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Denselben Gegenstand behandelte in anderer Weise Eckstein in seiner Besprechung von M. Beers Geschichte des Sozialismus in England, in der Neuen Zeit (XXXI, 1, S. 860 ff.). Er kam auf den schon eingangs unserer Schrift erwähnten Massenstreik von 1842 zu sprechen und untersuchte, woran dieser gescheitert war. Als eine der wichtigsten Ursachen davon betrachtete er den Mangel an Organisation und Disziplin und das veranlaßte ihn zu einem bemerkenswerten Vergleich zwischen organisierter und unorganisierter Masse.
Er führte aus:
Es wird manchmal, besonders von den Anarchisten, so hingestellt, als ob die unorganisierte Masse etwas Demokratischeres wäre als die Organisation, in der es stets Ueber- und Unterordnung gibt. Eine durchaus oberflächliche Auffassung, die von den Tatsachen der Geschichte auf Schritt und Tritt widerlegt wird. Unorganisierte Masse bedeutet die absolute, wenn auch stets unsichere Herrschaft des glänzenden Redners und Herdentum der Masse selbst. Unter der Masse mögen noch so viele klardenkende, ja selbst geniale Männer und Frauen sein, die bei sachlicher Beratung wohl imstande wären, ihre Meinung zu begründen und zu verfechten; in der großen Versammlung der Unorganisierten Masse gilt nur der, der durch Appell an die allen gemeinsamen Gedanken und besonders Gefühle die Massen mit sich zu reißen versteht. Eine sachliche Diskussion ist hier kaum möglich, und so bildet sich der Typus des „beliebten“, des „vergötterten“ Redners aus, wie es in der Chartistenbewegung ein Vincent, ein O’Connor, ein Stephens waren, denen die Masse zu vertrauen sich gewöhnt, denen sie blindlings folgt. Wird ihr dieser Führer genommen, dann bleibt sie hilflos, weil sie nicht geernt hat, selbst für sich zu sorgen und zu denken.
Noch nicht nur für die Masse bedeutet der Mangel an Organisation in stürmischen Zeiten die größte Gefahr, sondern auch für den Führer und dadurch indirekt wieder für die ganze Bewegung. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Versammlung gewählter Vertrauensmänner, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind und wissen, daß ihr Votum für sie und andere die Verpflichtung zu bestimmten Handlungen bedeutet, und einer bunt zusammengewürfelten Masse unorganisierter, deren Beifall nicht der Ausdruck eines Entschlusses ist, sondern eines Gefühls. Der Redner, der dem nicht klar bewußten Sehnen und oft nur heimlichen Wünschen seiner Hörer den klarsten Ausdruck gibt, findet den größten Beifall; aber dieser Beifall bedeutet keineswegs, daß die Versammlungsteilnehmer nun auch entschlossen sind, das in Wirklichkeit umzusetzen, was der Redner so lebendig vor ihnen ausgemalt. Wenn Pfarrer Stephens seine Hörer zum bewaffneten Aufruhr und zur Brandleggung aufrief, umtoste ihn der Beifall, weil er dem, was lange aufgespeicherter Haß und Rachedurst der Erniedrigten und Ausgebeuteten kaum zu wünschen wagten, was sie sich oft kaum selbst zu erhoffen eingestanden, brutal deutlichen Ausdruck verlieh, weil er es in alle Winde hinausschrie. Aber deshalb waren diese armen Töpfer oder Weber, diese verelendeten Spinnermädchen wenigstens in ihrer überwiegenden Mehrheit doch weit davon entfernt, nun auch wirklich zu Mord und Brand überzugehen. Aber der Jubel der Menge wirkt berauschend. Der Redner, den nicht ein starkes Verantwortlichkeitsgefühl zurückhält, überbietet sich immer mehr, wird immer mehr zum Demagogen und hält dabei den tosenden Beifall, der ihn begrüßt und der seiner Rede folgt, bald für den Ausdruck des festen Willens der Masse, auch zu tun, was er so begeistert predigt. Auch hierfür bietet jene erste Periode des Chartismus in Pfarrer Stephens ein lehrreiches Beispiel. Nie hätte er vor einer