Zum ersten Mal veröffentlicht 1921, zunächst in der Zeitschrift Proletarskaja Rewoluzija (Proletarische Revolution), Nr. 3 (mit dem Titel Autobiographischer Abriss), dann als Einzelausgabe in Odessa mit dem Titel Aus meinem Leben und meiner Arbeit. Der vorliegenden Veröffentlichung liegt die gekürzte Fassung der Odessaer Ausgabe zugrunde, wobei von der Verfasserin vorgenommene Korrekturen berücksichtigt wurden. Zusätzlich in den Band aufgenommen wurden Sujets aus anderen (handschriftlichen) Materialien Alexandra Kollontais: Der 9. Januar 1905 (IML, ZPA, Moskau, F. 134), Begegnungen mit Lenin während der ersten russischen Revolution Ende 1905 und Anfang 1906, auf dem Stuttgarter Kongress von 1907 sowie in Paris von 1911 bis 1913 (IML, ZPA, Moskau, F. 134). Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 115–163.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
In Zürich schrieb ich mich an der Universität bei Professor Herkner ein, dessen Buch über die Arbeiterfrage (in seiner zweiten Auflage) mein Interesse geweckt hatte. Bezeichnend war, dass ich, je intensiver ich mich mit dem Studium der Gesetze der Ökonomie befasste, immer stärker zur „orthodoxen“ Marxistin wurde, während mein Professor und Lehrmeister indessen immer mehr nach rechts geriet und von der revolutionären Theorie von Marx abrückte, bis er schließlich regelrecht Renegat geworden war.
Es war eine bewegte Zeit damals, als in der deutschen Partei mit Bernstein die Tendenz zu offenem praktischem Kompromisslertum, zu Opportunismus und Revisionismus, das heißt zur Revision der Theorie von Marx, aufkam. Mein ehrenwerter Professor blies ins gleiche Horn wie Bernstein und sang diesem Lobeshymnen. Ich hingegen stand ganz entschieden links, begeisterte mich für Kautsky und las von A bis Z die von ihm herausgegebene Zeitschrift Die Neue Zeit [1] sowie die Aufsätze von Rosa Luxemburg, namentlich ihre Broschüre Sozialreform oder Revolution?, in der sie die opportunistische Theorie Bernsteins restlos widerlegte.
Auf Anraten meines Professors und mit seinen Empfehlungen versehen, fuhr ich 1899 nach England, um die englische Arbeiterbewegung zu „studieren“, die mich davon überzeugen sollte, dass die Opportunisten recht hatten und nicht die Linken.
Ich besaß Empfehlungsschreiben an Sidney und Beatrice Webb „höchstpersönlich“, doch bereits nach den ersten Gesprächen mit ihnen wurde mir klar, dass wir verschiedene Sprachen sprachen, und so begann ich, mich ohne ihre Anleitung mit der englischen Arbeiterbewegung vertraut zu machen. Dabei überzeugte ich mich jedoch gerade vom Gegenteil. Ich sah die ganze Schärfe der sozialen Widersprüche in England und die ganze Machtlosigkeit der Reformisten, ihr Unvermögen, hier mit der Taktik des Trade-Unionismus oder mit Hilfe der berühmten „Settlements“ (Kulturhäuser in Arbeitervierteln), wie etwa der Toynbee-Hall, mit Hilfe von „Volkshäusern“, Genossenschaften, Klubs usw. Abhilfe zu schaffen. Aus England kehrte ich noch stärker von der Richtigkeit der Weltanschauung der linken, „orthodoxen“ Marxisten überzeugt zurück, doch fuhr ich nicht wieder nach Zürich, sondern nach Russland. Ich hatte Beziehungen zu illegal tätigen Funktionären angeknüpft und wollte meine Kräfte möglichst rasch in der Praxis anwenden, sie im Kampf einsetzen.
Als ich Russland 1898 verlassen hatte, waren die gesamte fortschrittliche Intelligenz und die Studentenschaft legal marxistisch eingestellt gewesen. Ihre Abgötter waren neben Beltow (Pseudonym G. W. Plechanows. Die Red.), Struve und Tugan-Baranowski. Zwischen Volkstümlern und Marxisten war ein erbitterter Kampf im Gange. Die jungen Kräfte – Iljin (Lenin), Maslow, Bogdanow und andere – begründeten die revolutionäre Taktik der sich in der Illegalität formierenden sozialdemokratischen Partei theoretisch.
