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Wie wenig das Diskutieren des Massenstreiks gleichbedeutend war mit dem Empfehlen seiner sofortigen Anwendung, zeigte sich unmittelbar nach dem Kölner Kongreß.
Gerade zu jener Zeit versuchte man in Hamburg, das geltende Wahlrecht zu verschlechtern. Einzelne Genossen erhoben die Forderung, dagegen müsse man sich durch einen Massenstreik wehren, aber in Hamburg selbst herrschte nicht die mindeste Neigung zu einem solche
In der Neuen Zeit schrieb ich im Juli darüber:
„Bömelburg meinte in Köln, je länger er sich die Frage des Generalstreiks überlegt habe, desto mehr hat er sich überzeugt, daß es sich dabei um eine Revolution handle; es könne dabei nichts herauskommen, als die Revolution. Das ist nicht ganz richtig, wie schon das Beispiel Belgiens, Schwedens, Hollands, Italiens beweist. Der Massenstreik bedingt nicht notwendig die Revolution. Er ist ein Mittel politischer Pression, politischer Gewalt, das unter verschiedenen politischen Situationen und Bedingungen sehr verschiedenes bedeuten kann. Aber eines ist richtig: unter den besonderen politischen Verhältnissen Deutschlands ist ein erfolgreicher Massenstreik nur denkbar in einer revolutionären Situation, und es wäre darum aussichtslos, ja verderblich, wollte man ihn anwenden in einer Situation, die zu einer revolutionären nicht werden kann. Es wäre z. B. die größte Torheit, wollte man heute in Hamburg zur Verteidigung des dortigen Wahlrechts einen Massenstreik inszenieren! Der Massenstreik für eine einzelne Stadt; das Aufgebot der letzten und schärfsten Waffe des Proletariats, die seine vollste Hingebung und seinen höchsten Opfermut erfordert, bloß zu dem Zweck, das jetzige, schon miserable Klassenwahlrecht gegen weitere Verschlechterungen zu schützen!
Aber selbst wenn es zur Aufhebung des Reichstagswahlrechts käme, müßte man es sich noch sehr überlegen, ob man ohne weiteres mit dem Massenstreik darauf antworten solle; das käme ganz auf die Situation an, in der sich dies vollzieht. Wenn wir es für notwendig halten, den Massenstreik an diskutieren und die proletarischen Massen mit seiner Handhabung vertraut zu machen, so vor allem deswegen, weil wir auch für Deutschland revolutionäre Situationen erwarten, die den Massenstreik ebenso geboten wie möglich machen. Eine Verschlechterung des Wahlrechts zum Reichstag könnte zur Herbeiführung einer solchen Situation allerdings sehr viel beitragen, und insofern eine Provokation zum Massenstreik werden.
Wir müssen damit rechnen, daß die Situation in den verschiedensten Ländern außerhalb Deutschlands sich in einer Weise gestaltet, die den Massenstreik dort nötig und möglich macht, und daß diese Erfolge dazu verführen, ihn dann ohne weiteres auch in Deutschland zur Anwendung zu bringen, aber unter Bedingungen, die seinen Erfolg ausschließen. Hat man doch schon davon gesprochen, ihn in Hamburg zu proklamieren, um das bestehende Wahlrecht zu verteidigen, in Preußen und Sachsen, um das Klassenwahlrecht zu stürzen. Studieren wir nicht die Bedingungen und Methoden des Massenstreiks, dann laufen wir Gefahr, nicht bloß, daß wir ihn dort nicht anwenden, wo seine Anwendung geboten, sondern auch, daß wir ihn dort anwenden, wo seine Anwendung verderblich. Wer die Theorie verachtet, wer sich darauf verläßt, daß Probieren über Studieren geht, der muß stets teures Lehrgeld zahlen.“ (Die Folgen des japanischen Krieges und die Sozialdemokratie. 3. Die Stimmung in der deutschen Sozialdemokratie, Neue Zeit, XXIII, 2, S. 493)
Im August wendete ich mich dann gelegentlich gegen den Genossen Katzenstein, der zur Abwendung einer Wahlrechtsverschlechterung in Lübeck den Massenstreik empfohlen hatte.
Mit alledem erregte ich den lebhaftesten Zorn Eisners im Vorwärts, der mir vorwarf, daß ich die „hanseatische Wahlrechtsfrage lediglich unter dem Gesichtspunkt eines opportunistischen Krämers betrachte“:
„Wir verstehen unter dem Studinm des politischen Streiks, daß eine Dreimillionenpartei im Kampf um politische Rechte nicht buchmäßig rechnen und nicht in die Ferne spekulieren dürfe, sondern das, sie, wenn es gilt, auch Niederlagen wagen müsse!“
Zu gleicher Zeit (September 1905) veröffentlichte auch Hilferding einen Artikel in der Neuen Zeit über Parlamentarismus und Massenstreik, in dem er darauf hinwies, daß der Massenstreik unter verschiedenen Umständen etwas sehr Verschiedenes bedeute, zum Beispiel in Deutschland ganz andere Vorbedingungen habe als in Oesterreich:
„In Deutschland und in Oesterreich steht der politische Massenstreik auf der Tagesordnung der Parteitage.
