Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


30. Die Aktion der Masse


a. Das Wesen der Masse

Es ist eine Binsenwahrheit geworden, daß die politischen und ökonomischen Kämpfe unserer Zeit immer mehr zu Massenaktionen werden. Die technische Entwickelung, namentlich das Wachsen der modernen Verkehrsmittel bringt immer größere Menschenmassen in engsten literarischen, politischen und ökonomischen Zusammenhang. So wie sie den Umfang der Heere und Flotten unaufhaltsam vergrößert, vermehrt sie die Mitgliederzahl der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, verwandelt sie lokale gewerkschaftliche Vereinigungen in nationale und internationale, Fachvereine in Industrieverbände, führt sie schließlich zu vereinten Aktionen von Partei und Gewerkschaft. Auf der anderen Seite vermehren sich aber auch die Machtmittel der Regierungen, schließen sich die bürgerlichen Parteien zu Blocks zusammen, wachsen die einzelnen industriellen und kommerziellen Unternehmungen, ihr Zusammenschluß in Unternehmerverbänden, ihre Beherrschung durch einzelne Riesenbanken.

So werden die politischen und ökonomischen Kämpfe immer mehr zu Aktionen der großen Massen. Das ist längst erkannt und heute allgemein anerkannt. Darüber soll hier nicht gehandelt werden. Ich erwähne diese Erscheinung nur, weil sie oft mit einer anderen zusammengeworfen wird, die ganz anderer Natur ist und deren stetes Wachsen in der modernen Gesellschaft keineswegs allgemein anerkannt, vielmehr lebhaft bestritten wird. Diese andere Erscheinung bildet die spontane politische oder ökonomische Aktion der unorganisierten, gelegentlich zusammenkommenden und dann wieder auseinandergehenden Volksmasse, der „Straße“.

Diese Art Massenaktion ist etwas ganz anderes als die ersterwähnte Art. Damit, daß man feststellt, daß die politischen und ökonomischen Aktionen immer mehr zu Massenaktionen werden, ist keineswegs anerkannt, daß jene besondere Art der Massenaktion, die man kurz als Aktion der Straße bezeichnet, berufen ist, auch immer mehr eine große Rolle zu spielen. Einige unter uns bestreiten, andere behaupten es; die Argumentation der letzteren beruht aber meist auf einem Zusammenwerfen der beiden Arten Massenaktionen, so daß man vermeint, mit der Notwendigkeit der einen habe man auch schon die der anderen erwiesen.

So einfach liegt die Sache aber nicht, und es lohnt sich gerade jetzt, nach den Unruhen in England, Frankreich, Oesterreich, sie ein wenig zu zergliedern.

Wir handeln also im folgenden nicht von der politisch oder gewerkschaftlich organisierten Masse, sondern von jener Masse, die sich gelegentlich, durch bestimmte Veranlassungen getrieben, zur Bekämpfung bestimmter sie bedrückender Faktoren zusammenfindet. Organisierte Gruppen können in ihr vorkommen, werden selten ganz fehlen, machen aber nicht ihren Hauptbestandteil aus.

Das galt während der französischen Revolution, galt 1848, 1871 und jüngst während der russischen Revolution. Es würde auch heute noch in Deutschland gelten, wenn es zu Aktionen der gesamten Volksmasse käme. Bei der Zählung von 1907 fand man fast 12.000.000 Lohnarbeiter und Angestellte in Industrie und Handel – wir sehen hier von der Landwirtschaft ab. Daneben eine halbe Million Erwerbstätige in häuslichen Diensten, 1.700.000 in Staats- und Gemeindediensten, 8.400.000 Beruflose. Ein großer Teil dieser Elemente ist zum „Volk“ zu rechnen, zur Masse, die sich in erregten Momenten in den Straßen staut und ihnen ihre Physiognomie gibt. Aber daneben gehören auch viele der „Selbständigen“ nicht zu den Schichten, die sich vom Volke bei solchen Gelegenheiten absondern, Heimarbeiter, kleine Meister und Krämer usw. Wir haben da nur die Erwerbstätigen betrachtet. Zum Volke, das sich bei Massenaktionen auf den Straßen drängt, muß jedoch auch die große Masse der nicht erwerbstätigen, sondern im Haus beschäftigten Frauen der ärmeren Bevölkerung gerechnet werden.

Auch wenn wir von der landwirtschaftlichen Bevölkerung und den Kindern absehen, dürfen wir die Volksschicht, die bei Massenaktionen in Deutschland in Frage kommen könnte, auf rund dreißig Millionen berechnen. Davon sind rund ein Zehntel gewerkschaftlich organisiert, wobei wir nicht bloß die freien Gewerkschaften, sondern auch christliche, Hirsch-Dunckersche und unabhängige Vereine rechnen. Eine Aktion der großen Masse wäre also auch heute noch überwiegend eine Bewegung unorganisierter Elemente, und sie wird es noch lange bleiben, vielleicht so lange, als die kapitalistische Produktionsweise dauert. Selbst bei einer Verdoppelung und Verdreifachung der Zahl der Organisierten würden die unorganisierten in der Masse noch erheblich überwiegen.

Da ist wohl die Frage am Platze: was kann diese unorganisierte Masse als solche leisten? Was haben wir von ihr zu erwarten?

Den meisten Beobachtern erscheint die Masse als ein mystisches Wesen; je nach ihrer Parteistellung betrachten sie die einen als den leibhaftigen Gottseibeiuns, die anderen als den wahren Gott, der die Menschheit erlösen wird. Ein italienischer Professor, Anhänger Lombrosos, Scipio Sighele, hat in einem Buche die „Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen“ untersucht und gefunden, daß das Individuum, wenn es sich in der Masse befindet, zu den schlimmsten Verbrechen neigt und sich leicht zu solchen hinreißen läßt, an die es, losgelöst von der Masse, gar nicht denken würde. Fast um dieselbe Zeit wie dieses Buch erschien ein anderes über die „Psychologie der Massen“ (Psychologie des foules, 1895) von einem Dr. G. Le Bon, das weniger die Kriminalität der Massen betonte, dafür aber ihrer Intelligenz das schlechteste Zeugnis ausstellte: Die Masse, behauptet er, ist ohne Vernunft, wird durch Leidenschaften, Suggestionen, zufällige Anlässe zu den verrücktesten Taten angepeitscht. Selbst hochintelligente Individuen werden sinnlos, wenn sie sich in einer Masse befinden.

Damit glaubte der gelehrte Doktor namentlich die proletarischen Massen zu treffen, aber er dehnt sein hartes Urteil auf jede Vereinigung aus, selbst wenn sie nur ein Dutzend Menschen umfaßt. Parlamente und Geschworenengerichte kommen bei ihm nicht viel besser weg als die Masse, so daß man annehmen müßte, die Intelligenz sei etwas, was bei fast allen menschlichen Betätigungen ausgeschaltet ist. Denn fast alle gehen in Gesellschaft mehrerer Menschen und nicht in der Einsamkeit vor sich.

Diesen wegwerfenden Urteilen über die Masse stehen aber auch eben so verhimmelnde gegenüber, namentlich bei französischen und russischen Revolutionären. Es sind die Erfahrungen der großen Revolution, die sie zu ihrer überschwenglichen Verherrlichung der Masse führen. Ihren jüngsten Ausdruck fand sie in der übrigens meisterhaft geschriebenen Geschichte der französischen Revolution von Peter Krapotkin, deren Leitmotiv diese Verherrlichung bildet. Im Gegensatz zu Herrn Le Bon erklärt Krapotkin, die Masse besitze eine weit sicherere Intelligenz als die einzelnen Politiker.

Auf Schritt und Tritt findet man in seinem Buche urteile wie folgendes:

Das Volk hat immer ein richtiges Gefühl von der Lage, selbst wenn es dieses Gefühl nicht korrekt ausdrücken und seine Befürchtungen nicht mit gebildeten Gründen motivieren kann; und es erriet unendlich viel besser als die Politiker die Komplotte, die in den Tuilerien und den Schlössern gesponnen wurden.

Das ist genau das Gegenteil dessen, was die Herren Sighele und Le Bon gefunden haben. In einem aber stimmen alle Beobachter der Masse überein: Sie erkennen in ihr eine weit gewaltigere Kraft als die bloße Addition der Kräfte der Individuen, die sie zusammensetzen. Oder richtiger gesagt, das Individuum entwickelt in der Masse Kräfte, die weit über das Maß hinausgehen, dessen es in der Isoliertheit fähig wäre. In der Masse agierend, wird es kühner, selbstloser, aber auch rücksichtsloser und reizbarer, als es in der Vereinzelung wäre.

Das ist eine Eigentümlichkeit, die nicht dem Menschen allein innewohnt. Er teilt sie mit den anderen sozialen Tieren, wie man schon seit langem beobachtet hat. So bemerkt Espinas in seinem Buche über Die tierischen Eigenschaften:

Die Wut der Wespen wächst mit ihrer Zahl. Die Wirkungen der Zahl auf die lebenden Wesen sind sehr merkwürdig. Man weiß jetzt, daß der Mensch in der Einsamkeit weder so fühlt noch so denkt wie in einer Menge, und ein berühmter Kritiker hat häufig die Beobachtung gemacht, daß im Theater die Zuschauer lediglich durch die Menge zu ganz anderen werden, als jeder für sich sein würde ... In jeder Vereinigung fühlender Wesen teilt sich nicht nur die Bewegung eines einzigen allen mit, sondern die allgemeine Bewegung wird auch und so stärker, je größer die Menge ist. (S. 845 bis 847)

Er zitiert darauf Forel, der beobachtete:

Der Mut jeder Ameise nimmt bei derselben Form im geraden Verhältnis mit der Zahl ihrer Gefährten oder Freunde zu und ebenso im geraden Verhältnis ab, je isolierter sie von ihren Gefährten ist. Jeder Bewohner eines sehr volkreichen Ameisenbaues ist viel mutiger als ein im übrigen ganz gleicher aus einer sehr kleinen Bevölkerung. Dieselbe Arbeiterin, die sich inmitten ihrer Gefährten zehnmal töten läßt, wird sich außerordentlich furchtsam zeigen, die geringste Gefahr vermeiden, selbst vor einer viel schwächeren Ameise fliehen, sobald sie sich zwanzig Schritte von ihrem Bau allein befindet.

Espinas bezieht diese Beobachtungen auf alle „fühlenden Wesen“, es liegen aber nur Mitteilungen darüber für soziale Tiere vor, und sie können sich naturgemäß nur auf solche beziehen. Raubtiere, die vereinzelt herumschweifen, sind schon durch ihre Lebensbedingungen darauf angewiesen, das Maximum an moralischer wie physischer Kraft, dessen sie fähig sind, allein zu entfalten. Bei solchen Tieren ist ein hinzukommender Gesellschafter nicht ein Helfer, sondern ein Konkurrent um die Beute, der mit Mißtrauen und Uebelwollen angesehen wird – wenn er nicht etwa dem anderen Geschlecht angehört. Nur bei sozialen Tieren die durch ihre Lebensbedingungen darauf angewiesen sind, einander zu helfen, füreinander einzutreten, kann die Masse erhebend, anfeuernd und erregend wirken.