Nun fuhr ich in der schönen Hoffnung, bald wieder unter Gleichgesinnten zu sein. Doch im Herbst 1899 war Russland schon nicht mehr dasselbe wie vor einem Jahr. Die Dinge hatten sich gewandelt: Der Honigmond der Vereinigung von legalem und illegalem Marxismus war vorbei. Der legale Marxismus hatte offen die Partei des großen Industriekapitals ergriffen. Der linke Flügel ging in die Illegalität und verteidigte immer entschiedener die revolutionäre Taktik des Proletariats, das heißt Lenins Taktik.
Bei der Studentenschaft und der Intelligenz hatte die Begeisterung für Marx einer nicht minder leidenschaftlichen Begeisterung für Bernsteinianertum und Revisionismus Platz gemacht. In Mode kam jetzt Nietzsche mit seinem „Aristokratismus“ des Geistes. Ich erinnere mich, als wäre es heute, an einen Abend in der Wohnung des Vaters von Jelena Dmitrijewna Stassowa in der Furschtadtskaja-Straße, der zugunsten des politischen „Roten Kreuzes“ veranstaltet wurde. Struve hielt einen Vortrag über Bernstein. Das Publikum war „auserlesen“, auch illegale Funktionäre waren darunter, und doch wurde Struves Vortrag wohlwollend, ja völlig zustimmend aufgenommen. Gegen Struve trat damals lediglich Awilow auf; alles, was damals „Rang und Namen“ hatte, unterstützte ihn hingegen. Ich meldete mich auch zu Wort. Man ließ mich nur ungern sprechen – schließlich war ich nur wenigen bekannt. Mein allzu leidenschaftliches Eintreten für die „Orthodoxen“ (Linken) wurde allgemein missbilligt, ja, mit empörtem Achselzucken abgetan. Jemand fand, es sei eine unerhörte Frechheit, allgemein anerkannten Autoritäten wie Struve und Tugan zu widersprechen; ein anderer war der Ansicht, solche Reden dienten nur der „Reaktion“, während ein dritter meinte, wir hätten die „Phrasen“ inzwischen hinter uns gelassen und sollten nun nüchterne Politiker werden ...
Zu jener Zeit schrieb ich für die Zeitschrift Nautschnoje Obosrenije [2] Artikel gegen Bernstein, über die Rolle des Klassenkampfes, in denen ich die „Orthodoxen“ verteidigte, doch die Zensur strich meine Artikel als für den Druck ungeeignet an. Da nun fasste ich den Entschluss, wissenschaftlich auf dem Gebiet der Ökonomie zu arbeiten.
Finnland fühlte ich mich aufs Lebhafteste verbunden. Das finnische Volk erlebte damals gerade die finstere Zeit der Bobrikow-Herrschaft [3], der Gewalt und der Unterdrückung durch die russische Selbstherrschaft. Die Grundlagen der Selbständigkeit des kleinen Volkes waren erschüttert; gegen Verfassung und Gesetze des Landes wurde schändlich verstoßen. Das finnische Volk und die russische Selbstherrschaft lagen im Kampf gegeneinander. Meine ganze Sympathie gehörte Finnland. Ich sah in Finnland die wachsende, wenngleich noch kaum jemandem bewusste Kraft des Industrieproletariats und konstatierte Anzeichen sich zuspitzender Klassengegensätze sowie die Gründung einer neuen Arbeiterpartei Finnlands – als Gegengewicht zu den nationalistischen bürgerlichen Parteien der Svekomanen, der Fennomanen und der Jungfinnen. In engem Kontakt zu finnischen Genossen stehend, half ich ihnen, in Äbo den ersten Streikfonds zu organisieren. Meine Artikel über Finnland erschienen 1900 in der deutschen Wirtschaftszeitschrift Soziale Praxis [4], im Nautschnoje Obosrenije und im Obrasowanije [5]. Einen Artikel, einen ganz konkreten statistischen Beitrag, brachte das Russkoje Bogatstwo. Gleichzeitig trug ich von 1900 bis 1903 Material für eine umfangreiche wirtschaftsstatistische Arbeit über Finnland unter dem für die Zensur harmlosen Titel Das Leben der finnischen Arbeiter zusammen. Selbstverständlich waren diese Jahre nicht allein mit literarisch-wissenschaftlicher Tätigkeit ausgefüllt. Ich leistete zudem illegale Arbeit, aber mehr an der Peripherie – leitete Zirkel hinter der Newskaja Sastawa, verfasste Aufrufe, bewahrte illegale Literatur auf, verbreitete sie und dergleichen mehr.