Und doch handelt es sich in den beiden Ländern um politisch ganz verschiedene Dinge. Der politische Massenstreik, angewandt von der weitaus stärksten Partei Deutschlands gegen die stärkste Regierung und geschlossenste Herrschaftsorganisation der Welt, ist ein ganz anderes Ding als der politische Massenstreik in Oesterreich, angewandt von einer kleineren Partei, der eine schwache Regierung und ein Haufe stets mit einander hadernder bürgerlicher Parteien gegenüberstehen. In Deutschland muß der Massenstreik, mag er entstehen, wie er wolle, auf den allerschärfsten Widerstand gefaßt sein. Denn die herrschenden Klassen Deutschlands vertragen infolge der Entwickelung der ökonomischen Verhältnisse keinen Sieg des Proletariats, und sei es in welcher Form immer. Die einzelne Frage erscheint ihnen nebensächlich und wichtig nur, daß die proletarische Machtorganisation aus eigener Kraft und in direkter Weise die bürgerliche Machtorganisation überwunden hat. Der Entscheidung der einen Frage zugunsten des Proletariats wird, so müssen die Gegner fürchten, die Entscheidung der anderen Fragen nachfolgen. Hat das Proletariat hier gesiegt, so kann es auch dort siegen. Mag die Frage vom Proletariat gestellt so wie immer, die herrschenden Klassen werden immer nur ihr Sein oder Nichtsein heraushören.
Deshalb ist der Massenstreik für Deutschland eine entscheidende Phase, ein Kampf, der bis zum Ende ausgefochten werden muß, soll er nicht für das Proletariat eine schwere Niederlage werden. Nicht, weil das deutsche Proletariat im Massenstreik eine Entscheidungsschlacht kämpfen will, sondern weil die Gegner in jedem Massenstreik, in jeder und sei es noch friedlichen und legalen Auflehnung gegen ihre Herrschaft ihr nahendes Ende erblicken und ihm deshalb mit aller ihrer Macht entgegentreten werden, ist der Massenstreik für Deutschland nur als letztes entscheidendes Mittel in dem Kampfe zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
Der politische Massenstreik ist also für Deutschland kein Demonstrationsmittel, weil er als solches von den Gegnern kaum ertragen werden kann. Er ist kein Mittel, das angewandt werden kann im Kampf für irgendeine Einzelforderung, sondern m Mittel, das, wenn alle anderen versagen, über die politische Herrschaft entscheiden wird. Wie immer der politische Massenstreik vom Proletariat gemeint wäre, seinen Gegnern wäre er die Todesdrohung. Ganz anders in Oesterreich.“ (Neue Zeit, XXIII, 2, S. 815)
Auch dieser Artikel endigte mit einer Polemik gegen die „gemäßigten“ Anhänger des Massenstreiks, die seine Anwendung in Deutschland in den Kämpfen des Tages befürworteten.
Hier sehen wir den Keim eines neuen Gegensatzes in der Frage des politischen Massenstreiks auftauchen. Die Verfechter dieses Streiks in Deutschland teilen sich in zwei Gruppen. Die eine erklärt in gleicher Weise wie die Gewerkschaften, in der gegebenen Situation sei ein politischer Massenstreik in Deutschland nicht angebracht. Sie unterscheidet sich von den Gewerkschaften dadurch, daß sie das Auftauchen neuer, revolutionärer Situationen für möglich hält und die Notwendigkeit betont, mit ihnen zu rechnen.
Die andere Gruppe erwartet, gleich den meisten Gewerk, solche Situationen nicht, nimmt aber im Gegensatz zu diesen an, der Massenstreik sei in Deutschland in ähnlicher Weise möglich, wie etwa in Belgien und Schweden.
Naturgemäß sind diejenigen unter den Revisionisten, die sich für den Massenstreik erwärmen, am ehesten in der zweiten Gruppe zu finden. Ebenso naturgemäß ist diese Gruppe den Gewerkschaftern noch mehr ein Dorn im Auge, als die erste, weil sie den Bestrebungen auf baldigen Ausbruch des Massenstreiks Vorschub leistet. Wir haben gesehen, wie Bömelburg die revisionistischen Sympathien für den Massenstreik besonders zuwider waren.
Der Gegensatz zwischen den beiden Gruppen der Massenstreikler sollte noch deutlicher zutage treten. Einstweilen blieben seine Keime unbeachtet.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011