Diese biologischen Faktoren, die in der Masse wirken, werden noch verstärkt durch die besonderen historischen Umständen, unter denen sie in Aktion tritt. Die Menge Individuen, die sich gewöhnlich in den Straßen drängen und von denen jedes ein anderes Ziel hat, ist noch keine agierende Masse. Damit sie eine solche wird, dazu ist notwendig, daß alle die einzelnen, die da zusammenkommen, der gleiche Wille beseelt. Woher rührt diese Uebereinstimmung bei einer unorganisierten Masse von Leuten, die einander absolut nicht kennen, sich nicht verständigt haben, aus den verschiedensten Quartieren zusammentreffen? Diese Uebereinstimmung des Willens oder diese Erstickung jedes einzelnen, besonderen Willens durch den Massenwillen erscheint den Verächtern der Masse als ein besonders bemerkenswertes Zeichen ihres Tiefstandes.

So sagt Herr Le Bon:

Die Lähmung der bewußten Persönlichkeit, das Ueberwiegen der unbewußten Persönlichkeit, die Bestimmung des Handelns durch Suggestion und Ansteckung von Empfindungen und Ideen gleicher Art, die Tendenz, die suggerierten Empfindungen sofort in die Tat umzusetzen, das sind die charakteristischen Merkmale des Individuums in der Masse. Es ist nicht mehr es selbst, es ist ein Automat, den nicht mehr sein Wille leitet.

So steigt der Mensch um mehrere Stufen auf der Stufenleiter der Zivilisation herab, durch die bloße Tatsache, daß er den Teil einer organisierten Masse ausmacht. [1] Isoliert ist er vielleicht ein feingebildetes (cultivé) Individuum, in der Masse ist er ein Barbar, einer, der von Instinkten geleitet wird (S. 20).

Suggestion und Ansteckung sollen die Einheit des Willens der agierenden Masse erklären. Wenn man aber fragt, woher Suggestion und Ansteckung kommen, wer denn suggeriert und ansteckt, dann verstummt plötzlich unser tiefgründiger Massenpsycholog.

Die Ansteckung, sagt Le Bon, ist eine Erscheinung, leicht zu konstatieren, aber unerklärt, man muß sie mit hypnotischen Erscheinungen in Verbindung bringen, die wir gleich untersuchen wollen.

Bei dieser Untersuchung kommt indes nur heraus, daß die geistige Ansteckung eine Wirkung der Suggestion darstellt. Diese letztere erscheint Le Bon als die wichtigste Ursache der geistigen Eigenart der Masse. Wenn wir aber erfahren wollen, woher die Suggestion rührt, so werden wir kurz damit abgespeist, daß sie eine „Folge von Ausströmungen ist, die frei werden (par suite des efflures, qui s’en dégagent) oder aus irgendeiner anderen Ursache stammt, die wir nicht kennen“.

Mit anderen Worten, Ansteckung und Suggestion sind in diesem Zusammenhang nichts als gelehrt sein wollende Redensarten, hinter denen nicht die mildeste Erkenntnis steckt. Die Massensuggestion oder der einheitliche Wille der Masse, das sind nur zwei verschiedene Namen für dasselbe Ding. Herr Le Bon erklärt, dieser einheitliche Wille stamme ans dem einheitlichen Willen, der aus magnetischen Ausströmungen oder anderen Ursachen stammen mag. Die Sinnlosigkeit dieser Erklärung wird nur dadurch versteckt, daß der Leser glaubt, hinter dem Worte Suggestion stecke eine besondere Weisheit.

Es gibt in der Tat nichts Abgeschmackteres als diese Art Auffassung des Wortes von der Massensuggestion. Jede experimentell festgestellte Suggestion beruht auf der persönlichen Einwirkung eines Individuums auf ein anderes. Wo soll diese Einwirkung in der Masse herkommen? Durch einen Redner? Aber selbst wenn ein Redner von einer Tribüne herab spricht, wird er unter freiem Himmel nur von den Zunächststehenden verstanden. Wir finden indes einen einheitlichen Willen agierender Massen auch unter Umständen, wo es ganz unmöglich war, daß einzelne Redner zur Masse redeten. Wie kann da ein einzelner alle die Anwesenden hypnotisiert haben? Oder haben viele gleichzeitig die Anwesenden in gleichem Sinne hypnotisiert? Aber woher rührte dann die Uebereinstimmung der vielen Hypnotiseure? Das Wort von der Suggestion erklärt gar nichts.

Und doch ist die Erklärung nicht schwer zu finden, wenn man die Sache nicht medizinisch sondern historisch anmaßt, alle die Gelegenheiten Revue passieren läßt, bei denen Massen mit einheitlichem Willen agierten. Der einheitliche Wille der Masse ergibt sich aus den Bedingungen, unter denen allein eine nicht organisierte Masse zu einer agierenden werden kann. Oder, anders gesagt, wo nicht Bedingungen vorhanden sind, die einen einheitlichen Willen der Masse hervorrufen, da tritt sie nicht in Aktion.

Betrachten wir die Gelegenheiten, bei denen es zu Aktionen unorganisierter Massen kam, so finden wir stets, daß eine Reihe gewaltiger Ereignisse vorhergingen, die jedermann aufs tiefste erregten, bis dann ein Ereignis eintrat, das die Erregung zur Siedehitze steigerte. Solche Ereignisse sind zum Beispiel der Ausbruch eines Krieges, die fortgesetzten physischen und moralischen Leiden, die er verhängt. Kommt nun eine Nachricht, daß eine entscheidende Schlacht verloren wurde, der Feind auf die Hauptstadt marschiert, vielleicht gar sie mit Brand und Plünderung bedroht, dann duldet’s niemand mehr zu Hause, alles strömt erregt zusammen, seinem Herzen Luft zu machen, Mittel der Abwehr zu besprechen.

Wir haben oben gesehen, daß aus biologischen Gründen eine versammelte Menge sozialer Wesen leichter erregt ist als einzelne Individuen. Jetzt aber finden wir, daß es zur Bildung einer unorganisierten Masse in einer zivilisierten Gesellschaft nur dann kommt, wenn die einzelnen Individuen zu Hause schon auf das lebhafteste erregt sind. Das Beisammensein in Masse verstärkt die Erregung, ist aber nicht ihre erste Ursache.

Alle die Menschen, die nun zusammenströmen, sind intellektuell und emotionell ungefähr gleich organisiert. Entstammen sie noch dazu gleichen oder benachbarten Klassen, haben sie den gleichen Bildungsgang, dieselben Mittel der Information, dieselben Freunde und Feinde, so ist es auch naheliegend, daß sich unter ihnen eine Uebereinstimmung des Wollens herausstellt namentlich in negativem Sinne. Gewöhnlich ist es ein großes Leid, das sie zusammenbringt, nachdem sie lange aufs entsetzlichste bedrückt worden. Sie alle haben unter denselben Institutionen oder Personen gelitten, sie fühlen sich momentan von demselben Gegner verletzt oder bedroht: nichts leichter, als daß sich dann ihre Wut ohne weiteres gegen diesen Gegner, seine Werkzeuge, seine Machtmittel wendet, das Königtum, die Aristokraten, die Bastille oder was immer die historische Situation als Objekt des Zornes bieten mag.

Wie die große Erregung erklärt sich also die Einheitlichkeit des Willens der Masse einfach aus den historischen Bedingungen, unter denen allein Aktionen unorganisierter Massen zustande kommen. Im Grunde beruht diese Uebereinstimmung des Willens nicht auf irgendeiner mystischen, unerklärlichen Suggestion, sondern auf dem Gesetz, daß gleiche Ursachen stets gleiche Wirkungen hervorrufen, daß dasselbe Vorkommnis auf alle normalen, unter den gleichen Bedingungen lebenden Menschen den gleichen Eindruck machen, in allen dasselbe Denken, Fühlen und Wollen hervorrufen muß.

Freilich, wenn auch normalen Menschen im wesentlichen körperlich und geistig gleich organisiert sind, so ist ihre Uebereinstimmung nicht eine völlige. Selbst einfache Gebilde, Kristalle oder Zellen, zeigen individuelle Verschiedenheiten. Kein Exemplar ist irgendeinem anderen völlig gleich. Noch mehr gilt das von einem so komplizierten Wesen wie der Mensch. So können sich auch in dem Wollen der einzelnen individuelle Unterschiede bilden, des Grades oder selbst der Richtung. Aber je größer die Masse- das zeigt die Statistik –, desto mehr heben sich die einzelnen individuellen Abweichungen gegenseitig auf, desto mehr setzt sich der Durchschnitt durch, desto mehr muß aber auch in dem gegebenen Falle der Durchschnitt des Wollens aller anderen den einzelnen bestimmen. Insofern könnte man allerdings von einer Suggestion reden, aber nicht von einer, der die Masse unterliegt, sondern von einer, die sie übt. Je mehr der einzelne alle anderen um sich herum von gleichem Willen beseelt sieht, desto mehr wirkt diese Massenhaftigkeit des gleichen Willens auf ihn ein, desto mehr verliert er die Selbständigkeit des eigenen Willens, desto mehr wird er nicht bloß physisch, sondern auch moralisch von der Masse mit fortgerissen, selbst wenn er, isoliert, bei ruhigem Nachdenken zu ganz anderem Wollen und Tun käme.

Obwohl die Masse nur aus Individuen besteht, ihre Aktion nur die Aktion von Individuen darstellt, so geht doch das Individuum völlig in ihr unter, es verschwindet in ihr jede Rücksicht auf das Individuum, sogar jede Rücksicht des einzelnen Individuums auf sich selbst.

So entsteht jene Einheitlichkeit des Willens, die ohne Zögern und Zagen rücksichtslos auf ihr Ziel losstürmt und eine Wucht erlangt, die das Gewicht der vereinten Masse ihrer Individuen weit übertrifft. Daher die gewaltigen Wirkungen der Masse dort, wo jene historischen Bedingungen gegeben sind, die aus einer zusammenhanglosen Menge von Individuen einen geschlossenen Körper mit einem Willen und einem Ziele zusammenschweißen.
 

b. Die Leistungen der Masse

Nachdem wir das Wesen der unorganisierten und doch einheitlich agierenden Masse kennen gelernt haben, ist es nicht schwer, sich über das zu verständigen, was sie leisten kann.