Versammlung gewählter Vertrauensmänner, die sich der Verantwortlichkeit für ihr Votum bewußt waren, solch blutrünstige Reden zu halten gewagt wie die, mit denen er oft unter jubelnder Begeisterung der Menge seine Hörerschaft in Versammlungen unter freiem Himmel zu haranguieren pflegte und die er dann vor den Geschworenen zu verleugnen suchte. [1] Noch deutlicher tritt dieser Zwiespalt bei O’Connor hervor, der bei den Konferenzen der chartistischen Führer besonnen sprach und die Aussichten und Möglichkeiten der verschiedenen Kampfmittel gegeneinander abwog, in der Massenversammlung aber, umbraust von dem Jubel seiner begeisterten Verehrer, die ihn als „den Löwen des Chartismus“ begrüßten, sich nur zu oft zu revolutionären Kraftworten und blutigen Drohungen hinreißen ließ, deren Mißverhältnis zu den wirklichen Kräften er bei ruhigem Blut wohl ermessen konnte. Und so kam das Verhängnis. Von der Macht seiner eigenen Persönlichkeit berauscht, glaubte er nur rufen zu müssen, Uni Hunderttausende zum Sturm auf das Parlament um sich zu versammeln. Am 10. April 1848 kam es zur Probe, und statt der erwarteten Hunderttausende kamen etwa 50.000, die nicht gewaltsam nach dem Parlament zogen, sondern ruhig wieder auseinandergingen.
Schon nach dein Verebben der ersten chartistischen Hochflut würden sich die Führer dessen bewußt, wie unbedingt notwendig für das Gedeihen der Bewegung eine feste Organisation sei, und dieser Frage galten daher ihre eifrigsten Bemühungen. Eine ganze Reihe von Organisationsentwürfen wurde ausgearbeitet, und am 20. Juli 1840 trat eine Konferenz von 23 Delegierten aus Mittel- und Nordengland zur Beratung über das Statut zusammen. Ein Entwurf O’Briens wollte Wahlvereine zur Grundlage der Organisation machen. Dr. M’Douall wollte die chartistischen Mitglieder der Gewerkschaften in fachlich gegliederten Vereinen zusammenfassen, um auf diese Weise in den Gewerkschaften festen Fuß zu fassen. Lovett und Collin schlugen (außerhalb der Konferenz) vor, die durch das Vereinsgesetz gebotenen Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, daß neben den eigentlichen politischen Vereinen Bildungsvereine gegründet werden sollten, deren Zentralisation die Gesamtheit der chartistischen Organisationen zusammenfassen sollte. Das von der erwähnten Konferenz angenommene Statut vereinigte die Chartisten von Großbritannien in einem „Allgemeinen Chartistenverein“ (National Charter Association), der in jeder Stadt Zweigvereine nach den Stadtteilen und -vierteln und in diesen wieder Zehnergruppen umfassen sollte. Der einheitliche Vereinsbeitrag von 1 Penny pro Woche sollte in wöchentlichen Zusammenkünften der Zehnergruppen eingehoben werden. Die Mitglieder des Stadtviertels sollten wöchentliche Vortragsabende veranstalten. [2] Es war also eine streng zentralistische Organisationsform vorgesehen, die auch nach Kräften durchgeführt wurde, doch schlossen sich im Anfang kaum 20.000 Genossen der Organisation wirklich an. Bloß zwei Jahre später konnte die junge Organisation keinesfalls gefestigt genug sein, um die ungeheure Belastungsprobe eines Generalstreiks unter so verzweifelten Umständen auf sich nehmen zu können. Aber in der Zwischenzeit bewährte sich die Organisation vorzüglich, und wenn die zweite Woge des Chartismus so viel höher stieg als die erste, wenn die Erfolge der Bewegung bis zu jenem unglückseligen Generalstreik so viel größer waren als in den Jahren 1838/39, dann verdankte das die Bewegung mit in erster Linie ihrer festeren, strafferen Organisation; und ihr war es auch zu danken, daß sich nach dem fürchterlichen Zusammenbruch doch noch ein fester Kern erhielt, ein Kristallisationszentrum für künftige Neuorganisation, ein Ausgangspunkt für neuen Aufschwung.
