Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


20. Der Kongreß von Jena 1905


Zunächst vertiefte sich der Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaft in der Sache des Massenstreiks immer mehr. Der Versuch der Gewerkschafter, durch den Kölner Beschluß, die Diskussion darüber zu ersticken, mißlang völlig. Im Gegenteil, er brachte jetzt erst recht die Diskussion in Fluß. Die Erwartung, der Bömelburg Ausdruck gegeben, der Parteivorstand werde den Generalstreik nicht auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages setzen, erfüllte sich nicht. Auf dem Kongreß, der in Jena vom 17. bis zum 23. September 1905 tagte, bildete „der politische Massenstreik und die Sozialdemokratie“ den wichtigsten Punkt der Verhandlungen, und der Referent darüber war August Bebel. Dieser legte dem Parteitag eine Resolution vor, die ausführlich die Gefahren schilderte, denen das Wahlrecht sowie die Koalitionsfreiheit ausgesetzt seien und dann fortfuhr:

„Demgemäß erklärt der Parteitag, daß es namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht oder das Koalitionsrecht die Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes geeignet erscheinende Mittel zur Abwehr nachdrücklich anzuwenden.

Als eines der wirksamsten Kampfmittel um ein solches politisches Verbrechen an der Arbeiterklasse abzuwehren oder um sich ein wichtiges Grundrecht für ihre Befreiung zu erobern, betrachtet gegebenen Falles der Parteitag die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung.

Damit aber die Anwendung dieses Kampfmittels ermöglicht und möglichst wirksam wird, ist die größte Ausdehnung der politischen und gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse und die unausgesetzte Belehrung und:Aufklärung der Massen durch die Parteipresse und die mündliche und schriftliche Agitation unumgänglich notwendig.


Jeder Parteigenosse ist verpflichtet, wenn für seinen Beruf eine gewerkschaftliche Organisation vorhanden ist oder gegründet werden kann, einer solchen beizutreten und die Ziele und Zwecke der Gewerkschaften zu unterstützen. Aber jedes klassenbewußte Mitglied einer Gewerkschaft hat auch die Pflicht, sich der politischen Organisation seiner Klasse – der Sozialdemokratie – anzuschließen und für die Verbreitung der sozialdemokratischen Presse zu wirken.“

In der sehr langen Resolution, die anderthalb Seiten des Protokolls ausfüllt, ist nur kurz vom Massenstreik die Rede. Der erste Teil gilt dem ausführlichen Nachweis der Notwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts, der zweite denk Nachweis der Wichtigkeit der Organisation. Vom Massenstreik wird nur gesagt, er könne unter Umständen nötig werden und er setze eine starke Organisation voraus.

Auch in seinem ausführlichen Referat legte Bebel daß Schwergewicht auf die Kennzeichnung der politischen Lage, die zu der Frage führe, ob die taktischen Mittel, die wir bisher angewandt haben, auf die Dauer genügen werden, uns im Kampfe mit den Feinden bei den sich stetig verschärfenden Gegensätze zu behaupten. Er erörterte dann im Gegensatz zu Bömelburg die Notwendigkeit, den Massenstreik zu diskutieren, gab einen Abriß seiner Geschichte, polemisierte gegen Wolfgang Heine, der den Massenstreik in schärfster Weise abgelehnt hatte, aber ebensosehr gegen die anarchistischen Generalstreikideen Friedebergs um endlich zu zeigen, daß der Massenstreik sehr wohl eine brauchbare Waffe sein könne. Doch äußerte er Bedenken gegen die belgische Streiktaktik, erklärte, einen Demonstrationsstreik nach der Art des schwedischen „werden wir in Deutschland auch nicht machen“. Unter anderem gedachte er noch der Massenstreiks in Rußland:

„Dort, wo unsere Parteigenossen gar keine politischen Rechte und Machtmittel haben, werden Massenstreiks auf Massenstreiks drei- und viermal in demselben Orte mit einer Energie durchgesetzt, die nur die höchste Bewunderung aller hervorrufen muß. Indes sind die Zustände in Rußland so abnorm, daß diese Streiks für uns nicht als Beispiel herangezogen werden können ... Hier sind mit ganz unzulänglichen Mitteln zum Teil von unorganisierten Arbeitern Massenstreiks inszeniert worden. Ja, Parteigenossen, das empfehle ich Euch nicht, das empfiehlt niemand, das wäre ja Wahnsinn ... Wir Deutschen tun nicht so leicht einen Schritt, den wir uns nicht genau überlegt haben ... Wir sind der Meinung: ehe wir uns in so große Kämpfe einlassen, müssen wir erst gründlich organisieren, agitieren, politische und wirtschaftliche Aufklärung schaffen, die Masse selbstbewußt und widerstandsfähig machen, sie begeistern für den Moment, wo wir ihr sagen müssen: Du hast alles einzusetzen, weil eine Lebensfrage für Dich als Mensch, als Familienvater, als Staatsbürger auf dem Spiele steht.“

Im allgemeinen konnte Bebel den Gesichtspunkten, die vor ihm schon so vielfach erörtert worden waren, nichts Neues mehr hinzufügen. Bemerkenswert war seine Ablehnung der ausländischen Beispiele, die für deutsche Verhältnisse an sich noch nichts bewiesen vor allem aber die Ablehnung der russischen Erfahrungen.

Im Gegensatz dazu erklärte Rosa Luxemburg in Jena:

„Lernen Sie einmal aus der russischen Revolution. Die Massen sind in die Revolution getrieben, fast keine Spur von gewerkschaftlicher Organisation und sie festigen jetzt Schritt für Schritt ihre Organisationen durch den Kampf.“

Damit gesellte sich in der Frage des Massenstreiksein neuer Gegensatz zu dem schon früher innerhalb der Reihen seiner Befürworter aufgetauchten. Er wurde jedoch damals noch weniger beachtet, als der andere, schon oben erwähnte Gegensatz zwischen Eisner und mir. Noch galt es, dem Gedanken des Massenstreiks gegenüber den widerstrebenden Gewerkschaftern Geltung zu verschaffen. Alle anderen Differenzen verschwanden darüber.

So wichtig und interessant sonst noch die Jenaer Debatten waren, wir brauchen sie hier nicht wiederzugeben, weil sie, ebenso wie das Referat Bebels, nach alledem, was schon über den Massenstreik gesagt worden war, nichts Neues mehr entwickeln konnten. Wir dürfen um so mehr von ihrer Wiedergabe absehen, als wir Bebel und Legien über die Frage noch ausführlicher zu Worte kommen lassen.

Wie die Kölner Resolution wurde auch die Jenaer mi1 erdrückender Mehrheit angenommen, 287 gegen 14 Stimmen. Diese letzteren mit menig Ausnahmen – E. Fischer, Heine, Kolb, Dr. Lindemann – fast lauter Gewerkschafter. Bömelburg enthielt sich der Stimme.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011