Im Jahre 1901 fuhr ich ins Ausland. Dort bekam ich persönlichen Kontakt zu Rosa Luxemburg (in Zürich), zu den Lafargues in Paris sowie zu Kautsky und Plechanow in Genf. In der Sarja [6] erschien mein Artikel über Finnland ohne Angabe des Namens und im Nowoje Wremja ebenfalls ein Artikel, unter dem Pseudonym Elin Molin. Seitdem blieb ich mit den ausländischen Genossen in regelmäßiger Verbindung.
Anfang 1903 erschien unter dem Titel Das Leben der finnischen Arbeiter meine Untersuchung zur Lage der finnischen Arbeiter und zur Entwicklung der Volkswirtschaft in Finnland. Drei Jahre lang hatte ich daran gearbeitet. Das in marxistischem Geist geschriebene Buch wurde von den illegalen Funktionären mit Sympathie aufgenommen, während es bei vielen legalen Marxisten auf Ablehnung stieß. Im Jahre 1903 sprach ich erstmals auf einer öffentlichen Versammlung, die von Studenten am 12. Januar organisiert worden war; in meiner Rede stellte ich die sozialistische Weltanschauung der idealistischen gegenüber. [7] Im Sommer 1903 reiste ich abermals ins Ausland. Das war zur Zeit der Bauernaufstände in Russland. Auch die Arbeiter des Südens hatten sich erhoben. In den Köpfen gärte es, und immer heftiger prallten die zwei feindlichen Kräfte – das auf die Revolution zustrebende illegale Russland und die sich hartnäckig an die Macht klammernde Selbstherrschaft – aufeinander. Eine Zwischenstellung nahm die Gruppe der „Oswoboschdenzen“ [8] mit Struve an der Spitze ein. Viele meiner besten Freunde schlössen sich dieser Gruppe an, in der sie eine „reale Kraft“ sahen, während ihnen der „reine Sozialismus“ für das damalige Russland als Utopie galt. So kam es zur schroffen Trennung von jenen, die noch unlängst Gleichgesinnte gewesen waren ...
Unter den sozialistischen Emigranten gingen die Auseinandersetzungen inzwischen nicht mehr wie ehedem zwischen Volkstümlern und Marxisten vor sich, sondern zwischen Menschewiki und Bolschewiki. Ich hatte in beiden Lagern Freunde. Zwar gehörte mein Herz mehr dem Bolschewismus mit seiner Kompromisslosigkeit und seinem revolutionären Geist, doch der Charme, der von der Persönlichkeit Plechanows ausging, hielt mich davon ab, mit den Menschewiki zu brechen. Nach meiner Rückkehr aus dem Ausland im Jahre 1903 schloss ich mich zunächst noch keiner Parteigruppierung an, so dass beide Fraktionen die Möglichkeit hatten, mich als Agitator, für Proklamationen und andere aktuelle Aufgaben in Anspruch zu nehmen.
Das Ende des Jahres 1903 und das ganze Jahr 1904 war die Zeit der erwachenden liberalen Öffentlichkeit – ein Frühling des Liberalismus, eine Zeit der berühmten „Banketts“, der Reden, der literarisch-politischen Versammlungen und der politischen Salons. Die „Oswoboschdenzen“ – die künftigen Kadetten – hatten ihren Honigmond. Gerade gegen sie aber richtete sich der Kampf der Sozialdemokraten.
Parallel zu dem durch die „wohlwollende Toleranz“ Swjatopolk-Mirskis begünstigten Aufblühen des Liberalismus und des Kadettentums wurde fleißig an der Organisation der Kräfte des Proletariats, an der Vertiefung und Ausweitung des Einflusses der Sozialdemokratie unter den Massen gearbeitet. Unter der Führung Lenins erstarkte die bolschewistische Fraktion. Unter dem unverfänglichen Vorwand, „Geographieunterricht“ zu erteilen, leitete ich damals an einer Sonntagsschule hinter der Newskaja Sastawa einen aus 25 bis 30 Arbeitern bestehenden Zirkel; einige von ihnen habe ich später, in den Tagen der Oktoberrevolution, als Teilnehmer der Revolution wiedergetroffen. In der legalen Literatur (in der Moskauer Zeitschrift Prawda [9], im Obrasowanije usw.) bekämpfte ich Revisionismus und „Ministerialismus“. Meine Broschüre über den Klassenkampf, die ich ebenfalls in jener Zeit verfasst hatte, wurde von der Zensur verboten und erschien erst 1905, um bald darauf beschlagnahmt zu werden. [10]
In dem Maße, wie der revolutionäre Sturm des Jahres 1905 an Stärke zunahm, festigten sich auch meine aktiven Verbindungen zu den Bolschewiki. Zwar hatte ich meine persönlichen Kontakte zu Plechanow nicht abgebrochen, doch arbeitete ich im Winter 1904/05 bereits fest mit Bolschewiki wie B. W. Awilow, J. D. Stassowa und anderen zusammen.