So bestätigt auch die Geschichte des Chartismus die Erfahrung aller revolutionären Bewegungen, daß für ihren dauernden Erfolg das erste und notwendigste Erfordernis eine feste Organisation der Kräfte ist. Schon in der englischen Revolution sehen wir, wie jede auf die Revolutionsbühne tretende Partei sich sofort ihre feste Organisation schafft und erst auf diese gestützt ihren politischen Einfluß geltend zu machen vermag. Die Presbyterianer hatten ihre Organisation in ihrer Kirchenverfassung und im Parlament, die Independenten ihre noch straffere und hauptsächlich schlagfertigere Organisation in der Armee. Und als sich die Independenten spalteten, da fanden die „Granden“ im Offizierkorps, die „Leveller“ in den von den Truppen gewählten „Agitatoren“ ihre organisatorische Vertretung.
Von welch ungeheurer Bedeutung für die Männer der französischen Revolution der Rückhalt an der mächtigen Organisation der Jakobinerklubs war, ist wohl zu bekannt, um hier ausführlicher dargetan werden zu müssen. Erkannte doch auch die Reaktion diese Bedeutung indem es eine ihrer ersten Handlungen nach ihrem Siege war, daß sie ihren Gegnern die stärkste Waffe aus der Hand schlug, den Jakobinerklub sprengte.
Doch noch eindringlicher als der Erfolg der Organisation für das Bürgertum spricht das Mißgeschick, das bisher der Mangel an Organisation für das Proletariat mit sich gebracht hat. Noch deutlicher als am Beispiel der Chartisten tritt dies bei den französischen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts zutage. In den Julitagen des Jahres 1830 hatte das Volk von Paris, Proletarier und Kleinbürger, in blutigem Kampf auf den Barrikaden das feudalklerikale Regime der Bourbonen gestürzt. Kaum war das geschehen, als die Großbourgeoisie ihre wohlorganisierte Truppenmacht von 60.000 Nationalgardisten aufmarschieren ließ; die unorganisierte Masse war um alle Früchte ihres teuer erkauften Sieges geprellt.
Am 24. Februar 1848 hatte das arbeitende Volk von Paris, wieder in opferreichem Kampfe, das Königtum gestürzt, und nun wollte es sich nicht mehr um die Früchte seiner Mühen und Leiden bringen lassen. Als die. Bourgeoisie versuchte, eine rein bürgerliche provisorische Regierung einzusetzen, erzwang das Volk die Aufnahme zweier seiner Vertrauensmänner, Louis Blaues und Alberts. Aber diese waren nicht gewählte Vertreter bestimmter Organisationen, sie waren Männer, die beim Volke beliebt waren. Sie hatten kein bestimmtes Mandat, aber sie hatten auch keine organisierte Macht hinter sich, auf die sie sich stützen konnten. Solange das Volk ins Aufstand war und das Bürgertum über keine Truppen verfügte, hatte die Stimme dieser Volkstribunen Gewicht. Als sich die Volksmassen verliefen, die Nationalgarde wieder gefestigt und die Truppen in der Nähe von Paris konzentriert waren, da war es auch mit dein Einfluß der beiden Vertreter der Arbeiterschaft in der Regierung vorbei. Aber selbst während der kurzen Zeit, wo diese vor den Volksmassen zitterte, war der unorganisierte Volkswille ohnmächtig. Diese Hilflosigkeit zeigte sich schon am 25. Februar, als der Arbeiter Marche an der Spitze einer Volksmenge in das Rathaus drang. Er wußte ebensowenig wie irgendein anderer, was das Volk in diesem Augenblick wollte und was ihm nottat. Er gebrauchte starke Worte, aber er konnte nicht im Namen einer bestimmten Macht sprechen, er hatte keinen bestimmten Auftrag, er war der Vertreter der Konfusion und mußte als solcher vor der bürgerlichen Regierung notwendig sofort den kürzeren ziehen. Die Sache des Volkes war schon am 25. Februar verloren, am Tage nach dem Siege der Revolution, und diese Niederlage wurde in aller Form am 17. März, am 16. April und am 16. Mai bestätigt, an all den Tagen, an denen das arbeitende Volk von Paris krampfhafte Versuche machte, das verlorene Terrain wieder zu gewinnen, und an denen ihm seine Kopflosigkeit, sein Mangel an Einheitlichkeit des Zieles und der Aktion, sein Mangel an Organisation eine Niederlage nach der anderen zuzog.
