Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


3. Die moderne Demokratie


Der industrielle Kapitalismus macht der Produktion der einzelnen Betriebe und Haushaltungen für den Selbstgebrauch ein Ende, die bis zu seinem Aufkommen die weitaus überwiegende Produktionsform in der Gesellschaft bildet. Die Warenproduktion wird nun die allgemeine Form der Produktion; Handel und Verkehr, die ehedem vorwiegend dem Luxus dienten, ergreifen nun immer mehr auch die Gier des Massenkonsums. Es wachsen die Mittel des Massen- und Fernverkehrs für Güter und Personen in ungeheurer Weise. Die mündlichen Mittel der Verständigung zwischen den Personen reichen immer weniger aus. Gleichzeitig ergreift die Naturwissenschaft die Technik und unterwirft sie einem ununterbrochenen Umwälzungsprozeß. Immer weniger genügt das mündlich überlieferte Herkommen in der Produktion, immer wichtiger wird wissenschaftliches Verständnis wenigstens einzelner ihrer Verfahren, nicht nur für die Leiter der Produktion, sondern auch für zahlreiche Arbeitskräfte.

Wachsen der Ausdehnung und Intensität des Verkehrs ebenso wie die Umwälzung der Technik durch die Naturwissenschaft machen die Kenntnis des Lesens und Schreibens in der kapitalistischen Produktionsweise immer mehr zu einer Notwendigkeit für die Masse der Bevölkerung. Diese Kenntnis hört auf, das Privilegium einer begünstigten Oberschicht zu sein. Damit erstehen die Bedingungen für eine populäre Presse und Literatur, ersteht die materielle Grundlage für eine Klasse von Intellektuellen, die von den herrschenden Klassen unabhängig sind und den Volksmassen dienen. Die Schriftsprache, die sich über den auf mündlicher Überlieferung beruhenden Volkssprachen, den Dialekten, erhoben hat, wird nun selbst zur Volkssprache und führt damit zur Bildung eines neuen Volksbewußtseins, das so weit reicht, wie die Schriftsprache reicht. Aus der Gemeinschaft der Schriftsprache erwächst die moderne Nationalität.

Alles das führt dahin, daß die Volksmassen immer mehr in die Lage kommen, die Staatspolitik zu verfolgen und zu erkennen, wie ihre Lage nicht bloß von der Gestaltung ihrer nächsten Umgebung, sondern von dem Zustand und der Politik des gesamten Staatswesens abhängt. Und die Abhängigkeit der Lage der einzelnen Klassen von der Staatspolitik wächst immer mehr, je mehr sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt, denn um so mehr wachsen die wirtschaftlichen Aufgaben und Kräfte der Staatsgewalt.

Dieses Wachstum erzeugt aber nicht nur steigendes Interesse aller Klassen an der staatlichen Politik, es macht ihre zunehmende Teilnahme an dieser Politik auch immer unentbehrlicher für die Staatsgewalt selbst. Denn deren Aufgaben werden so mannigfaltige, deren Mechanismus wird ein so verwickelter, daß er immer leichter ins Stocken kommt, wenn nicht die Triebkraft einer tatkräftigen Gesellschaft und ihre ungehemmte Kritik und Kontrolle auf ihn einwirken. Schon in den Anfängen des kapitalistischen Staates wurde es notwendig, die dilettantische Staatsverwaltung, die der große Grundbesitz im feudalen Staate besorgte, durch ein System geschulter Berufsbeamten mit weitgehender Arbeitsteilung zu ersetzen. Aber je mehr die Bureaukratie wächst und an Macht zunimmt, desto mehr wird sie aus einer Dienerin der Gesellschaft zu ihrer Herrin, desto mehr setzt sie ihre eigenen Berufsinteressen über die gesellschaftlichen Interessen, um so schwerfälliger, formalistischer wird sie, wächst ihre Korruption und Engherzigkeit. Die Bureaukratie der Gesellschaft untertänig zu machen, dem Amtsgeheimnis die Kritik einer freien Presse entgegenzusetzen; der amtlichen Organisation die Organisationen frei gebildeter politischer Parteien; der zentralisierten Spitze der staatlichen Bureaukratie, der Regierung, eine zentralisierte Körperschaft entgegenzusetzen, die nur von Volkes Gnaden besteht, durch des Volkes Macht wirkt, das heißt ein Parlament: das wurde ein Bedürfnis nicht nur für die Volksmassen, sondern für den Staat selbst, dessen Machtmittel verkamen, wo es dem Volke nicht gelang, diese politischen Einrichtungen zu erringen. So ersteht die moderne Demokratie, die nicht mehr, wie die primitive, die eines Stammes, einer Gemeinde, einer Markgenossenschaft, sondern die eines Staates ist und damit den Staat zu einem modernen macht.