An den Studentendemonstrationen im November 1904 beteiligten wir uns aktiv. Auf meine Anregung hin wurde sofort nach der Verhaftung die Versorgung der Verhafteten mit Lebensmitteln organisiert, was die Polizei in Erstaunen versetzte, bekam sie doch damit gezeigt, dass wir „planmäßig“ handelten. Am Tag der Demonstration fand abends in den Räumen des Technologischen Instituts in Petersburg eine grandiose Kundgebung statt, an der sich Vertreter fast aller politischen Gruppierungen beteiligten.
Als Gegengewicht zu der Kundgebung, auf der Vertreter aller Strömungen sprachen, veranstalteten wir in einem gesonderten Hörsaal (ich glaube, es war im Physikhörsaal) ein Meeting der Bolschewiki. Dort war auch ich zu finden [11]. Wir sprachen alle unter falschem Namen und hatten uns zudem zurecht geschminkt ...
Den Blutsonntag 1905 erlebte ich auf der Straße.
Ich war mit den Demonstranten zum Winterpalais gezogen. Das Bild des grausamen Blutbades, das unter den wehrlosen Arbeitern angerichtet wurde, hat sich mir für immer ins Gedächtnis eingeprägt: das ungewöhnlich helle Licht der Januarsonne ... Gesichter voller Vertrauen und Erwartung ... das schicksalhafte Signal der rings um den Palast angetretenen Truppen ... Blutlachen im weißen Schnee ... das Gejohle der Gendarmen ... Tote, Verletzte, erschossene Kinder ...
Was war am 9. Januar geschehen? Zum ersten Mal in Russland waren die Arbeitermassen organisiert, furchtlos, gleich einer unaufhaltsamen Lawine zum Winterpalais gezogen, um ihre Forderungen an „Väterchen Zar“ vorzubringen, Forderungen, in denen die Arbeiter von Petersburg naiv, vertrauensselig alle ihre Nöte und Anliegen zur Sprache brachten – Löhne, Wohnverhältnisse, Dauer des Arbeitstages und vor allem Rede-, Streik- und Koalitionsfreiheit für die Arbeiter. Die zaristische Regierung hatte gedacht, den Geistlichen Gapon als Waffe gegen das zunehmende Bewusstsein der Arbeiterklasse Russlands einsetzen zu können. Raffiniert, wie sie waren, hofften die Machthaber, die Arbeiter mit den Ideen Gapons und mit Hilfe zaristischer Provokateure vom Sozialismus ablenken und einlullen zu können, indem sie „Arbeiterklubs“ einrichteten, die der reine Hohn waren, denn in ihnen fungierten auch Provokateure und die zaristische Geheimpolizei als Mitglieder und Spitzel. Doch die Arbeiter waren schon so stark von dem Wunsch beseelt, ihre Interessen zu verteidigen, gegen die Klassenausbeutung zu kämpfen und Möglichkeiten zu suchen, geeint zu handeln, dass die Petersburger Arbeiter den Gaponschen Klubs zustrebten, sie geradezu überschwemmten und durch ihren Ansturm den schwachen, wankelmütigen Popen zwangen, sich vorübergehend an die Seite der Arbeiter zu stellen und sich einverstanden zu erklären, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen.
