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Die neue Richtung in unserer Partei will den Kampf für die Demokratie, den wir bisher in allen unseren Parteiprogrammen vom Beginn der Partei an hatten, ersetzen durch einen Kampf für eine neue Diktatur, die an Stelle der Hitlerschen gesetzt werden soll.
Eine so neue Idee bedürfte einer genauen Darlegung dessen, was wir unter dem Wort der von uns anzustrebenden Diktatur zu verstehen haben. Genösse X im Neuen Vorwärts begnügt sich zu fordern:
„Stabilisierung der Herrschaft der Arbeiterklasse durch eine Diktatur.“
Im Pariser Populaire vom 10. August d. J. fordert Jean Zyromski, „die gesamte politische Macht solle in den Händen der revolutionären Klasse, der Arbeiterklasse konzentriert werden, unter Ausschluß der anderen Klassen“.
Wer soll diese einzig im Staate berechtigte Klasse sein? Zyromski spricht von der „Diktatur des Proletariats“. Will er nur den Lohnarbeitern, politische Rechte geben, nicht auch jedem anderen, der von seiner Hände Arbeit lebt, Bauern, Kleinbürgern, Intellektuellen? Lenin schuf die Republik der Proletarier, Bauern und Soldaten. Will Zyromski die Bauern und ebenso alle Kleinbürger und Intellektuelle rechtlos machen? Er will jeden Widerstand unmöglich machen, auch solchen, der sich „auf demokratische Prinzipien und Institutionen stützt“. Das kann nur geschehen durch eine der Diktatur blind ergebene bewaffnete Macht. Dabei aber will er innerhalb der Arbeiterklasse, welche Volksschichten immer er unter diesem Wort verstehen mag, die Demokratie aufrecht erhalten. An der von ihm gewünschten Diktatur würden also offenbar alle politischen Richtungen beteiligt sein, die innerhalb der Arbeiterschaft Anhang finden, nicht bloß Sozialdemokraten, sondern auch Kommunisten, bürgerliche Radikale, Faschisten und fromme Katholiken.
Eine derartige Diktatur des „Proletariats“ ist natürlich eine Absurdität. Die Idee dieser Diktatur stirbt an Lächerlichkeit, sobald man sie aus Licht zieht.
Ich nehme au, die Diktatur, von der Genosse X spricht, ist ernsthafter zu nehmen. Als solche könnte man nicht eine Diktatur aller in der Arbeiterklasse vertretenen politischen Richtungen betrachten, sondern nur die einer einzigen Arbeiterpartei. Er denkt dabei jedenfalls nur an die Sozialdemokratie.
Er will also offenbar, wir sollen die arbeitenden Massen auffordern, die Diktatur Hitlers zu stürzen, nicht damit sie volle Bewegungsfreiheit für sich gewinnen, sondern damit sie sich einen anderen absoluten Herrn setzen, eine sozialdemokratische Partei, die natürlich das Wohl der Arbeiter will und sich daran machen wird, den Sozialismus rasch aufzubauen, die das aber mit den Mitteln und Methoden einer Diktatur anstrebt, das heißt, eines bürokratisch-militärisch-polizeilichen Staatsapparats, den sie beherrscht und der so organisiert ist, daß sie es vermag, eine wirksame, unwiderstehliche und durch nichts zu beeinflussende Diktatur zu üben.
Das ist das Ziel, das Genosse X uns setzen will. Das entnehmen wir seinen Andeutungen im Neuen Vorwärts. Leider genügen diese nicht, völlige Klarheit zu schaffen. Es erstehen noch einige Fragen, die beantwortet sein müssen, damit kein Zweifel möglich ist über das, was ihm vorschwebt.
Vor allem ist es notwendig, zu erfahren, ob seine Auffassung der Notwendigkeit der Diktatur als Mittel sozialistischen Aufbaus nur für Hitlerdeutschland gilt oder für die ganze Welt. Ob er hier einen Programmpunkt bloß für die deutsche Sozialdemokratie aufstellen will oder für die gesamte sozialistische Internationale.
Mancher meint, die Methoden der Demokratie versagten heute in aller Welt. Nur noch durch die der Diktatur könnten wir vorwärtskommen. Ihnen gehöre die Zukunft, wenigstens die nächste Zukunft.
In Wirklichkeit können wir seit dem Beginn der modernen Industrie und ihres Verkehrslebens, also seit dem 16. Jahrhundert, und allgemein seit dem Ende des 18. in den Gebieten dieser Industrie ein allgemeines Vorwärtsdringen der Idee und dann auch der Realisierung der Demokratie verzeichnen. Das dauert bis zum Ende des Weltkrieges, der noch fast überall mit großen Erfolgen der Demokratie abschließt. Erst manche Nachwirkungen des Weltkrieges, dann die Friedensverträge und schließlich die Weltkrise haben seit einigen Jahren ein Zurückdrängen der Idee der Demokratie durch die der Diktatur herbeigeführt. Aber keineswegs überall.