„Die Masse kann nur zerstören,“ erklärt Le Bon und glaubt sie damit verurteilt zu haben. Aber Krapotkin, der Verherrlicher der Masse, weiß von den bisherigen Aktionen der Masse auch nichts anderes zu sagen. Sein Ideal der Masse ist jene, die in der französischen Revolution agierte. Er resümiert ihre Aktion in folgenden Worten:

Aus verschiedenen Gründen kam die Idee des Volkes in der Hauptsache lediglich in Negationen zum Ausdruck.‚Auf, laßt uns die Grundbücher verbrennen, in denen die Feudallasten verzeichnet stehen! Nieder mit den Zehnten! Nieder mit Madame Veto (der Königin)! Die Aristokraten an die Laterne!‘ Aber wem soll die freigewordene Erde übergeben werden? Wer soll die Erbschaft der guillotinierten Aristokraten antreten? Wem soll die Staatsgewalt überantwortet werden, die den Händen des Monsieur Veto entfiel, aber in denen des Bürgertums eine Macht wurde, die ganz anders, schrecklicher war als unter dem ancien régime?

Dieser Mangel an Klarheit in den Vorstellungen des Volkes über das, was es von der Revolution erhoffen konnte, drückte der ganzen Bewegung seinen Stempel auf ... Aber wenn die Ideale des Volkes hinsichtlich des Aufbaues wirr waren, so waren sie im Gegenteil in ihren Negationen über gewisse Punkte sehr klar und bestimmt. (I, S. 12, 13)

Von Le Bon unterscheidet sich Krapotkin dadurch, daß er die Unfähigkeit der Masse, „positiv“ zu schaffen, bloß in ihrer theoretischen Unklarheit begründet sieht. Wäre sie besser unterrichtet gewesen, dann hätte sie auch positiv wirken können.

Ist dem so?

Zunächst ist zu bemerken, daß die Unwissenheit und Unklarheit der Masse kein Zufall ist. Man bemerke, wir sprechen hier von der unorganisierten Masse. Die Aktionen organisierter Massen haben wieder ihre besonderen Gesetze, von denen wir hier nicht handeln. Wo die Volksmasse nicht organisiert ist, rührt das nicht daher, daß sie der Organisation nicht bedarf, sondern daher, daß sie entweder den Wert der Organisation nicht erkannt hat oder, und das wird öfter der Fall sein, daß sie durch politischen und ökonomischen Druck daran verhindert ist, sich zu organisieren. In dem einen wie in dem anderen Falle lebt die Volksmasse unter Bedingungen, die ihre Aufklärung und Bildung ungemein erschweren. Wenn solche Massen in Aktion treten, werden sie notwendigerweise unwissend und unklar sein.

Aber selbst wenn der sonderbare Fall einträte, daß es möglich wäre, sie zu klarer Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu bringen, und gleichzeitig unmöglich wäre, sie zu organisieren, würde die Aktion der Masse sich auf bloßes Zerstören beschränken müssen – das Zerstören natürlich nicht im physischen, sondern im sozialen Sinne genommen, als Zerstören von Einrichtungen.

Wir haben im vorhergehenden Kapitel gesehen, daß die Einheitlichkeit des Willens einer Masse durchaus kein Mysterium ist. Sie würde aber allerdings ein Mysterium sein, könnte sie sich positiv äußern. In einer Volksmasse, die von unerträglichem Drucke oder großen Gefahren bedrängt ist, kann leicht ohne langes Besinnen die Einheitlichkeit des Willens aufkommen, jene Personen oder Institutionen zu beseitigen, die für die Masse die sichtbarsten Träger jenes Drucks oder jener Gefahren sind.

Nicht so einfach ist es dagegen, an Stele einer solchen Person oder Institution neue zu setzen. Namentlich wenn sich’s um letzteres handelt, kommen so viele Details in Betracht, sind so viele Erwägungen erforderlich, daß die Masse sich sofort, wenn sie schaffen wollte, aus einer handelnden in eine beratende und beschließende Versammlung verwandeln müßte. Das ist aber schon aus physischen Gründen unmöglich. Bereits in einer Versammlung von tausend Personen, mit einem Präsidenten, Schriftführern, fester Geschäftsordnung, ist ein eindringendes sachliches Beraten kaum durchführbar. Kein Parlament der Welt zählt so viele Mitglieder. Wie sollte da eine unorganisierte Masse beraten und beschließen können, die so zahlreich ist, daß sie herrschende Personen, staatliche Institutionen zu beseitigen vermag, die vielleicht Hunderttausende von Menschen umfaßt! Auch nur der leiseste Versuch, eine solche Masse zu positivem Schaffen zu bringen, müßte elend scheitern, selbst wenn sie theoretisch sehr klar und völlig einig wäre, was ja so gut wie ausgeschlossen ist.

Aber noch mehr. Die „positive Arbeit“ erfordert nicht bloß ein kleines, geschlossenes Kollegium Beratender, sie erfordert auch Zeit. Man kann nicht binnen einigen Stunden ohne jede Vorbereitung ein neues Gesetz machen oder eine neue Organisation aufbauen.

Zeit ist aber gerade das, was der Masse fehlt. Sie lebt von der Hand in den Mund, und niemand arbeitet für sie. Sie kann nicht dauernd beisammen bleiben. Sie steht auch in keinem dauernden Zusammenhang. Sie ist ja nicht organisiert. Sie muß nach wenigen Stunden auseinanderlaufen, denn die einzelnen Individuen bedürfen der Nahrung, des Schlafs, des Erwerbs, um ihr Leben zu fristen. Alles das finden sie nicht, solange sie in Masse versammelt sind. Dazu muß jeder sein Heim oder das Surrogat dafür aufsuchen. Dann hört aber die Masse auf, zu existieren, die individuellen Beschäftigungen, Einwirkungen und Lebensbedingungen treten in ihre Rechte. Ganz unberechenbare Verhältnisse entscheiden darüber, ob, wann und zu welchen Zwecken diese Individuen sich wieder als Masse zu gemeinsamer Aktion zusammenfinde

In jedem einzelnen Fall kann die Masse also nur leisten, was sich binnen wenigen Stunden vollbringen läßt, und das kann nur ein Akt der Zerstörung sein.

Aber das bedeutet keineswegs eine Verurteilung jeglicher Massenaktion. und namentlich die Verächter der Masse haben keine Ursache, die Tatsache, daß sie nur zerstören könne, gegen sie auszuspielen, denn gerade jene Verächter der Masse sind in der Regel die größten Verehrer einer Institution, die eigens geschaffen ist und mit den größten Kosten aufrechterhalten wird, um zu zerstören, und die absolut nichts anderes leisten kann, als zerstören: die Armee.

Die Verächter der Masse sehen in der Armee die hehrste Institution des Staates. Die Monarchen sind in erster Linie Führer der Armee. Gutgesinnte Patrioten sollten sich also hüten, zu behaupten, eine Menschenmenge, die nur zerstören könne, sei dadurch schon als schädlich gebrandmarkt.

Man wird vielleicht entgegnen, das Kriegsheer wirke positiven Nutzen dadurch, daß es das Vaterland verteidigt. Aber selbst wenn wir davon absehen wollen, daß dabei unter den Interessen des Vaterlandes meist nur die seiner Ausbeuter zu verstehen sind, so kann man doch erwidern, daß den gleichen positiven Nutzen auch die Masse zu schaffen sucht. Sie verteidigt die Rechte des Volkes. Das ändert aber nichts an der Tatsache, und darum handelt es sich jetzt, daß Armee wie Masse ihre Zwecke nur erreichen können durch Zerstörung. und bei der Armee ist das Zerstören obendrein ausschließlich ein physisches Morden, Sengen und Brennen. Die Aktion der Volksmasse erreicht dagegen ihren Zweck, Beseitigung verhaßter Personen oder Institutionen, oft schon durch bloßen moralischen Druck.

Ob ihre Aktion dem gesellschaftlichen Fortschritt dient oder ihn hemmt, in diesem Sinne nützlich oder schädlich wird, läßt sich ebensowenig ein für allemal sagen, wie es sich von kriegerischen Aktionen sagen läßt. Es hat sicher sehr viele Kriege gegeben, die die gesellschaftliche Entwickelung gehemmt haben, aber doch auch solche, die sie förderten; zum Beispiel die Kriege der französischen Republik, früher schon die Kriege der Holländer gegen die Spanier, manche Kriege gegen die Türken (nicht der jetzige Flibustierzug der Italiener) usw.

So wäre es auch ein Unding, von vornherein zu sagen, die Masse könne nur schädlich wirken, weil sie nur zu zerstören vermöge. Aber ebensowenig geht es an, wie die Verehrer der Masse tun, anzunehmen, daß die Masse, um mit Krapotkin zu reden, „stets ein richtiges Gefühl von der Lage hat“ und stets nur das zerstört, was im Interesse der gesellschaftlichen Entwickelung zerstört zu werden verdient.

Solange es eine Zivilisation gibt, ist die Volksmasse zu jeder Zeit so ausgebeutet und bedrängt, daß sie stets Grund hat, sich zu empören, daß sie stets Personen und Institutionen vorfindet, die sie hassen, deren Beseitigung sie wünschen muß. Aber diese Sachlage allein bewirkt noch keine Aktion der Masse. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge stehen die Individuen, aus denen das Volk besteht, den herrschenden Klassen und ihren Machtmitteln vereinzelt, mutlos, hoffnungslos gegenüber. Nur wenn besondere Ereignisse sie aufs äußerste erregen, zusammenführen, Zweifel an der Kraft oder Sicherheit ihres Bedrückers oder aber den Mut der Verzweiflung in ihnen selbst hervorrufen, kann es zu einer Aktion der Masse kommen. Diese erwächst aus bestimmten Ereignissen und nicht etwa aus einem besonderen Scharfsinne der Masse, die ja als Masse noch gar nicht besteht und ihre besonderen überlegenen Kräfte nicht entfalten kann, solange nicht die Ereignisse zahlreiche Individuen aus ihrer Isolierung gerissen und zusammengeführt haben.

Am ehesten sind es Niederlagen im Krieg und Hungersnot, die die Massen erregen und rebellisch machen. Oft sind die Ursachen der Erregung solche, an denen die Machthaber persönlich unschuldig sind, zum Beispiel eine Mißernte. Aber die Machthaber sind die Nutzuießer des bestehenden Systems der Unterdrückung und Ausbeutung und werden für das Elend, das eintritt, auf jeden Fall verantwortlich gemacht.

Jedes Regierungssystem, ob feudalistisch, ob kapitalistisch, ob konservativ, ob liberal, war bisher mit Not und Elend der Volksmasse verknüpft. Unter jedem kann dies Elend durch Krieg, Mißernten, Krise so verschärft werden, daß es zu rebellischen Ausbrüchen und Massenaktionen gegen das bestehende Regierungssystem führt. Ist dieses ein rückschrittliches, werden sie im Sinne des Fortschritts wirken. Ist es ein fortschrittliches, können sie reaktionäre Tendenzen entwickeln.