Kurz vor dem 9. Januar war in den Putilow-Werken ein Streik ausgebrochen, ein Streik, bei dem es um ökonomische Forderungen ging. Das Leben der Arbeiter war damals schwer und hoffnungslos. Russland war durch den für die zaristische Armee schmachvollen, verlorenen Krieg gegen Japan zerrüttet. In den Dörfern gärte es. Hier und da brachen Bauernunruhen aus. Die Bauersfrauen lehnten sich gegen die zaristischen Behörden auf, als wieder einmal Rekruten ausgehoben wurden. Die Finanzen lagen restlos im argen. Die Industriellen waren ungehalten, weil sich die bürokratische, korrupte Politik des Zarismus festgefahren hatte. In diese schwelende Glut der allgemeinen Unzufriedenheit nun fiel der Funke des Streiks in den Putilow-Werken Das war Weihnachten 1904. In jenen Tagen wurde die zaristische Regierung mit Entsetzen gewahr, auf welch gefährliches Spiel sie sich mit dem Popen Gapon eingelassen hatte, als sie diesen zu ihrem Werkzeug machte. Die Arbeitermassen trieben Gapon in die Enge und schlugen den Weg ihrer Klasse ein, den die Bolschewiki dem Proletariat, wiesen. In den Gaponschen Klubs kam es tagaus, tagein zu Kundgebungen, wurden die ersten Massenresolutionen von Arbeitern in Russland angenommen, und die völlig verwirrte Polizei wusste nicht, ob sie Gapons Arbeiter auseinanderjagen oder das gefährliche Spiel der Provokation gegenüber den Arbeitermassen fortsetzen sollte.
Die Welle der revolutionären Stimmung wuchs an und wurde immer wuchtiger. In den Arbeitervororten sang die Jugend bereits die „Warschawjanka“. Dennoch sagten die weniger hitzigen, älteren Arbeiter, man müsse mit Vater Gapon direkt zu Väterchen Zar gehen und ihm die Nöte des Arbeitsvolkes schildern, müsse sich den Weg zum Zaren durch den Wall der Beamten und habgierigen Gutsbesitzer hindurch bahnen.
Was taten und dachten die Bolschewiki in jenen Tagen? Lenin war weit weg, im Ausland. Unter den Bolschewiki, die illegal unter den Massen arbeiteten, gab es damals keine völlige Einmütigkeit. Die einen waren der Auffassung, man müsse die Arbeiter davor bewahren, in die heimtückische Falle zu gehen, dürfe nicht zulassen, dass sich die wehrlosen Arbeitermassen abschlachten lassen, müsse die Arbeiter davon abhalten, sich von Gapon als demütige Bittsteller zum Zaren führen zu lassen. Die anderen meinten, die Arbeiterlawine sei nun einmal ins Rollen gekommen und könne nicht mehr aufgehalten werden, Opfer seien da unvermeidlich; doch wenn die Masse auf die Straße gehe, sei unser Platz in ihrer Mitte. Die erste Aktion der Arbeiter mochte so eine traurige, aber unausbleibliche Lehre auf dem Weg der Revolution werden.
Am 6. Januar beschlossen die Arbeiter: „Wir gehen zum Palast.“ Am 7. und 8. Januar trafen sie ihre Vorbereitungen. Die zaristische Regierung wusste vor Bestürzung nicht ein noch aus. Der Zar selbst begab sich mit seiner Familie aus lauter Furcht nach Zarskoje Selo. Wie hätte er auch die Bittschrift der wehrlosen Arbeiter entgegennehmen können! An seiner Statt stellte er zuverlässige Schwadronen der Gendarmerie und zarentreue Gardetruppen auf, damit diese die einfältigen Bitten der leidgeprüften Menge mit einer Gewehrsalve beantworteten.
Am 9. Januar schien die Sonne. Sonnig war es und kalt. Aus ganz Petersburg strömten in endlosen Zügen die Armen der Stadt zum Zarenpalast. Gleich einem Spinngewebe zogen sich die Reihen der Demonstranten durch das alte Petersburg. Das Volk sammelte sich vor dem Palast und wartete. Wartete geduldig eine Stunde, zwei. Würde sich der Zar wohl zeigen? Wer würde die Bittschrift, die Bittschrift der Arbeiter an den Zaren, entgegennehmen?
Doch der Zar erschien nicht. Als Antwort auf die Bitten des wehrlosen Volkes ertönte ein Signalhorn. Ungewohnt und fröhlich klang es in der kalten Winterluft. Unwillkürlich sahen wir einander an.
„Was ist denn das?“ fragte jemand neben uns.
„Das Zeichen für die Truppen, sich besser auszurichten“, kam eine beschwichtigende Erklärung aus der Menge.
Und wiederum gespanntes Warten, vermischt mit dumpfer Besorgnis.