Wir können Europa politisch in zwei große Gebiete teilen. Das eine umfaßt jene Länder, in denen die bürgerlichen Klassen, Bourgeoisie und Kleinbürgertum mit dem politisch lange von diesem nicht getrennten, unselbständigen Proletariat, frühzeitig stark genug waren, die Bewegungsfreiheit im Staate, die sie brauchten, durch direkte Bekämpfung und Niederwerfung der monarchistischen absolutistischen Staatsgewalt zu erobern oder zu behaupten. Das gelang zuerst den Schweizern, dann den Niederländern, den Engländern, den Amerikanern, schließlich den Franzosen noch vor dem 19. Jahrhundert. Ich habe diese Vorgänge geschildert im ersten Bande meines Werkes Krieg und Demokratie.
In allen diesen Nationen haben die siegreichen Revolutionen den Volksmassen großes Selbstbewußtsein eingeflößt und es in ihnen festgewurzelt. Die blinde und demütige Unterwürfigkeit unter die Organe der Staatsmacht, die Absolutismus und Diktatur mit sich bringen, kommt in manchen der genannten Gebiete entweder gar nicht auf oder sie wird der Bevölkerung so gründlich ausgetrieben, daß jeder Versuch zum Scheitern verurteilt ist, einen neuen Absolutismus von einer Kraft und Dauer aufzurichten, die allein imstande wäre, Staat und Gesellschaft grundlegend umzuwälzen und deren bisherige Formen durch höhere zu ersetzen.
Anders gestaltet sich die Lage in Ländern, die sich erst später politisch oder ökonomisch so weit entwickelten, daß deren bürgerliche Klassen und ihr Proletariat ein Bedürfnis nach geistiger, politischer und ökonomischer Bewegungsfreiheit verspüren. Dieser Grund demokratischen Strebens erstarkte bei ihnen erst zu einer Zeit, als westlich von ihnen das Proletariat bereits anfängt, sich selbständig zu machen, so daß neben dem bürgerlich-demokratischen auch ein proletarisch-demokratisches Streben ersteht. Gleichzeitig hat die Waffentechnik der staatlichen Armeen solche Fortschritte gemacht, daß die Aussichten rebellischer Volksmassen im Bürgerkrieg gegen solche Armeen auf Null reduziert werden. Und überdies bringt nun die Ausdehnung der Warenproduktion, in der Landwirtschaft die Bauern in Gegensatz zu den Städtern, mit denen sie ehedem Hand in Hand gingen. Die Bauern haben ein Interesse an hohen Lebensmittelpreisen, die Städter an niedrigen.
Alles das ertötet nicht das Streben der Bourgeoisie und der Kleinbürger nach einem gewissen Ausmaß von Demokratie, aber es läßt sie seit 1848 auf den revolutionären Weg zu deren Gewinnung verzichten. Dieser Weg erscheint ihnen zu unsicher und gefahrvoll. Der bürgerliche Liberalismus solcher Länder benützt von da an mit Vorliebe die Gegensätze zwischen verschiedenen Dynastien, um zu einem freieren Staatswesen zu gelangen. In den mitteleuropäischen Kriegen nach 1848 erkaufen sich manche Dynastien die Hilfe ihrer Bourgeois in der Außenpolitik durch liberale Konzessionen im Innern, indessen andere Dynastien, die solche Konzessionen ablehnen, im Kriege zusammenbrechen und nun das gewähren müssen, was sie vor der Niederlage hochmütig verweigert haben.
Das Ausmaß der auf diese Weise, nicht durch Bürgerkrieg gegen die Dynastien, sondern durch Kriege zwischen den Monarchen errungenen Freiheiten ging fast nirgends über einen recht dünnen Liberalismus hinaus und hob nur wenig das Selbstbewußtsein der Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit. Nur bei dem Proletariat und auch da nur bei seinem höchst entwickelten, sozialdemokratisch organisierten Teil, schwand die Untertänigkeit. Sie erhielt sich in den übrigen Klassen, besonders stark in Deutschland mit seinen vielen kleinen Staaten und Hofhaltungen. In Österreich wurde die Untertanengesinnung der Bourgeois und Kleinbürger in hohem Maße entwickelt bei den Deutschen, weil deren Bourgeoisie glaubte, durch die Habsburger über die anderen Nationen im Staate erhoben zu werden. Bei Ungarn, Tschechen, Polen bildete sich zeitweise gerade wegen des nationalen Gegensatzes die Opposition gegen die Dynastie stärker aus.
In Rußland war es die ungeheure Überzahl einer analpbabetischen Bauernschaft, was die Masse der Bevölkerung in jeder Beziehung völlig abhängig von der zentralisierten Bürokratie des Zarismus mit allen ihren Machtmitteln machte.