Es hieße einer mystischen Teleologie huldigen, wollte man annehmen, daß die Masse stets dann und dort in Aktion trete, wo dies im Interesse der gesellschaftlichen Entwickelung notwendig sei, und daß ihr Eintreten stets diesem Zweck diene. Da die Massen stets bedrückt sind, stets Grund haben, sich gegen die augenblicklichen Machthaber zu wenden, wer diese auch sein, in welcher Richtung diese tätig sein mögen, und da die Tatsache ihrer Erhebung von Bedingungen abhängt, die mit dem fortschrittlichen oder rückschrittlichen Charakter der Machthaber nichts zu tun haben, können Aktionen der Masse ebenso reaktionär, ja geradezu sinnlos sein, wie sie unter Umständen die Lokomotiven der gewaltigsten gesellschaftlichen Fortschritte zu werden vermögen.

Die Verehrer der Masse sehen meist nur die Erscheinungen letzterer Art während der französischen Revolution, und doch traten in jenem Zeitalter auch Erscheinungen auf, die das Gegenteil bekundeten. Neun Jahre vor der Erstürmung der Bastille kam es in London zu einem gewaltigen Ausbruch der Volkswut, der für mehrere Tage lang die Hauptstadt in den Besitz der Masse brachte. Diese Empörung, die sogenannten Gordonunruhen, erwuchs sicher ebenso wie die Erhebung der Pariser aus der unerträglichen Lage des Volkes. Aber der Gegenstand, gegen den sie sich richtete, waren nur die Katholiken, die seit 1778 etwas weniger grausam behandelt wurden als bis dahin. Aber auch dieser Zweck verlor sich im Fortgang des Aufstandes, der schließlich eine bloße Orgie der Plünderung und Berauschung wurde, der das Militär ein blutiges Ende machte. Nicht so sinnlos, aber höchst reaktionär erwies sich der wütende Volksaufstand, der 1808 in Spanien losbrach. Er wendete sich gegen die Franzosen, die eben einem elenden Regiment von Pfaffen, Junkern und Höflingen, das das Land ruinierte, ein Ende gemacht hatten und anfingen, nützliche Reformen durchzuführen. Jener Aufstand verjagte die Reformer und schuf wieder Platz für das alte reaktionäre Geschmeiß. Will man Beispiele reaktionärer Massenbewegungen aus unseren Tagen haben, dann erinnern wir an russische Pogroms, an amerikanische Lynchungen von Negern und Japanern usw.

Man sieht, die Aktion der Masse dient nicht immer dem Fortschritt. Das, was sie zerstört, sind nicht immer die schlimmsten Hemmnisse der Entwickelung. Sie hat ebenso oft reaktionären wie revolutionären Elementen dort in den Sattel geholfen, wo sie siegreich war.

Damit treffen wir auf einen weiteren Nachteil, der stets der Aktion der Masse anhaftet: sie vermag wohl unter Umständen zu siegen, aber nie selbst die Früchte des Sieges einzuheimsen, da sie eben nur zu zerstören vermag. Wie die Armee wohl imstande ist, Siege zu erfechten, die Festlegung der Gewinne des Sieges im Friedensschluß aber den Diplomaten und Staatsmännern überlassen muß, die dem blutigen Ringen gemächlich zugesehen, so ist auch die Masse bisher stets dazu verurteilt gewesen, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Es hängt das damit zusammen, daß die Masse wohl kämpfen, nicht aber – als Masse – Gesetze machen oder den Staat verwalten kann. Sie muß das immer kleinen Gruppen überlassen, die sich dauernd diesen Aufgaben widmen, entweder Leuten, die als Ausbeuter die nötige Muße dazu haben, oder eigens dafür bezahlten Repräsentanten oder Beamten.

Die historische Wirkung der Aktion der Masse hängt daher nicht bloß davon ab, ob und in welchem Grade sie siegt, welche Personen oder Institutionen durch sie zurückgedrängt oder weggefegt werden, sondern auch davon, welcher Art die Elemente sind, für deren Herrschaft der Sieg der Masse Platz macht.

Durch die Art dieser Wirkung wird es auch bestimmt, wie die Aktion der Masse auf diese oder vielmehr auf die Individuen, die sie bilden, zurückwirkt, nachdem diese Aktion und damit das Bestehen der Masse selbst aufgehört hat. Sind es revolutionäre Elemente, die dadurch in den Sattel gehoben werden, Elemente, die daran gehen, drückende Mißstände aufzuheben, dringende Forderungen der Masse durchzuführen, eine Fortentwickelung der Gesellschaft anzubahnen und damit allenthalben die frohesten Erwartungen wachzurufen, so fühlen sich alle jene dadurch gehoben, die an der Aktion teilgenommen und dadurch den neuen Zustand geschaffen haben.

Ja, darüber hinaus wird nun jedem Mitglied der Volksmasse, ob es bei der Aktion mittat oder nicht, klargemacht, welch gewaltige Wirkungen es durch sein Mittun hervorrufen könnte. Selbstbewußtsein, Kraftgefühl, lebhaftes politisches Interesse und Verständnis, aber auch leichte Erregbarkeit, der Drang, die Aktion zu wiederholen, sobald den Reformen Gefahren oder Lockungen drohen – alles das wird in der Volksmasse aufs höchste gesteigert. Sie nähert sich jenem Idealbild, das aus den Erfahrungen der großen Revolution abgeleitet wurde.

Scheitert dagegen die Aktion der Masse an innerer Haltlosigkeit, an der Unvernünftigkeit ihrer Ziele, oder ebnet ihr Sieg nicht revolutionären, sondern reaktionären Elementen den Weg, führt diese Aktion nicht zur Weiterentwickelung des Bestehenden, sondern in erneuter Befestigung schon früher vorhandenen Drucks, dann ergreift das Gefühl der Ohnmacht und des Zweifels an sich selbst die Individuen der Volksmasse; Entmutigung, Hoffnungslosigkeit, Apathie bewirken, daß selbst die stärksten Erregungsmittel für lange Zeit auf sie nicht mehr wirken.

Die Wirkungen und Erscheinungsformen der Massenaktion können also der mannigfaltigsten Art sein. Sie lassen sich schwer vorher ermessen, denn die Bedingungen, von denen sie abhängen, sind höchst komplizierter Natur. Sie wirken fast immer entweder überraschend, alle Erwartungen übertreffend, oder enttäuschend.

Noch mehr als von der Art und dem Grade ihrer Wirkungen gilt das aber schon von ihrem bloßen Eintreten. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß es nicht überlegener Scharfsinn der Masse, sondern ein Zusammentreffen besonderer Bedingungen ist, was ihre Aktion hervorruft. Diese Bedingungen lassen sich nicht willkürlich schaffen, und sie treten nicht immer gerade dann ein, wenn eine Aktion der Masse in deren eigenem Interesse am Platze wäre. Manche dieser Aktionen ist sehr zur Unzeit gekommen, wenn sie mehr schadete als nützte, andererseits ist aber auch manche gerade dann ausgeblieben, wo sie am notwendigsten gewesen wäre.

Wie wir sahen, hat Krapotkin – und auch schon andere vor ihm – behauptet, in der französischen Revolution habe das Volk seine Lage immer sehr richtig beurteilt. Aber er selbst muß wenige Seiten, ehe er diese Behauptung aufstellt, mitteilen, wie vom 17. Juli 1791 bis zum Frühjahr 1792 die Masse sich nicht rührte und der Reaktion oder, richtiger gesagt, der Bourgeoisie freien Lauf ließ, so daß Danton, Marat und viele andere bereits an der Revolution verzweifelten. Krapotkin erklärt dies dadurch, daß das Volk gefesselt war durch seine Führer. Diese wollten aber doch auch später von der Aktion der Masse nichts hören. Wenn es in dem Jahre von 1791 bis 1792 nicht zu großen Aktionen der Massen kam, so lag das zum großen Teil daran, daß die Momente, die sie 1789 erregt hatten, zeitweise ausgeschaltet waren: die Hungersnot und die Drohung der bewaffneten Gegenrevolution. Die Ernten von 1789 und 1790 waren reichliche gewesen, und niemand gefährdete die Nationalversammlung. Die Arbeiten der gesetzgebenden Versammlung schienen dem Volke Gutes zu versprechen. Was im Jahre 1792 die Aktion der Masse wieder in Fluß brachte, waren nicht die „Führer“, sondern der Krieg, der im April 1792 erklärt worden war.

Andererseits, als am 9. Thermidor (27. Juli) 1794 Robespierre durch die bürgerliche Gegenrevolution gestürzt wurde, versagte wieder die Masse. Von da an begann der Niedergang des kleinbürgerlich-demokratischen Regimes.

Und wie damals ist es seitdem nur zu oft gegangen, so erst jüngst in der russischen Revolution. Im entscheidenden Moment, als die Revolution durch die Gegenrevolution aufs schlimmste gefährdet war, blieb der Appell der Revolutionäre an die Massen, in den Streik zu treten (Dezember 1905), gerade im Zentrum der Bewegung, in Petersburg, ohne ausreichenden Widerhall.

Das Eintreten einer Aktion der unorganisierten Masse ist ein Elementarereignis, das man wohl, wenn man seine Bedingungen erkannt hat, mit einiger Wahrscheinlichkeit in einer gegebenen Periode, die diese Bedingungen erfüllt, erwarten, das man aber nicht beliebig herbeiführen und auch nicht mit voller Bestimmtheit für einen vorher fixierten Zeitpunkt ansetzen kann. Oppositionelle Parteien können wohl daran tun, sich in Zeiten großer Erregung der Volksmassen zu rüsten, um eine eventuelle Aktion der Masse auszunutzen. Sie werden jedoch in neun Fällen von zehn elend Schiffbruch leiden, wenn sie ihre Politik auf das erwartete Eintreten einer solchen Aktion in einem bestimmten Zeitpunkt aufbauen, damit drohen, sich dazu öffentlich verpflichten.

Die Unberechenbarkeit der Aktionen unorganisierter Massen ist oppositionellen und namentlich revolutionären Bewegungen und Parteien oft verhängnisvoll geworden. und doch beruht gerade darauf die Stärke solcher Aktionen und die Möglichkeit ihres Sieges. Denn die physischen Machtmittel der Masse sind in der Regel gering, denen der Regierung in keiner Weise gewachsen. Sie wirkt sieghaft dort, wo die Einheitlichkeit und Rücksichtslosigkeit ihres Willens sich überlegen zeigt, wo sie auf Unsicherheit, Kopflosigkeit, Angst stößt. Diese Eigenschaften erzeugt sie in einer moralisch bereits geschwächten Regierung durch die Plötzlichkeit und Wucht ihres für Freund und Feind gleich überraschenden Auftretens.