Allerdings, es gab schon vor der Revolution Ansätze zu Organisationen. Besonders in den dreißiger Jahren waren geheime Gesellschaften und Klubs entstanden, in denen die Revolution gepredigt und vorbereitet wurde. Aber diese notwendig auf sehr enge Kreise beschränkten Geheimorganisationen waren ihrer eigenen Natur nach nicht imstande, den Kern einer die Massen umfassenden Organisation in Zeiten der Revolution zu bilden. Im Gegenteil, in diesen Klubs blühte der Sektengeist, auch hier scharte sich alles um einen „Matador“, um den Mann, dessen Name das Programm des Klubs, der Sekte bildete, und diese Sekten und Vereine befeindeten sich untereinander mit verbissener Wut. Als nun die Revolution endlich die Bande sprengte, die bisher alle diese Sekten im Dunkel des Geheimnisses festgehalten oder doch ihre Agitation sehr gehemmt hatten, da stürmten sie alle zugleich auf das arbeitende Volk los, um es für sich zu gewinnen, und vermehrten dadurch nur noch die Verwirrung. Hier predigten Louis Blanc und seine Anhänger die „Organisation der Arbeit“, dort deklamierte Proudhon über die Abschaffung des Eigentums und die Erhaltung des Besitzes. Cabet rief zur Verwirklichung des neuen Ikarien und Considérant zur Gründung von Phalanstères und proklamierte das Recht auf Arbeit, während die Babouvisten für absolute Gleichheit eintraten. Zu dieser theoretischen Verwirrung kam aber noch die taktisch. Die Führer der alten Geheimklubs standen einander und den übrigen Führern des Volkes feindlich gegenüber: als sich am 17. März der Zug von 20.000 Männern der Arbeit nach dem Stadthaus bewegte und Blanqui den Versuch machte, die Liste der Regierung zugunsten der Arbeiterschaft zu revidieren, stieß er auf den Widerstand Louis Blancs, der die Regierung verteidigte, die ihn selbst bald darauf über Bord werfen sollte. Und als Blanqui denselben Versuch mit größerer Energie am 16. April wiederholte, eilte zum Schutze des Stadthauses und der Regierung die zwölfte Legion der Nationalgarde herbei unter Führung des alten Revolutionärs und Chefs des „Revolutionsklubs“ Barbès. Die Verwirrung war vollständig, die Revolution war besiegt.