Abermals ertönte ein Signal. Durch die Truppen ging eine leichte Bewegung. Die Leute lächelten. Die unbewaffnete Menge trat vor Kälte von einem Bein aufs andere, wartete und hoffte. Dann ein drittes Signal und darauf – ungewöhnliches Donnern. Was war das? Wurde geschossen? „Nichts weiter“, meinte da jemand, „nur Platzpatronen.“ Doch neben uns sanken Menschen zu Boden ... Frauen, Kinder. Kinder glitten vom Zaun des Alexandergartens in den Schnee, als hätte man Spatzen abgeschossen. „Aber nein doch, fürchtet euch nicht, das war ein Zufall“ – das Volk will es nicht wahrhaben. Dabei ritten die Gendarmen des Zaren schon zum Angriff, zur Attacke gegen das Volk.
Der Blutsonntag forderte Tausende von Opfern, Tote und unzählige Verwundete. Doch mit ihren Schüssen töteten die Lakaien des Zaren nicht nur die „Untertanen“ ihres Väterchen Zar. Sie hatten nicht in Rechnung gestellt, dass sie damit mehr töteten – die Vertrauensseligkeit der breiten Massen der Arbeiter und ihren Glauben daran, dass von der Zarenmacht Gerechtigkeit kommen könnten. Mit diesem Tag war Russland ein anderes, ein neues Land geworden. So leitete der 9. Januar die große Bewegung der werktätigen Massen gegen das alte Russland der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie ein ...
Nach den Januartagen kam die illegale Arbeit mit neuer Energie und Kraft in Schwung. Die Bolschewiki in Petersburg begannen, eine eigene illegale Zeitung herauszugeben (ihr Titel ist mir entfallen) [12], an der ich nicht nur als Journalistin mitarbeitete, sondern für die ich auch in technischer Hinsicht mitverantwortlich war. Von den von mir in jener Zeit verfassten Proklamationen hatte eine Proklamation gegen den „Semski Sobor“, die Nationalversammlung, mit dem Aufruf, die Konstituierende Versammlung einzuberufen, besonderen Erfolg. [13]
Ich hatte all diese Jahre enge Verbindung zu Finnland aufrechterhalten und förderte jetzt aktiv gemeinsame Aktionen beider Parteien (der russischen und der finnischen Sozialdemokratie) gegen den Zarismus.
Literarisch betätigte ich mich in etlichen legalen marxistischen Zeitschriften sowie in der Moskauer Prawda, im Obrasowanije, der Fachzeitschrift Fabritschny Westnik [14] und anderen. In jenen Jahren erschienen auch meine Artikel zur Agrarfrage, zu Fragen des Arbeitsschutzes und zur Arbeiterbewegung in Finnland. Als Antwort auf einen philosophischen Sammelband der Idealisten Berdjajew und Bulgakow verfasste ich meinen Artikel Probleme der Moral unter positivem Blickwinkel [15].
Als die Öffentlichkeit in allen ihren Schichten erwachte, begannen sich auch die bürgerlichen Feministinnen in Russland zu rühren. [16] Die Frauen fingen an, eigene Kundgebungen zu veranstalten. Der harmlose „Damenklub“ des Frauenvereins für gegenseitige Wohltätigkeit [17] nahm eine politische Färbung an, denn er warf die Frage der bürgerlichen und politischen Rechte der Frau auf. Viele Sozialdemokratinnen und Sozialrevolutionärinnen waren bereit, die Losungen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen aufzugreifen, und bahnten auf der Plattform des „demokratischen Wahlrechts“, der Fünfpunkteformel [18], eine Zusammenarbeit mit ihnen an. Der den Kadetten verwandte Bund der Gleichberechtigung der Frau [19], der von Tyrkowa, Kalmanowitsch und Mirowitsch geführt wurde, nahm seine Tätigkeit auf. Die Bolschewistinnen Basarowa und Anna Gurewitsch, die Menschewikin Morgulis, die Sozialrevolutionärin Wolkenstein und andere besuchten die Zusammenkünfte des Bundes der Gleichberechtigung und führten auch Arbeiterinnen dort ein. In den Klubs bildeten sie „Sozialistinnengruppen“. Die infolge der großen Ereignisse in Bewegung geratenen Arbeiterinnen, die durch eine eigene offizielle Delegierte in der Schidlowski-Schlichtungskommission [20] vertreten waren, kamen in Scharen zu allen politischen Kundgebungen und Versammlungen und suchten Anschluss.