Wo die Regierung von der Massenaktion nicht überrascht wird – und das wird fast bei jeder nicht spontanen, sondern vorbereiteten Massenaktion der Fall sein – oder wo sie eine derartige Aktion gar provoziert, da werden ihre Machtmittel in der Regel ausreichend die Masse niederzuschlagen. Es ist ein altbewährtes Mittel von Regierungen, die sich durch eine anschwellende Bewegung im Volke bedroht fühlen, durch gewaltsame Maßregeln dessen Empörung herauszufordern, um sie dann in ihrem Blute zu ersticken. Nach diesem Rezept wurde 1848 die Junischlacht heraufbeschworen. So gedachte auch Bismarck die deutsche Sozialdemokratie zu Straßenkämpfen zu treiben, als alle anderen Mittel fehlschlugen, ihren Aufstieg niederzuhalten. Aber das deutsche Proletariat ist zu unorganisierten Massenaktionen nicht so leicht zu veranlassen wie das anderer Nationen. Und nicht zum wenigsten dem ist es zuzuschreiben, wenn der Aufstieg unserer Partei bisher durch keine einzige entscheidende Niederlage für längere Zeit unterbrochen wurde, wie es bei den sozialistischen Bewegungen anderer Großstaaten hin und wieder der Fall war.

Indes wäre es verkehrt, wenn daraus geschlossen würde, jede oppositionell Partei habe unter allen Umständen jegliche Aktion der unorganisierten Masse prinzipiell zu verpönen. Mag deren Aktion sehr oft unzeitgemäß sein, andererseits sehr oft dann ausbleiben, wenn sie am Platze wäre, so hängt doch ihr Ausbleiben ebensowenig von unserem Gutdünken ab wie ihr Eintreten. Wenn ihre Bedingungen gegeben sind, dann tritt sie unabwendbar ein, ohne Rücksicht darauf, ob die Regierungen und auch die Revolutionäre dekretieren, daß jede Massenaktion zu unterbleiben habe. Elementarereignisse lassen sich nicht willkürlich dirigieren. Nichts komischer als etwa Erörterungen darüber, ob wir Sozialdemokraten durch das allgemeine Wahlrecht, durch das Parlament oder durch Massenaktionen die politische Macht erobern wollen. Als ob das von unserem Belieben abhinge! Ebensogut könnten wir darüber debattieren, ob es morgen hageln solle oder nicht.

Eine andere Frage ist dagegen die, ob die Bedingungen, aus denen zeitweise Aktionen der Massen bisher entsprangen, auch jetzt noch bestehen und weiter zu bestehen versprechen; ob sie nicht vielmehr im Abnehmen begriffen sind oder völlig aufgehört haben zu existieren: kurz, nicht die Frage, ob wir die Aktion der „Straße“ wollen, sondern vielmehr die Frage, ob wir erwarten dürfen, daß sie noch einmal eine historische Rolle spielen wird.

Diese Frage ist nicht mit ein paar Worten abzutun.
 

c. Die historischen Wandlungen der Massenaktion

Wir haben unsere Anschauungen vom Wesen und den Leistungen der Masse aus der Geschichte gewonnen. Das ist der einzige Weg, sie zu studieren.

Aber unsere Gesellschaft ist in stetem und raschem Wechsel begriffen. Was gestern galt, kann heute schon falsch sein. Bietet uns die historische Erfahrung das einzige Mittel, soziale und politische Faktoren zu erforschen, so müssen wir, ehe wir die Ergebnisse solcher Erfahrungen praktisch anwenden, stets untersuchen, ob die Bedingungen der historischen Erfahrung sich nicht geändert haben. Dies gilt auch von dem Gegenstand, mit dem wir uns hier beschäftigen, der spontanen Aktion unorganisierter Massen.

Zwei Momente sollen es sein, die sich in den letzten vierzig Jahren erheblich änderten und die Massenaktionen in dem Sinne, in dem wir hier von ihnen handeln, sehr erschweren: einmal die Wandlungen im Militärwesen, dann die Gewährung von Volksrechten. Seit den Kriegen von 1866 und 1870 datiert das moderne Kriegswesen in Europa. Gerade damals gewann aber auch die Volksmasse in den meisten Staaten Europas dauernde Rechte. Im Jahre 1867 wurde im Norddeutschen Bunde, bald darauf im Deutschen Reiche das allgemeine gleiche Wahlrecht verliehen. Gleichzeitig kamen Koalitionsrecht und Vereins- und Versammlungsfreiheit. Im Jahre 1867 gelangte in Oesterreich ein liberales Regime obenauf. Damals gewann ein großer Teil der englischen Arbeiter das Wahlrecht, 1870 wurde in Frankreich das Kaiserreich gestürzt, die Republik proklamiert, in Italien der Einheitsstaat hergestellt.

Mit alledem wurden neue Verhältnisse geschaffen, die völlig unbekannt waren zu der Zeit, in der die von uns betrachteten spontanen, unorganisierten Massenaktionen ihre großen historischen Wirkungen übten. Sind solche Aktionen heute noch möglich oder doch aussichtsvoll?

Das ist die Frage.

Auf die Wandlungen des Militärwesens hat schon Engels in seiner vielzitierten Vorrede zu den Marxschen Klassenkämpfen in Frankreich hingewiesen: die Zerstörungskraft der Schießwaffen ist enorm gestiegen, dabei ist die Anwendung im Kampfe verwendbarer Waffen mehr als je ein Monopol der Armee geworden. Die Bauart der modernen Städte mit ihren breiten, geraden Straßen macht jeden Barrikadenkampf unmöglich, und die Eisenbahnen ermöglichen die rascheste Zuziehung großer Truppenmassen.

Mit alledem wollte Engels aber bloß die Unmöglichkeit eines bewaffneten Aufstandes erweisen. Das traf nicht jede Massenaktion, denn der bewaffnete Aufstand ist nur eine ihrer Formen, allerdings ihre entscheidendste und wirksamste. Und auch die moralische Wirkung friedlicher Massenaktionen, bloßer Demonstrationen, wird erheblich herabgesetzt, wenn die Regierung stets sicher ist, Manifestationen, die ihr unbequem werden, mit Waffengewalt auseinandertreiben zu können.

Die historische Rolle von Massenaktionen wird durch diese Entwickelung des Militärwesens sicher eingeschränkt, aber doch nicht völlig aufgehoben. und jene Einschränkung selbst war für Engels nur eine vorübergehende.

Er schloß daraus: „die Zeit der Ueberrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei“. Ganz anders gestaltet sich die Sache, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung im Lager der Revolution steht. Dieselbe Entwickelung seit 1866 und 1870, die das Militär der Barrikade gegenüber unwiderstehlich machte, hat es selbst innerlich verändert, hat das preußische System der allgemeinen Wehrpflicht fast in ganz Europa durchgesetzt und die Dienstzeit verkürzt. Der Soldat wird dem Volke näher gebracht und wird immer schwerer gegen dieses zu gebrauchen. Je mehr das Volk von revolutionären Ideen erfüllt ist, desto weniger werden die Söhne des Volkes im Waffenrock zu Polizistendiensten zu gebrauchen sein.

Andererseits verschwindet der Vorteil der rascheren Zusammenziehung des Militärs durch Eisenbahnen dort, wo die Massenaktion nicht auf einzelne Lokalitäten des Reiches beschrankt ist, sondern allenthalben vor sich geht.

Kurz, Engels meinte, eine Revolution würde wieder möglich, ja sie würde von selbst unwiderstehlich, sie wachse den herrschenden Gewalten über den Kopf, sobald die große Masse der Bevölkerung im ganzen Lande revolutionär gesinnt ist. Bis dahin das Wachstum der Bewegung im Gange zu halten, unter Vermeidung jeder entscheidenden Kraftprobe, das war der Schluß, den er aus seiner Auffassung zog.

Sie erklärt keineswegs jede Massenaktion, sondern nur den Barrikadenkampf, wenigstens für absehbare Zeit, als aussichtslos. Gerade unmittelbar ehe Engels starb, kam aber eine neue Form der Massenaktion auf, die weit energischer ist als alle anderen, außer dem Barrikadenkampf, und die unter günstigen Umständen schon sehr große Erfolge erzielt hat, der Massenstreik.

Die Entwickelung des Militarismus beseitigt also nicht die Bedingungen für Massenaktionen, sondern nur die für eine einzelne ihrer Formen: allerdings für ihre kraftvollste.

Viel mehr als vom Militarismus erwarten manche von dem Wirken der Volksrechte für das Aufhören unorganisierter Massenaktionen. Die Organisierung großer Massen der Bevölkerung in politischen und gewerkschaftlichen Vereinen macht rasche Fortschritte. Immer größer ist der Teil des Volkes, der in dauernden Organisationen vereinigt ist. Damit wird spontanen Ausbrüchen der unorganisierten Volksmasse immer mehr der Boden eingeengt.

Das ist richtig. Die Aktion organisierter Massen ist von der unorganisierter ganz verschieden. Vorbedacht und planmäßig geleitet, stellt jene ihre Ziele und die Mittel zu ihrer Erreichung schon von vornherein fest. Sie vermag nicht das Unerwartete völlig auszuschalten, aber sie beschränkt es auf ein Minimum. Sie bringt damit größere Stetigkeit in die Klassenkämpfe der unteren Klassen, geht vernichtenden Niederlagen aus dem Wege, hat freilich auch keine so glänzenden Siege zu verzeichnen wie die spontane Aktion der unorganisierten großen Volksmasse. Jeden Sieg aber, den sie erringt, vermag sie voll auszunutzen. Denn im Gegensatz zur nicht organisierten Masse hat die organisierte ihre Organe, Repräsentanten und Beamte, die dauernd wirken und den Sieg festhalten, während die nicht organisierte Masse die Ausnutzung ihrer Siege immer anderen überlassen muß.

Das Wachstum der proletarischen Kampforganisationen ändert also sicher den Charakter der politischen und ökonomischen Massenkämpfe in hohem Grade. Aber es ist nicht zu erwarten, daß es ihm gelingen wird, die Bedingungen unorganisierter, spontaner Massenaktionen völlig aufzuheben.

Wir haben schon eingangs unserer Ausführungen gesehen, daß die Zahl der Organisierten trotz des raschen Wachstums der Organisationen immer noch nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtmasse des Volkes ausmacht und daß sie auch nach einer Verdoppelung und Verdreifachung ihrer Ausdehnung nur eine Minderheit bilden würden.

Es ist gar nicht daran zu denken, in absehbarer zeit die Gesamtmasse der Bevölkerung zu organisieren; wahrscheinlich kommt es innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt nicht dazu, denn das Kapital sucht immer wieder neue Scharen unorganisierter Arbeiter den organisierten entgegenzusetzen, immer neue Rekrutierungsgebiete nicht organisierter Arbeiter zu erschließen. Noch liefert die Landbevölkerung genug davon, und daneben werden immer mehr ausländische Arbeiter herangezogen. Andererseits wächst der Druck auf einzelne Arbeiterkategorien, zum Beispiel auf die stets zunehmende Zahl von Arbeitern in Staatsbetrieben, der ihre Organisation aufs äußerste erschwert.