Diese Bewegung ist die notwendige Folge der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und ist ebenso unaufhaltsam wie diese. Sie beginnt in den Großstädten, namentlich solchen, die gleichzeitig Residenzstädte sind, Sitze der Regierungen, ergreift jedoch nach und nach auch die kleineren Städte und das flache Land.

Aber je kraftvoller die moderne demokratische Bewegung wird, desto mehr erstehen ihr mächtige Gegentendenzen auch außerhalb der reaktionären Klassen, durch deren Überwindung sie aufkommt. Ist die moderne Demokratie ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise und wird sie in ihren Anfängen von industriellen Kapitalisten selbst gefördert, so wird doch durch sie dieselbe Produktionsweise mit dem Untergang bedroht. Denn Fortschritt der Demokratie heißt Fortschritt der politischen Macht der Volksmasse, und Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet fortschreitende Verwandlung der Volksmassen in Proletariat. Das schließliche unvermeidliche Ziel dieses Prozesses ist die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Dem wirken die herrschenden Klassen mit aller Kraft entgegen.

Die drei großen Mittel, die für das normale Funktionieren der modernen Demokratie kennzeichnend werden, sind die Presse, die Parteiorganisation, das Parlament.

Die Macht der Presse steigt aufs gewaltigste, damit wird sie aber auch immer mehr ein Werkzeug kapitalistischer Klassenherrschaft. Die einzelnen Zeitungen werden riesenhafte kapitalistische Organisationen, und die wichtigsten Mittel der Nachrichtenverbreitung, die großen telegraphischen Bureaus, werden zu Monopolen der Regierungen. Diese und die Klüngel großer Kapitalisten beherrschen immer mehr die Stellen, aus denen die Volksmasse ihre politischen Informationen bezieht.

Eine politische Partei wieder erheischt dort, wo sie so groß wird, daß sie die staatliche Politik beeinflußt, eine Reihe von Politikern und Verwaltungsbeamten, die sich ihr berufsmäßig und ausschließlich widmen. In verkleinerter, aber nicht verbesserter Ausgabe erstehen daraus die gleichen Mißstände und Widerstände gegen die Demokratie, das heißt gegen die praktische Beherrschung der Politik durch die Volksmasse, die wir schon als Kennzeichen der staatlichen Bureaukratie kennengelernt haben.

Seine schlimmsten Blüten treibt das Berufspolitikertum in den Parlamenten, wenn es zum parlamentarischen Kretinismus führt, das heißt zur Beschränkung des ganzen politischen Denkens auf die Vorgänge im Parlament, das als eine Welt für sich betrachtet wird, die wohl der Außenwelt Gesetze gibt, aber kein Gesetz von ihr empfängt.

Bei den Parlamentswahlen endlich macht sich neben dem Einfluß der kapitalistischen Presse auch die direkte ökonomische Übermacht der Kapitalistenklasse geltend, und diese übermacht ist im allgemeinen nicht im Abnehmen, sondern im Wachsen begriffen, je mehr die Organisationen der Unternehmer an Ausdehnung und Zusammenhalt zunehmen. Die Gewerkschaften der Arbeiter sind unentbehrlich, diesen das Maximum an ökonomischer Macht zu sichern, das sie unter den gegebenen Umständen zu entfalten vermögen, sie sind aber nicht imstande, das ökonomische Übergewicht der Kapitalistenklasse aufzuheben. Dasselbe Übergewicht, das der einzelne Kapitalist gegenüber dem vereinzelten Arbeiter besitzt, steht dem organisierten Kapitalisten gegenüber dem organisierten Arbeiter zu Gebote. Nur in Gegenden und Zeiten, in denen sich die Organisation der Arbeiter früher oder schneller entwickelt als die der Kapitalisten, verschiebt sich das Schwergewicht vorübergehend zugunsten der Arbeiter.

Alle diese Gegentendenzen bewirken, daß die Demokratie im modernen kapitalistischen Staate nie eine vollkommene werden kann, daß sie es erst nach dem Siege des Proletariats als politische Form einer sozialistischen Gesellschaft sein wird.

Aber damit ist nicht gesagt, daß die Gegentendenzen stark genug wären, den aus der ökonomischen Entwicklung hervorgehenden Fortschritt der Demokratie und des Proletariats aufzuhalten. Sie können ihn bloß zeitweise hemmen, bis die Mißstände der Hemmung so stark geworden sind, daß sie weithin empfunden und auch ungeschulten und falsch informierten Köpfen merkbar werden. Die schließliche Überwindung der Hemmung geschieht dann durch einen Dammbruch, eine Katastrophe, sei es ein Regierungssturz, eine Parteispaltung oder ähnliches.

Ihrem Wesen nach müßte die Demokratie die friedlichste politische Entwicklung gewährleisten. Daß die moderne Demokratie das noch nicht tut und nicht gegen zeitweise politische Katastrophen schützt, rührt daher, daß sie gleichzeitig das Produkt und der Todfeind der ökonomisch herrschenden Macht ist, des industriellen Kapitalismus.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009