Im April 1905 fand auf Initiative von Frauengruppen aller politischen Schattierungen die erste große Frauenkundgebung in Petersburg statt. Es sprachen Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, und für eine „einheitliche Frauenplattform“ setzten sich auch die Menschewiki ein. Da musste ich einfach sprechen und mich ganz entschieden von dem Idyll einer Zusammenarbeit zwischen revolutionären Sozialistinnen und bürgerlichen Frauenrechtlerinnen distanzieren.
Meine Worte lösten einen Sturm der Entrüstung aus. Man schrie mir zu, ich unterstützte nur die Schwarzhunderter, entfesselte Leidenschaften und übte Nachsicht mit dem „Rowdytum“ und dem „Bund des russischen Volkes“ [21]. Die Schriftstellerin Krandijewskaja stürzte auf mich zu mit dem Schrei: „Erwürgen wäre noch zu wenig für Sie!“ Unterstützt wurde ich nur von einer Arbeiterin (deren Name mir entfallen ist). Ich entsinne mich, dass ich strikteste Abgrenzung von den Frauenrechtlerinnen und Einheit in der revolutionären Bewegung der Proletarier beiderlei Geschlechts forderte und dazu aufrief, dem traurigen Schicksal und der doppelten Rechtlosigkeit der Arbeiterinnen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Meine Rede blieb nicht ohne Ergebnis: Arbeiterinnen stießen zur Partei. Sie wollten ihre Kräfte einsetzen, wenngleich sie für aktive Mitarbeit in der Partei noch nicht reif waren. Zudem vermochten wir damals noch nicht, sie in die Arbeit einzubeziehen und ihre Initiative sowie ihr Klassenbewusstsein zu wecken.
Im Oktober 1905 steckte ich mitten in der Arbeit unter den Massen. Ich betrieb Agitation in Großbetrieben, besonders in den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Ochta und Wassiljewski Ostrow. Mir lag dabei ständig am Herzen, dass zu unseren Versammlungen und Zirkelabenden auch Arbeiterinnen kamen. An Versammlungen nahmen sie teil, doch in den Zirkeln waren sie nur vereinzelt anzutreffen, und diese wenigen kamen auch nur ein-, zweimal, dann sah man sie nicht mehr.
Dass der Oktoberstreik heranreifte, wusste ich von meinen „Schülern“ aus den Fabriken. Dank dieser lebendigen Verbindung zu den Massen hatte ich Gelegenheit, im Oktober 1905 an der ersten Versammlung des Sowjets der Arbeiterdeputierten [22] im Technologischen Institut teilzunehmen, als der Sowjet erst die bescheidene Aufgabe zu erfüllen hatte, die Streikenden zu unterstützen und den Streik zu leiten. Zur Unterstützung des Generalstreiks wurde Geld gesammelt, das teils dem Petersburger Komitee zuging, teils direkt in die Kasse des Sowjets floss.
Den Sowjet hatte ich rein technisch zu betreuen. Es galt, einen Raum für ihn ausfindig zu machen und ihm Geld zukommen zu lassen. Auch diese Arbeit tat ich begeistert, wobei ich nicht aufhörte, auf ungezählten öffentlichen Kundgebungen mit zehntausend Zuhörern zu sprechen. Es war eine besondere Zeit, in der wir wie in einem Rausch lebten. Der Sowjet kam Tag und Nacht zusammen und wurde immer mehr zu einer aktiven politischen Kraft, die es mit der offiziellen Macht aufnahm. Verbände schossen wie Pilze aus dem Boden, und in allen diesen Verbänden und Vereinigungen trug Gedankenarbeit ihre Früchte, wurden Plattformen ausgearbeitet, gab es Meinungsstreit.