Sicher sind die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen des Proletariats noch lange nicht an der Grenze ihres Wachstums angelangt. Eine feste Grenze dafür gibt es überhaupt nicht. Arbeiterschichten, deren Organisierung gestern noch hoffnungslos erschien, können heute durch irgendeine unerwartete Bewegung ein solches Kraftgefühl erlangen, daß sie fähig werden, sich in einer dauernden und starken Organisation zu vereinigen. Aber im allgemeinen kann man sagen, daß die Schwierigkeiten, der Organisierung der Volksmasse neue Gebiete zu erobern, um so mehr wachsen, je mehr Gebiete sie bereits erobert hat. Um so größer ist der Widerstand des Kapitals und des kapitalistischen Staates, die durch das Anwachsen des Feindes geängstigt werden und immer stärkere Mittel des Terrorismus oder der Korruption anwenden, um sein Fortschreiten zu hemmen. Um so geringer aber auch die Energie und Kampffähigkeit in den noch zu erobernden Gebieten. Es ist klar, daß die kraftvollsten und kampffähigsten Arbeiterschichten sich zuerst organisieren. Je länger eine Schicht der Organisierung unzugänglich bleibt, desto schwächer und mutloser wird sie sein, und diese Schwäche und Mutlosigkeit sind nicht bloß Ursachen, sondern auch Wirkungen des Mangels an Organisation. Denn je mehr das Kapital erstarkt, desto tiefer degradiert es alle jene proletarischen Elemente, denen es nicht gelingt, sich zu organisieren.

Andererseits ist freilich zu bemerken, daß der Einfluß einer proletarischen Organisation sich nicht auf ihre Mitglieder beschränkt. Gerade in bezug auf Massenaktionen übt sie eine Wirkung weit über diesen Kreis hinaus. Die Wirkung kann doppelter Art sein. Es kann vorkommen, daß die Organisierten sich um die Nichtorganisierten absolut nicht kümmern, ja daß sie eine undurchdringliche Scheidewand zwischen sich und ihnen ziehen. Damit nehmen sie den nicht organisierten Elementen das letzte bißchen von Kraft und Selbstbewußtsein, das sie besaßen. Spontane Massenaktionen dieser letzteren Elemente werden da auf vereinzelte ohnmächtige Verzweiflungsausbrüche reduziert. Das war eine Zeitlang der Fall in England.

Anders verfahren die organisierten Elemente dort, wo sie sozialistisch denken, wo sie die Klasseninteressen des gesamten Proletariats, nicht bloß ihre beschränkten Berufsinteressen vertreten. Hier suchen die Organisierten die Unorganisierten zu heben, zur Organisation fähig zu machen und unter Umständen zu ihren Aktionen heranzuziehen. Auch diese Methode wirkt spontanen Massenausbrüchen entgegen, aber nicht dadurch, daß die unorganisierten Massen unfähig zu jeder Aktion werden, sondern dadurch, daß jede Aktion, auch wenn Unorganisierte an ihr teilnehmen, von den Organisierten bestimmt und geleitet und von dem Geiste ihrer Disziplin durchtränkt wird, die beste Methode, um auch die Unorganisierten der Organisation zuzuführen.

Indes, wie groß auch der Prozentsatz der Organisierten in der Gesamtmasse der Bevölkerung und wie stark der Einfluß jener auf diese werden mag, dadurch werden nicht spontane Massenaktionen unmöglich, bei denen die Organisation als solche keine Rolle spielt, wenn auch noch so viel Organisierte sich an ihr beteiligen.

In der Hauptsache wird die Organisation in Fällen eingreifen, die vorhergesehen sind. Je umfangreicher eine Organisation, je mehr sie Hunderttausende im ganzen Reiche umfaßt, desto schwerfälliger wird ihr Mechanismus, desto schwerer wird es, daß sie sofort in Aktion tritt, wenn plötzliche, unerwartete Ereignisse die Gesamtmasse der Bevölkerung in die höchste Erregung versetzen und zu unmittelbaren Aktionen drängen. In solchen Situationen erstehen wieder die Bedingungen zu spontanen Massenaktionen, die unter Umständen ein ganzes Regierungssystem hinwegfegen können. Den günstigsten Boden dafür bietet ein Krieg, der ja das Unerwartete und Unberechenbare in Permanenz erklärt. Indes kann auch schon ein Riesenstreik, der das ganze gesellschaftliche Leben stillsetzt, gewaltige Ueberraschungen über Nacht bringen. Die Behörden gießen in solchen Fällen Oel ins Feuer, wenn sie die proletarischen Organisationen, die ihnen gefährlich erscheinen, auflösen, deren Führer verhaften. Um so eher wird die Massenaktion den Charakter einer spontanen, unorganisierten Aktion erlangen, der leicht ein revolutionärer wird.

Das Wachstum der proletarischen Organisationen beseitigt also keineswegs die Möglichkeit oder auch nur die Wahrscheinlichkeit umfangreicher spontaner Massenaktionen für alle Zeiten, sondern schränkt sie bloß in normalen Zeiten erheblich ein. und das gleiche gilt vom allgemeinen Wahlrecht. Auch dies soll spoutanen Massenaktionen entgegenwirken, da es den Massen Gelegenheit gibt, in legaler, geregelter Weise ohne jede Gefährdung für sich oder andere auf das wirksamste gegen alle politischen Institutionen und Personen vorzugehen, durch die sie sich bedrängt fühlen.

Darin liegt wohl ebenfalls viel Wahres. Indessen würden auch durch diesen Faktor ebenso wie durch die Verbreitung der Organisation die Veranlassungen zu spontanen Massenaktionen nur eingeschränkt, nicht aufgehoben. und noch weit weniger als die Organisation kann das Wahlrecht in unerwarteten, plötzlichen Situationen spontane Aktionen überflüssig machen. Vermag eine Riesenorganisation unter Umständen nicht sofort für jedes Ereignis des Tages oder gar der Stunde eine Losung bereitzuhalten, so ist es von vornherein ausgeschlossen, daß das Wahlrecht auch nur jeder Erregung der Massen im Jahre Ausdruck gibt. Die Wahlperioden sind lang, die Auflösung der Vertretungskörper in der Zwischenzeit liegt meist im Belieben der Regierungen, und die werden sich hüten, ohne Not gerade die Zeiten stärkster Volkserregung zu einem Appell an die Wähler zu benutzen. In den Zwischenzeiten zwischen den Wahlen ist durch das allgemeine Wahlrecht der Drang nach Massenaktionen keineswegs aufgehoben.

Das Wahlrecht, wie es in den modernen Staaten besteht, gibt aber selbst während der Wahl nicht der gesandten Masse der Bevölkerung die Gelegenheit, ihre Stimme in die Wagschale zu werfen. Die Frauen, die bei spontanen Massenaktionen in der Regel eine sehr energische Rolle spielen, sind bisher mit vereinzelten Ausnahmen, noch überall vom Wahlrecht ausgeschlossen. Jedoch auch ein großer Teil der Männer hat es nicht. In England ist das Wahlrecht heute noch ein beschränktes, und der bürgerliche Radikalismus denkt trotz aller schönen Redensarten nicht daran, es zu erweitern. Die ärmsten Teile der Bevölkerung sind vom Stimmrecht ausgeschlossen. In ganz Großbritannien besaßen es 1906 nur 16,64 Prozent der Bevölkerung, in Deutschland dagegen 22 Prozent. Hätte England das deutsche Wahlrecht zum Reichstag, so würde es statt 7.300.000 Wahlberechtigte 9.600.000 zählen, 2.300.000 mehr. So viele Männer schließt es vom Wählen aus, die bei Massenaktionen auf der Straße nicht zu den letzten gehören würden.

Indes auch beim deutschen Reichstagswahlrecht kann sich keineswegs jeder Mann betätigen, der bei einer Massenaktion mitwirken würde. Das Wahlrecht ist nicht nur ein höchst ungleiches Pluralwahlrecht zuungunsten des industriellen Proletariats durch die wachsende Verschiedenheit in der Bevölkerungszahl der Wahlkreise geworden, es schließt auch einen großen Teil der männlichen Bevölkerung vom Wahlrecht aus. Während zum Beispiel England das Wahlalter mit dem 21. Jahre beginnen läßt, setzt die deutsche Reichsverfassung dafür das 25. Lebensjahr fest.

Im Jahre 1900 zählte die deutsche Reichsstatistik 2.026.096 Männer im Alter von 21 bis 25 Jahren. Seitdem ist ihre Zahl noch bedeutend gewachsen. Es ist hauptsächlich das industrielle Proletariat, das durch deren Ausschluß vom Wahlrecht benachteiligt wird. Bei der Zählung von 1907 standen von je 10.000 männlichen Erwerbstätigen der betreffenden Berufsabteilung in der Landwirtschaft 887, in der Industrie dagegen 1.314 im Alter von 21 bis 25 Jahren. Dafür waren bei der Landwirtschaft von 10.000 Erwerbstätigen 7.089 über 25 Jahre alt, von der Industrie nur 6.774.

Noch schlimmer wird das Verhältnis, wenn wir nicht Industrie und Landwirtschaft, sondern Selbständige und Lohnarbeiter miteinander vergleichen. Von je 10.000 männlichen Selbständigen (in Landwirtschaft, Industrie und Handel) standen 159 im Alter von 21 bis 25 Jahren, dagegen von 10.000 männlichen Lohnarbeitern 1.501, also im Verhältnis fast zehnmal so viel. Die absoluten Zahlen sind noch drastischer. Von den männlichen Selbständigen waren 21 bis 25 Jahre alt 70.555. Von den männlichen Lohnarbeitern 1.712.981, also 24mal so viel.

Neben diesen vom Wahlrecht ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten kommen auch noch die Ausländer in Betracht, die am Wahlakt nicht teilnehmen, von Massenaktionen auf der Straße dagegen nicht aufgeschlossen werden können. Ihre Zahl ist besonders groß in dem demokratischsten Staate Europas, der Schweiz, wo sie schon 1900 fast 12 Prozent der Bevölkerung bildeten, 1910 15 Prozent. Ami stärksten sind sie in den größeren Städten. In Zürich machten sie 1909 bereits fast ein volles Drittel der Bevölkerung aus. Und ihre Zahl wächst rasch. 1888 betrugen sie dort noch nicht ein Viertel der Bevölkerung (22 Prozent). Dabei überwiegt unter ihnen das männliche Element. Machten die Ausländer überhaupt 1909 32,67 Prozent der Bevölkerung aus, so die männlichen 34,58 Prozent der männlichen Bevölkerung. Mehr als ein Drittel der Männer sind in Zürich vom Wahlrecht ausgeschlossen, fast ausschließlich industrielle Lohnarbeiter! Noch größer als in Zürich ist die Zahl der Ausländer Basel (1910 38 Prozent) und in Genf (1910 41 Prozent der Gesamtbevölkerung). Man begreift unter diesen Umständen, warum bei den Wahlen die Arbeiterbevölkerung der Schweiz lange nicht so sehr zur Geltung kommt und sich nicht so kraftvoll äußert wie bei ihren Massenaktionen auf der Straße, zum Beispiel bei Umzügen am 1. Mai.

