie in den Streik zu treiben, um so größer sind demnach auch die Aussichten seines Sieges.Diese Anssichten hängen indes nicht nur von der Zahl und Tüchtigkeit des Proletariats ab, sondern es kommen dabei noch Momente in Frage, ohne die der Sieg unmöglich ist, wie zahlreich und stark die industrielle Arbeiterschaft auch sein mag. wie mustergültig ihre Organisation, wie mächtig die Erregung, die sie in den Kampf treibt.
Die Möglichkeiten und Aussichten des politischen Massenstreiks hängen außer von der Kraft und Reife des Proletariats auch vom Charakter des Streiks ab ...
In Staaten von ganz oder halb absolutistischem Charakter, mit starker Zentralregierung und dürftig entwickelten, und wenig einflußreichen parlamentarischen Einrichtungen ist der politische Streik als gesetzliches Demonstrations- oder Manifestationsmittel, wie er in Schweden oder Italien gehandhabt wurde, noch nie versucht worden.
Es ist überhaupt zweifelhaft, ob er in solchen Staaten, vor allem in Deutschland, in dieser Form je Anwendung wird finden können. Der Grund, weshalb sich hier die parlamentarischen Einrichtungen nicht weiter entwickelt und das Proletariat nicht zu größerer Bewegungsfreiheit kommt, liegt gerade an der Massenanhäufung dieses Proletariats, an der starken Entwicklung seines Selbstbewußtseins, an dem Umfang und der Macht seiner Organisationen. Diese Umstände wieder machen es unwahrscheinlich, daß der Massenstreik etwas anderes sein kann, als die Einleitung zu entscheidenden Kämpfen; nicht, weil das Proletariat es so will, sondern weil seine Gegner auch in der friedlichsten Demonstration die Todesdrohung ihrer politischen Herrschaft erblicken würden.“ (2. Aufl., S. 120–127.)
Ebenso wie früher schon die Genossin Luxemburg und dann ich, wies also auch die Genossin Roland-Holst darauf hin, daß in Deutschland die Bedingungen des Massenstreiks noch schwieriger seien, als in anderen Staaten, daß er in Deuschland nur Aussicht auf Erfolg habe in einer revolutionären Situation.
Ebenso wie fast alle früheren Untersuchungen des Massenstreiks kam auch die der Genossin Roland-Holst zu dem Schlusse, er lasse sich nicht kommandieren, sie fand aber auch, er sei nicht mit Sicherheit für bestimmte Situationen vorauszusehen. Mit Recht wies sie daraus hin, daß die Entwickelung des proletarischen Klassenkampfes in Wellenlinien vor sich gehe, einer gewaltigen Erregung und kraftvollen Aktion des Proletariats eine Zeit der Abspannung folge, in der es auf Anregungen und Provokationen weniger leicht reagiere au sollst.
Besonders wichtig aber ist der Hinweis darauf, daß unorganisierte Arbeitermassen in politisch rückständigen Ländern leichter in den Massenstreik treten, als organisierte, die über erhebliche politische Rechte verfügen. Daß jedoch die Aussichten zu siegen und den Sieg festzuhalten, mit der Stärke der Organisation wüchsen. Das ist eine Beobachtung, die sich immer mehr bestätigt. Sie erklärt die Vorliebe für die Unorganisierten bei manchem Genossen, der den Massenstreik nicht erwarten kann, schränkt aber erheblich die Hoffnungen ein, die auf solche Elemente zu setzen sind.
Doch bedürfen diese Auseinandersetzungen noch einer Erläuterung. Der unorganisierte Arbeiter ist nicht in allen Ländern gleicher Art. Wo die proletarische Organisation durch die Staatsgewalt verhindert wird, sind alle Arbeiter unorganisiert, auch die kühnsten, die intelligentesten, die selbstlosesten. und diese können auf die anderen bedeutenden Einfluß gewinnen, da sie äußerlich durch nichts von ihnen geschieden sind. Anders steht es in einem Lande, in dem seit Jahrzehnten die Koalitions- und Vereinsfreiheit besteht, die proletarische Organisation sich ungehindert entfalten kann und diese Möglichkeiten nach Kräften benutzt werden. Je länger die organisatorische Arbeit vor sich geht, je umfassender sie wirkt, je weniger die einzelnen Fachvereine sich zünftig abschließen, je mehr sie alle Berufsgenossen zu umfassen suchen, je stärker die proletarischen Organisationen, um so mehr enthalteh diese alle kampflustigen und kampffähigen Elemente des Proletariats, um so mehr werden die unorganisierten gleichbedeutend mit den Elementen, die kampfunlustig oder kampfunfähig sind – aus intellektueller oder moralischer, ökonomischer oder physischer Schwäche. Dazu kommt, daß, je länger die Organisationen bestehen, desto mehr die Gefahr wächst, daß die Organisierten und die Unorganisierten dauernd getrennte Schichten bilden, die einander mißtrauisch gegenüberstehen, also wenig Einfluß aufeinander üben. Es wäre also sehr verkehrt, wollte man die Unorganisierten aller Länder über den gleichen Kamm scheren, etwa von den unorganisierten Arbeitern Deutschlands die gleiche kühne Initiative und heldenmütige Ausdauer erwarten, die unorganisierte Arbeiter Rußlands an den Tag gelegt haben.
Damit soll die Bedeutung der Bemerkungen in dem Buche der Genossin Roland-Holst über die verschiedene Veranlagung der Organisierten und der Unorganisierten für die Initiative zum Massenstreik nicht geschmälert, sondern nur ins rechte Licht gesetzt werden.
Nicht minder zu beachten sind ihre Hinweise auf die Wichtigkeit eines innigen Zusammenwirkens zwischen Partei und Gewerkschaft, soll der Massenstreik Aussicht auf Erfolg haben. Mit dem guten Einvernehmen dieser beiden Faktoren stand es damals in Frankreich recht schlecht – und nicht besser in Deutschland.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011