Mehr noch als in Mitteleuropa wurde in Rußland der sozialistisch denkende Teil der städtischen Arbeiterschaft die einzige Schicht, die entschieden den Kampf gegen den Absolutismus und für die Demokratie aufnahm, zum Teil bewundert und ermuntert, zum Teil gefürchtet von der Bourgeoisie. Aber das industrielle Proletariat war für sich allein, noch zu schwach, sogar in Deutschland, geschweige im russischen Reich, die riesenhaften Machtmittel der Militärmonarchie lahm zu legen. Wenn diese dort ebenso wie in Österreich schließlich erlag, so geschah .es im Weltkrieg unter dem Druck fremder Waffen, nicht der Revolutionäre des eigenen Landes.
Die so 1917 und 1918 gewonnene Freiheit vermochte die seit Jahrhunderten durch die Verhältnisse anerzogenen Gefühle der Untertänigkeit und der Unselbständigkeit gegenüber der Staatsgewalt nur unvollkommen in jenen Volksschichten auszulöschen, die nicht vorher schon revolutionär gesinnt gewesen. Das erleichterte schon nach wenigen Monaten voller Freiheit in Rußland die Wiederaufrichtung eines neuen Absolutismus. Nicht so schnell ging das in manchen der neugeschaffenen Freistaaten, die westlich von Rußland 1918 erstanden. Allenthalben wuchsen die politischen und ökonomischen Schwierigkeiten, die den Kriegswirkungen und schließlich seit 1929 der Krise entsprangen. Je mehr das eintrat, desto haltloser wurde ein großer Teil der Bevölkerung, nicht bloß Bourgeois, Kleinbürger, Bauern, sondern auch jener Teil der Proletarier, der noch nicht
geistige Selbständigkeit erlangt hatte oder deren Arbeitslosigkeit sie aus Menschen, von denen die Gesellschaft lebte, in Menschen verwandelte, die von der Gesellschaft lebten. Die Psyche der letzteren ähnelte immer mehr der der Proletarier des alten Rom, die ihre Freiheit dem Meistbietenden verkauften, dem Cäsar. Alle diese Schichten verloren jede Zuversicht zu sich selbst, sehnten sich immer mehr nach einer starken Führung. Wo sie eine solche zu entdecken glaubten, da folgten sie ihr. Dies die psychologische Grundlage der Popularität der Diktaturen unserer Zeit.
Eine ähnliche Stimmung des Kleinmuts und der Haltlosigkeit, die wir in den letzten Jahren beobachten konnten, ist schon früher nach mancher Revolution eingetreten. Sie hat die Gegenrevolution gefördert. Aber eines ist heute dabei neu. Ehedem hat die Gegenrevolution gegen die demokratische Revolution stets zur Aufrichtung einer neuen oder zur Wiederbefestigung einer alten Erbmonarchie geführt. Damit ist es heute vorbei. Der die Revolution besiegende Absolutismus hat diesmal noch keine neue Dynastie begründet, keine vertriebene Dynastie wieder zurückgeführt. Wo er eine vorfand, hat er sie vielfach zur Machtlosigkeit verurteilt, so in Italien. Nur die Balkanstaaten bildeten einen Fall für sich.
Die Diktaturen unserer Zeit begründen keine Dynastien. Sie sind in dieser Beziehung nicht die Nachfahren der Cäsaren, sie sind auch keine Bonapartes.
Darin mag man einen Fortschritt sehen. Er ist indes sehr fragwürdiger Art. In der Erbmonarchie bildet der Staat die Domäne nicht des einzelnen Monarchen, sondern der Dynastie. Jeder Monarch empfindet die Verpflichtung, den Staat seinen Nachfolgern in gutem Zustand zu hinterlassen. Dieses Motiv fehlt dem Diktator, der keine Dynastie begründet. Er erobert das Staatswesen, um es zu plündern. Nach ihm möge die Sintflut kommen. Wenn es nur ihn aushält! Der neue Absolutismus wird von seinen Vertretern selbst nicht als dauernder Zustand gedacht.
Sollen wir annehmen, daß es überall so kommen muß, daß die Untertänigkeit breiter Massen, die eine Vorbedingung jeder erfolgreichen Diktatur ist, zu einer allgemeinen Erscheinung der modernen Völker wird und daß diese Untertänigkeit die psychische Grundlage bildet, aus der die Befreiung des Proletariats hervorgehen wird?
Wer das annimmt, versteht weder die neuere Geschichte noch die aus ihr hervorgehende Beschaffenheit der Demokratie des Westens. Der Faschismus wird nicht den Rhein und schon gar nicht die Nordsee überschreiten. Er wird in Frankreich, England, Amerika die Modenarrheit einiger bedeutungsloser politischer Gecken bleiben. Und der Idee einer sozialistischen Diktatur ist dort kein besseres Schicksal beschieden.
Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018