Indes, selbst wenn es gelänge, ein Wahlgesetz zu erlangen, das jedem erwachsenen Bewohner des Landes ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung das Stimmrecht verziehe, würde das Proletariat dabei doch nicht seine volle Kraft zu entfalten vermögen.

Die Kraft des Proletariats liegt in seiner großen Zahl, in seiner Masse. In Massen vereinigt, entfaltet es sein größtes Selbstbewußtsein. Vereinzelt fühlt sich der Proletarier schwächer, ist er leichter zu beeinflussen. An die Wahlurne aber tritt er als einzelner heran. Bei diesem Akt vermag man ihn viel leichter einzuschüchtern oder zu bestechen, als bei einer Massenaktion, wenn nicht die Zugehörigkeit zu einer starken Organisation ihm Kraftgefühl und moralischen Halt verleiht. Das geheime Wahlrecht mildert etwas diesen Mißstand, hebt ihn aber nicht völlig auf, wie die Erfahrungen in Amerika, in England, in Frankreich zeigen. Auch in Deutschland können wir vom Wahlterrorismus ein Lied singen. Wenn bei den Reichstagswahlen die Wahlkorruption noch keine solche Rolle spielt wie in mehr demokratischen Staaten, so rührt dies bloß von der großen Machtlosigkeit des Reichstags her. Aber allenthalben wachsen die Anstrengungen der besitzenden Klassen, durch alle Mittel der Einschüchterung, Erpressung, Lüge und Bestechung den Zuzug der Massen zur Sozialdemokratie zu hemmen und die Schwächeren, Einfältigeren oder Furchtsameren unter ihnen in ihre Gefolgschaft zu zwingen.

Wahlsiege der Sozialdemokratie werden dadurch nicht unmöglich; sie werden dadurch vielmehr immer glorreicher und eindrucksvoller, denn die Größe und Bedeutung des Sieges wird nicht nach der Beute bemessen, die der Sieger macht, sondern nach der Stärke des Feindes, den er zu überwinden hatte.

Aber je mehr die Anstrengungen unserer Gegner wachsen, die Wahlergebnisse durch Tücke und Gewalt zu fälschen, um so weniger drücken die Stimmenzahlen und gar die Mandate, die die Sozialdemokratie erringt, das volle Maß der aus, über die das Proletariat verfügt, und um so mehr kann es dies volle Maß nur bei spontanen Massenkundgebungen äußern.

Proletarier, die sich als Streikbrecher gebrauchen lassen oder gegen die Sozialdemokratie stimmen, tun dies nicht, weil sie zufrieden sind, weil es ihnen gut geht, weil sie die bestehenden Verhältnisse aufrechterhalten wollen, sondern weil sie zu schwach und mutlos sind, weil sie an sich und ihre Klasse nicht glauben, weil sie vermeinen, durch Ducken im Moment weiter zu kommen, und weil sie die Bedeutung der Aktionen von Partei und Gewerkschaft nicht begreifen. Gerade diese Elemente, denen noch keine Aufklärung geleuchtet, keine Organisation Halt und Stetigkeit verliehen hat, sind in der Regel die bedrücktesten und geschundensten. Geraten sie in eine Massenaktion, die ihnen das Gefühl von Kraft verleiht und sich direkt gegen eine sie bedrückende Institution oder Person wendet, was sie ohne weiteres begreifen, dann tun sie leicht nicht nur mit, sondern werden am ehesten dabei zur Ekstase geneigt sein.

In Momenten großer, nationaler Erregung können daher spontane Massenaktionen in weit höherem Grade als eine Wahlkampagne die gesamte Masse des arbeitenden Volkes, organisierte und unorganisierte, Wähler und Nichtwähler, Sozialdemokraten und Mitläufer bürgerlicher Parteien zu einer einzigen großen, wuchtigen Phalanx vereinigen.

Freilich wird eine solche Aktion an Massenhaftigkeit einer Wahlaktion nur dann überlegen sein, wenn sie das ganze Reich umfaßt. Das war bisher kaum jemals der Fall. Die großen Massenaktionen, die von 1789 bis 1871 historische Wirkungen hervorriefen, waren stets auf einzelne Lokalitäten – in der Regel die Hauptstadt – beschränkt.

Die Wahlaktion bei allgemeinem Wahlrecht ist in den modernen Großstaaten die erste gleichzeitige Aktion des gesamten Volkes in allen Teilen des Staates. Wie viele Proletarier auch von dieser Aktion noch ausgeschlossen sein mögen, es wurde doch ehedem nie eine so große Masse durch irgendeine Massenaktion anderer Art gleichzeitig in Wirksamkeit gebracht. Ganz abgesehen von den Rechten, die das Gesetz den Wählern verleiht und die ihre Aktion mehr oder weniger politisch bedeutungsvoll machen, ist schon durch diese Tatsache allein in den letzten Jahrzehnten der Wahlkampf die gewaltigste Massenaktion des Proletariats geworden, und er wird es bleiben, abgesehen von den seltenen Momenten, in denen die Massen des gesamten Volkes im ganzen Reiche gleichzeitig durch irgendein Ereignis zur Siedehitze erregt werden, ohne daß eine Wahlkampagne als Sicherheitsventil der Explosion vorbeugt. Neben dem modernen Verkehrswesen ist es gerade das allgemeine Wahlrecht selbst, das die Bedingungen derartiger Massenaktionen schafft, indem es selbst in den enferntesten Winkeln des Reiches politisches Interesse wachruft und die Zusammenschweißung großer Massen in einem ausgedehnten, den ganzen Staat umfassenden Parteiorganismus fördert, in dem ebenso partikularistische wie zünftige Absonderungen überwunden sind und der die Gesamtmasse der Wähler in allen Teilen des Landes aufs höchste beeinflußt.

Damit werden spontane Massenaktionen von einem Umfang und einer Gewaltigkeit möglich, wie sie bisher unerhört waren.

Das allgemeine Wahlrecht beseitigt also weder die Möglichkeiten noch den Antrieb zu Massenaktionen. Es kann nur, ebenso wie die Organisation der Massen, den Boden für manche Aktionen dieser Art einengen, die Gelegenheiten, die dazu führen, verringern, aber nicht sie völlig beseitigen.

Zu einer völligen Beseitigung spontaner Massenaktionen könnte es nur unter der Voraussetzung kommen, daß es dem allgemeinen Wahlrecht und der proletarischen Organisation gelänue, die Grundursache zu beseitigen, die in der kapitalistischen Produktionsweise zu derartigen Massenaktionen drängt, die stete Tendenz nach Verelendung der Massen, die ununterbrochen wirkt, ununterbrochen die Massen erbittert, so daß es nur großer, erregender Veranlassungen bedarf, sollen sie in heftigen Aktionen den Druck abzuwälzen suchen, der auf ihnen lastet. Die kapitalistische Produktionsweise erzeugt mit Notwendigkeit in der Kapitalistenklasse den Drang, die Masse des Volkes immer mehr herabzudrücken, sie, wie das Wort lautet, das man dafür geprägt, zu verelenden. Ebenso notwendig ersteht die Gegenaktion des Proletariats, der Kampf gegen das Elend. Darauf beruht die Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes, der um so erbitterter wird, je länger er dauert, je kampffähiger im Kampf und durch den Kampf die Gegner werden und je gewaltiger die Unterschiede ihrer Lebenslage, je mehr sich die Kapitalisten durch die wachsende Ausbeutung über das Proletariat erheben.

Nicht immer wächst dabei wirklich dessen Elend, wohl aber seine Erregung, sein Bedürfnis, den Druck abzuwälzen, den es immer schmerzlicher empfindet.

Dabei erzeugt jedoch die kapitalistische Produktionsweise auch mit Naturnotwendigkeit einzelne Situationen, in denen das Elend der Volksmasse akut wird. Das sind Situationen, in denen alle Bedingungen zu großen Massenaktionen zusammentreffen und diese oft genug unvermutet über Nacht von selbst in die Höhe schießen. Derartige Situationen werden geschaffen durch Krisen mit ausgedehnter Arbeitslosigkeit, Steuerdruck, Teuerung und Krieg.

Wenn in den Jahrzehnten nach 1871 spontane Massenaktionen keine so große historische Rolle spielten wie in den vorhergehenden hundert Jahren, so lag dies nicht ausschließlich daran, daß damals den Volksmassen in ganz Westeuropa politische Rechte und die Möglichkeiten der Organisation gegeben wurden. Es lag vielmehr auch und vorzugsweise an den eigenartigen ökonomischen Verhältnissen, die seitdem eintraten und die eine Zeitlang den Glauben erwecken konnten, als seien die verelendenden Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise und die besonderen Erzeuger der Massenerregung, Teuerung, Krise, Krieg, völlig überwunden.

Bald nach 1871 setzte die überseeische und russische Lebensmittelkonkurreuz ein, die die Preise der Lebensmittel zum Fallen brachte. Das wurde m den siebziger und achtziger Jahren noch paralysiert durch die ungeheure damals herrschende Krise, die auch noch in verschiedenen Ländern Unruhen erzeugte – Krawalle in Wien 1884, die Kämpfe am Trafalgar Square in London 1887 usw. Mit dem Beginn des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts begann dann eine Aera der Prosperität, nur durch kurze Krisen unterbrochen, die ein Steigen der Löhne herbeiführte, indes die Lebensmittelpreise sanken oder doch nicht dauernd stiegen. Und dabei blieb Europa vierzig Jahre lang von den Schrecken und Verwüstungen eines Krieges völlig verschont.

Wir alle wissen jetzt, daß diese Hera nicht der Anfang einer dauernden Umwandlung des Kapitalismus zu milderen Formen war, sondern nur ein kurzes Zwischenspiel, durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände herbeigeführt, das seit einigen Jahren wieder allen Schrecken des düstern Dramas der kapitalistischen Ausbeutung Platz macht.

Die Hauptursache der anscheinenden Milderung der Verhältnisse. Seit 1871 hatte die Ausdehnung des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten gebildet, wodurch ein ungeheures Gebiet unbebauten Bodens der Welt des Kapitalismus erschlossen wurde, für das praktisch noch nicht das Privateigentum am Boden galt. Diese kommunistische Milderung des Kapitalismus konnte aber unter dessen Herrschaft nicht ewig dauern. Heute ist so gut wie aller Boden m den Vereinigten Staaten Privateigentum und damit die verelendende Tendenz des Kapitalismus wieder in ihre vollen Rechte eingesetzt.

Die Preise der Lebensmittel sind seit einem halben Dutzend Jahre in steter Steigerung begriffen, und diese Steigerung droht eine dauernde zu sein.