Hätte es aber noch eines Beweises bedurft, daß selbst die größten Machtmittel in den Händen einer unorganisierten Masse nutz- und zwecklos bleiben, der Aufstand der Pariser Kommune hätte ihn erbracht. Am Abend des 18. März 1871 befand sich das arbeitende Volk von Paris, das Proletariat und das Kleinbürgertum, im Besitz von Machtmitteln, wie sie diese Klassen noch nie besessen haben. Nicht nur die Belagerungswerke von Paris, 2.000 Kanonen und 300.000 Flinten, vor allem standen innen die ungeheuren Schätze der Bank von Frankreich zur Verfügung, während der Gegner vollständig verwirrt und demoralisiert geflüchtet war. Und was wußten die Massen des Proletariats und Kleinbürgertums mit all diesen gewaltigen Waffen anzufangen? Nichts. Nicht daß es der Kommune an fähigen Männern gefehlt hätte. Ein Vartin oder Fraenkel, ein Dombrowsky oder Vaillant waren den Helden von Versailles nicht nur in moralischer Hinsicht weit überlegen. Aber ihr Wirkungkreis war eingeengt, ihre Tätigkeit gehemmt durch fortwährendes Mißtrauen, durch Gegenintrigen, durch den Mangel an Organisation. Dafür machte sich das Maulheldentum breit, die aufgeblasene Unfähigkeit. Gerade darin besteht ja die erschütternde Tragik der Kommune, daß aller Heroismus, alle Selbstaufopferung der Massen vergeblich waren, weil es ihnen nicht gelang, in dem furchtbaren Drange der Ereignisse, unter dem Donner der Geschütze sich eine Organisation zu schaffen, die dauerhaft und stark genug gewesen wäre, den Kampf mit der Regierungsmaschine, mit dem korrupten, aber bureaukratisch organisierten Regime der Krautjunker und Börsenjobber aufzunehmen. Das bedeutet natürlich keinen Vorwurf für die tapferen Kommunards. Unter der drückenden Wucht des kaiserlichen Absolutismus war es ebenso unmöglich gewesen, eine feste Massenorganisation zu schaffen, wie ehemals unter dem Julikönigtum. Und die Kommune sah selbst, wie der Mangel an Organisation ihre ganze Aktion lähmte, jeden Erfolg unmöglich machte. Sie versuchte zuerst im Zentralkomitee der Nationalgarde und dann im Gemeinderat sich solche Organisationen zu schaffen; aber es war zu spät. Keiner dieser Körperschaften gelang es sich die nötige Autorität zu verschaffen, keine fand eine Stütze ihrer Macht in einem tragfähigen Unterbau festbegründeter Organisationen, So blieb dem Volke von Paris nichts übrig, als sich heldenmütig, aber vergeblich und nutzlos hinzuopfern. Der letzte Kriegsminister der Kommune, der alte Jakobiner Delescluze, setzte nur das letzte Siegel unter die Urkunde seiner Unfähigkeit, als er an dem Tage, als die siegreichen Versailler schon in Paris standen und sich zum letzten Sturme vorbereiteten, jenen berühmten romantisch-bombastischen Armeebefehl erließ, in dem er, wie Dubreuilh sagt, „das Heil in der Desorganisation suchte“ [3]:
„Genug des Militarismus! Weg mit den Generalstäblern mit ihren Treffen und Goldborten an allen Nähten! Raum für das Volk, für die Kämpfer mit bloßen Armen! Die Stunde der revolutionären Kriegführung hat geschlagen. Das Volk weiß nichts von gelehrten Manövern; aber wenn es eine Flinte in der Hand hat und Straßenpflaster unter den Füßen, dann fürchtet es sich nicht vor den Strategen der monarchischen Armee ...“
Delescluze hatte recht: die unorganisierte Masse ist hier wie in allen früheren revolutionären Kämpfen Kanonenfutter gewesen. Mit bloßen Armen, ohne verläßliche Führung, aber mit heldenmütiger Hingabe hat sie sich so oft in den Kampf gestürzt. Manchmal vermochte sie den Sieg zu erringen, aber es gelang ihr nicht ihn festzuhalten, und noch weniger ihn auszunützen. Nur von dunklen Gefühlen und Instinkten geleitet, denen sie meist nicht klaren Ausdruck zu verleihen vermag, fällt sie nur zu oft den Scharlatanen und Demagogen zum Opfer, die sich an sie herandrängen und ihr nach dem Munde reden und die dem wirklichen Revolutionär durch den Schwall ihrer verantwortungslosen Gewaltsphrasen oft den Weg verlegen. [4] Aber trotzdem fühlt die Masse ihre Schwäche, sie sucht sich mitten im Sturm und Drang der revolutionären Ereignisse eine Organisation zu schaffen, sie benützt dazu jeden Anhalt, den ihr der Zufall bietet. Die russische Revolution bietet Beispiele genug dafür, wie anfangs durchaus harmlose Konferenzen und Delegiertentage plötzlich zum Tribunal, zum Kernpunkt der Revolution gestaltet wurden. Aber diese improvisierten Organisationen können natürlich stets nur einen schwachen, unvollkommenen Ersatz für jene festgefügten organisatorischen Gebilde bieten, die ihren Mitgliedern in jahrelanger Arbeit nicht nur den Geist der Zusammengehörigkeit und Solidarität, sondern auch den der Verantwortlichkeit eingeprägt, die einen Stab von Funktionären herangebildet haben, die das Vertrauen der Mitglieder auch dann genießen, wenn sie selbständig aufzutreten und zu handeln wagen. Zum ersten Male in der Weltgeschichte sehen wir in der Sozialdemokratie eine riesenhafte, weite Massen umspannende und dabei festgefügte Organisation, die nicht das Interesse einer herrschenden Klasse oder Clique im Auge hat, sondern das der großen Masse selbst. In dieser Massenorganisation besitzen wir eine Waffe, wie sie noch keine Revolution der Welt besessen hat. Nur sie wird es uns ermöglichen, nicht nur den Sieg über unsere Gegner zu erringen, sondern ihn auch festzuhalten und auszunützen. Unmöglich können wir das Heil erwarten von der Desorganisation, von der unorganisierten Masse, und das um so weniger, als die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Massenorganisation immer mehr alle umfaßt, die sich nicht moralisch oder geistig unfähig erweisen, die Vorteile der Organisation zu würdigen. Was dann als „unorganisierte Masse“ noch außen bleibt, davon dürfen wir immer weniger irgendwelche große Entschlüsse oder Taten erwarten.
Dieser so klare Sachverhalt wird allerdings dadurch etwas verschleiert, daß das so vieldeutige Wort „Masse“ oft wieder in einem ganz anderen Sinne gebraucht wird, indem die „Masse“ der Mitglieder einer Organisation in Gegensatz gestellt wird zu ihren Beamten. Tatsächlich wird eine revolutionäre Initiative stets von dieser Masse der Mitglieder ausgehen müssen und nicht von den Angestellten der Organisation, den „Führern“, die ohne diesen Druck überhaupt außerstande wären, die Verantwortung für eine solche Aktion auf sich zu nehmen; aber es ist ein schlimmer Mißbrauch des Wortes, wenn man diese große Masse der Organisierten gleichsetzt der Masse der Unorganisierten, daß heißt derer, die geistig oder moralisch zur Organisierung nicht fähig oder noch nicht reif sind.
Trotzdem bleibt natürlich die unorganisierte Masse immer von der größten Wichtigkeit. Gänzlich wird auch die beste Organisation nie die Massen umfassen können, aber sie muß dieses Ziel stets im Auge behalten, wenn sie nicht aristokratisch versteinern soll; und in Stunden revolutionärer Erregung wird sie stets damit rechnen müssen, nicht nur ihre Mitglieder, sondern auch die noch außenstehende Masse mit sich zu reißen. So wichtig daher auch das Verständnis der Organisation für jede revolutionäre Bewegung, so wichtig ist auch das Studium der großen, noch unorganisierten Massen.
1. Vergl. Beer, a. a. O., S. 359.
2. A. a. O., S. 363, 364.
3. Vergl. Louis Debreuilh, La Commune (Hist. Soc. T. XI), p. 448. Ueber die Kopflosigkeit und anarchistische Desorganisation in der Kommune siehe ebenda, S. 428 ff.
4. Dieser Gegensatz zwischen dem wirklichen Revolutionär und dem demagogischen Schreier findet zum Beispiel in der französischen Revolution deutlichen Ausdruck in den Personen von Marat und Hébert.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011