Die preissteigernde Wirkung des Privateigentums am Boden in Amerika wird noch verstärkt durch die Folgen des Raubbaues in Rußland und Amerika, durch die Zunahme von Verbänden der Produzenten und Händler, vielleicht auch durch die Revolutionierung der Goldproduktion. Technische Fortschritte und das Auffinden neuer Goldlager haben die Produktionskosten und damit den Wert des Goldes möglicherweise rascher gesenkt als den Wert der Lebensmittel, da die Produktivität der Landwirtschaft infolge der Hemmungen des Privateigentums am Boden, der Erhaltung des technisch rückständigen Kleinbetriebs und der Landflucht der Arbeiter nur langsam steigt. Nimmt man zu alledem noch die wachsenden Schutzzölle sowie die Steuererhöhungen der letzten Jahre, dann hat man so ziemlich die Ursachen der Teuerung beisammen. Sie alle sind dauernder Natur. Auch auf die Agrarzölle und Steuererhöhungen werden die herrschenden Klassen nicht freiwillig verzichten, sie sind die notwendige Folge des imperialistischen Kolonial- und Rüstungsfiebers das sich des Kapitalismus bemächtigt hat.

Dieser ist in den letzten vierzig Jahren Herr der ganzen Welt geworden, zahlreiche Industrien erstehen außerhalb Europas, es wachsen wieder die Krisen, und immer stärker wird der Drang der einzelnen Industriestaaten, sich Märkte, Einflußgebiete und Rohstofflieferanten zu sichern; es ersteht auf der einen Seite die moderne Zollpolitik, auf der anderen der Imperialismus, das Wettrüsten zur See, wachsender Steuerdruck, ununterbrochene Kriegsgefahr, die durch das Erwachen des Orients noch gesteigert wird.

Damit verschärfen sich nicht nur die Klassengegensätze und Klassenkämpfe, damit erstehen auch wieder in höherem Maße als seit langem die Bedingungen für ungeheure, spontane Massenaktionen. Es ist eine besondere Ironie der Geschichte, daß die neue Periode der Massenaktionen für Westeuropa in diesem Jahre (1911) von England eingeleitet wurde, dem Land, das man durch proletarische Organisation und demokratische Rechte mehr als jedes andere vor solchen Aktionen gefeit glaubte, und das in dieser Beziehung von allen Verehrern einer friedlichen Entwickelung als Musterbild gepriesen wurde.

Krie,g und Teuerung waren die beiden großen Hebel der Massenaktionen in der französischen Revolution gewesen. Teuerung und Kriegsgefahr, vielleicht bald Krieg selbst in noch verheerenderer Weise als vor hundert Jahren, sind wieder die Signatur unserer Zeit geworden. Damit versprechen auch spontane Massenaktionen wieder eine große historische Rolle zu spielen. Trifft das ein, dann wird die politische und soziale Entwickelung erheblich an Stetigkeit verlieren, wieder sprunghafter, unberechenbarer werden; sie kann uns überraschende, gewaltige Siege, jedoch auch zeitweise schmerzliche Niederlagen bringen.

Aber wie machtvoll man sich auch die Massenaktionen vorstellen mag, die aus dieser Situation entspringen können, sie werden nicht mehr völlig den Charakter tragen, den sie ehedem hatten. Die vierzig Jahre politischer Volksrechte und proletarischer Organisation können nicht spurlos vorübergegangen sein. Die Zahl der organisierten und aufgeklärten Elemente in der Masse ist zu groß geworden, als daß sie sich nicht auch bei spontanen Ausbrüchen geltend machen müßte, wie plötzlich diese auch kommen mögen, wie gewaltig die Erregung, der sie entspringen, wie sehr auch jede planmäßige Leitung bei ihnen ausgechaltet sein mag.

Es erscheint ausgeschlossen, daß solche Ausbrüche je wieder in den Ländern mit starker Sozialdemokratie und starken Gewerkschaften einen sinnlosen oder reaktionären Charakter annehmen, wie etwa die Gordonunruhen in England 1780 oder die spanische Erhebung 1808. Selbst in Rußland hat das sozialistisch denkende Proletariat bereits 1905 Pogrome überall unmöglich gemacht, wo es dominierte. Sie wurden nur dort möglich, wo die Revolution niedergeschlagen war.

Aber nicht nur in der Steckung des Zieles, sondern auch in der Gestaltung der Aktionsmethoden muß sich der Einfluß der organisierten und überlegenden Elemente auf die unorganisierten, von bloßen Instinkten und Bedürfnissen getriebenen Massen stark geltend machen, sie von zwecklosem Tun, aussichtslosem Beginnen abhalten, sie vor ausgestellten Fallen, tückischen Provokationen warnen, sie ihre Aktion rechtzeitig abbrechen lassen, wenn diese zu scheitern droht.

So dürfen wir hoffen, daß Mißerfolge, wie sie spontanen Massenaktionen so häufig beschert sind, nicht mehr so vernichtende Formen annehmen, wie es ehedem meist der Fall gewesen.

Ist trotzdem eine Niederlage eingetreten, dann wissen Arbeiter, denen das Leben in der Organisation Besonnenheit, Disziplin und Zuversicht zu ihrer Sache anerzogen hat, den Mißerfolg standhafter zu tragen, in geordnetem Rückzug, ohne Panik, ohne Verzweiflung, und sich bald wieder zu sammeln und zu verständigen. Auch das muß auf die unorganisierte Masse zurückwirken und ihren moralischen Halt vergrößern.

Gelingt aber die Massenaktion, tritt sie mit einer so überwältigenden Wucht, so großer Erregung und Rücksichtslosigkeit der Massen, so ungeheurem Umfang ihres Bereichs, so überraschender Plötzlichkeit bei so ungünstiger Situation unserer Gegner auf, daß sie unwiderstehlich wirkt, dann kann die Masse heute den Sieg ganz anders ausnutzen als ehedem. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Siege der organisierten Masse, im Gegensatz zu denen der nichtorganisierten, nicht kurzlebig oder nur für andere erfochten sind, daß sie ihre Organe hat, ihre Abgeordneten und Beamten, die durch Verträge, Gesetze usw. den Sieg für sie festlegen. Die Interessen der organisierten und der nichtorganisierten Masse sind aber die gleichen. Die Organe der Sozialdemokratie und der von sozialistischem, nicht zünftigem Geiste getragenen Gewerkschaften wirken für sie alle. Wo diese Organisationen Wurzel gefaßt haben, da sind die Zeiten vorbei, in denen das Proletariat durch seine Siege in spontanen Massenaktionen nur für einzelne, gerade in der Opposition begriffene Fraktionen seiner Gegner die Kastanien aus dem Feuer holte. Es wird sie künftighin selbst verzehren können.

Das Zusammenwirken organisierter und nichtorganisierter Klassen in großen, plötzlichen Aktionen kann unerhörte, bisher noch unbekannte Formen annehmen. Die letzten Unruhen in England haben bereits sehr eigenartige Erscheinungen gezeitigt. Aber darüber läßt sich vorher gar nichts sagen.

Je mehr umfassende, spontane Massenaktionen wieder zu einer historischen Rolle gelangen sollten, desto mehr käme ein völlig unberechenbares Element in unser politisches Leben, das für uns alle die größten Ueberraschungen, freudiger wie peinlicher Natur, mit sich brächte. Die Entwickelung nähme wieder einen katastrophalen Charakter an, wie sie ihn von 1789 bis 1871 in Europa hatte.

Ob uns das unangenehm ist oder nicht, würde an der Sache nichts ändern.

Mit der sogenannten Marxschen Katastrophentheorie hat diese Auffassung nichts zu tun. Marx hat nie eine solche Theorie aufgestellt. Ja, er nahm sogar an, in einem Lande wie England könne das Proletariat ohne Katastrophe zur politischen Macht gelangen.

Ueber die Formen, in denen sich der proletarische Klassenkampf in seinen verschiedenen Phasen bewegen wird, hat weder Marx noch haben seine Schüler eine besondere Theorie aufgestellt. Wenn wir für die nächste Zeit die politische und soziale Situation schwanger mit Katastrophen sehen, entspringt dies aus unserer Auffassung dieser besonderen Situation, nicht aus einer allgemeinen Theorie.

Geht aber aus der Besonderheit der Situation die Notwendigkeit einer besonderen, einer neuen Taktik hervor? Einige unserer Freunde behaupten das. Sie wollen unsere Taktik revidieren.

Eingehender ließe sich darüber erst reden, wenn sie mit bestimmten Vorschlägen aufträten. Das ist bis heute nicht geschehen.

Vor allem müßte man wissen, ob man neue taktische Grundsätze oder neue taktische Maßnahmen verlangt. Besondere Situationen erheischen sicher besondere Maßnahmen. Aber die kann man nicht vorher festsetzen, sie müssen sich aus der jeweiligen Situation ergeben. Gilt das schon im allgemeinen, so gilt das am meisten für Ereignisse, die, wie spontane Massenaktionen, völlig unberechenbar sind, von denen man gar nichts Bestimmtes voraussagen kann, bei denen nicht nur Art und Zeitpunkt des Eintretens, sondern das Eintreten selbst völlig ungewiß sind.

Solchen Ereignissen gegenüber kann man nichts tun, als danach trachten, daß sie uns nicht völlig unvorbereitet treffen. Wir werden ihnen um so mehr gewachsen sein und in jedem Moment um so eher und am zweckmäßigsten handeln, je stärker und aktionsfähiger unsere Organisation und je klarer unsere Einsicht, je besser wir Staat und Gesellschaft begreifen, je genauer informiert wir über die Absichten und Machtmittel unserer Gegner wie über die Stimmungen und Machtmittel des Proletariats sind.

Ausbau der Organisation, Gewinnung aller Machtpositionen, die wir aus eigener Kraft zu erobern und festzuhalten vermögen, Studium von Staat und Gesellschaft und Aufklärung der Massen: andere Aufgaben können wir uns und unseren Organisationen auch heute noch nicht bewußt und planmäßig setzen. Ueber das unberechenbare können wir nachdenken, nicht aber von vornherein taktische Bestimmungen treffen.

Jene taktischen Aufgabe, die wir uns heute setzen können und müssen, bedeuten nichts weniger als eine neue Taktik, sondern eine Fortsetzung und Bekräftigung derjenigen, die unsere Partei seit mehr als vier Jahrzehnten von Sieg zu Sieg geführt hat.


Fußnote

1. Unter einer organisierten Masse versteht Le Bon nicht das, was man gewöhnlich darunter versteht, eine Masse, die durch die Bande einer Organisation zusammengehalten wird, sondern eine Masse, die von dem gleichen Geiste beherrscht wird, im Gegensatz zu einer Menge Individuen, die, von den verschiedensten Interessen und Motiven beseelt, sich zufällig in einer Lokalität zusammenfinden.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011