Nachdem sich die Bourgeoisie während der denkwürdigen Tage des Generalstreiks im Oktober von der Losung „Einheit der oppositionellen Kreise“ hatte hinreißen lassen, kam nun die Zeit, da sie allmählich ernüchterte, denn sie hatte es inzwischen mit der Angst zu tun bekommen. Die Losungen vom Achtstundentag und von der Konstituierenden Versammlung, die die Sozialdemokratie aufgestellt hatte, veranlassten die Bourgeoisie, erschrocken wie sie war, ihre gewohnte Zuflucht beim Thron zu suchen. Auf Kundgebungen und Versammlungen galt es, vor allem die Kadetten zu entlarven und eine scharfe Polemik gegen sie zu führen. Die Sowjets erfreuten sich bei den Massen zunehmender Beliebtheit, doch das Petersburger Komitee vermochte es noch nicht, sich in den Sowjets die Führung zu sichern, so dass die Leute vom Komitee und die Sowjets nicht identisch waren. Unsere Genossen waren noch gänzlich dem Geist der Illegalität verhaftet, während die Sowjets bestrebt waren, aus der stickigen Illegalität herauszukommen und den Schauplatz des politischen Geschehens offen zu betreten; sie stützten sich auf die breiten Massen und bewogen diese zum Handeln, obwohl jene Massen noch außerhalb der Partei standen. Was die Einstellung zu den Sowjets anbelangt, so gab es da Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und dem Petersburger Komitee. Ich war damals beim Petersburger Komitee als Agitatorin tätig (das Petersburger Komitee vereinte formal beide Strömungen, wurde jedoch faktisch von den Bolschewiki geleitet). Bei den Differenzen mit dem Petersburger Komitee ging es um den Einsatz der Sowjets und ihre Unterordnung unter die Direktiven der Partei. Ich war für „Eigeninitiative“ (womit ich die falsche Richtlinie des Menschewismus unterstützte).
Lenin sah ich zum ersten Mal bei einer illegalen Versammlung. Das war gleichfalls in jenem denkwürdigen Jahr. Wladimir Iljitsch war aus dem Ausland zurückgekehrt, um die Führung der revolutionären Bewegung zu übernehmen. [23] Die illegale Versammlung fand irgendwo auf dem Sagorodny-Prospekt statt, möglicherweise im Gebäude des Technologischen Instituts. Zwanzig Leute waren es etwa – nicht mehr. Über dem Tisch eine Petroleumlampe, am Tisch Martow, der Führer der Menschewiki.
Lenin hatte sich nicht hingesetzt, sondern ging langsam hin und her, blieb hin und wieder neben Martow stehen und focht mit verblüffender Klarheit und Logik die Thesen des Menschewismus an.
Während der Diskussion gab es heftige Wortgefechte. Es ging um wichtiges: Hauptproblem war die Diktatur des Proletariats. Die menschewistischen Opportunisten wollten nicht wahrhaben, dass die Führung der Revolution in den Händen der Partei liegen muss, dass die Arbeiter die Vorhut der Revolution sind und dass sie im Bündnis mit der Bauernschaft kämpfen müssen. Martow erkannte die Bauernschaft nicht als Verbündeten der Arbeiter an. Die Menschewiki hofften auf die Unterstützung der russischen Bourgeoisie. Sie fürchteten die Diktatur des Proletariats.
Ich war erstaunt, wie aufmerksam sich Wladimir Iljitsch die Einwände Martows anhörte. Zuweilen schmunzelte er kaum merklich. Manchmal zog er die Brauen hoch, eine Spur von Zorn und Verärgerung wurde sichtbar. Wladimir Iljitsch sah dann streng und unerbittlich aus. Und seine Antworten fielen wie Hammerschläge nieder.
An diesem Abend auf dem Sagorodny-Prospekt trug Wladimir Iljitsch wie fast immer, wenn er sprach, den Sieg davon. Auch in der Praxis haben die Bolschewiki den Sieg errungen.
Anfang 1906, erinnere ich mich, hatte ich eine weitere Begegnung mit Wladimir Iljitsch, und zwar in der Redaktion der bolschewistischen Zeitung Wperjod, die bald verboten wurde. [24] Wladimir Iljitsch beratschlagte mit jemandem oder gab jemandem Anweisungen. Als er jedoch hörte, dass ich „mit einem Auftrag“ da sei, kam er gleich. Es ging um eine Sendung Waffen. Die Waffen mussten in einer sicheren Wohnung versteckt werden. Wladimir Iljitsch wollte von mir genau wissen, wem die Wohnung gehöre, ob dies zuverlässige Leute seien und wie es mit den Nachbarn aussehe. Ich erinnere mich an seine Weisung, diese Wohnung auf gar keinen Fall auch für heimliche Treffs zu benutzen.
Als wir uns verabschiedeten, fragte er mich noch, worüber ich im Augenblick schriebe. Meine Broschüre Zur Frage des Klassenkampfes war gerade von der zaristischen Zensur beschlagnahmt worden. Wladimir Iljitschs Frage war mir indirekt Ansporn für meine Schriftstellerei. Ich habe dies nicht vergessen ...
Im Auftrag des Petersburger Komitees hatte ich auch in der Provinz Agitation zu betreiben. Auf einer stark besuchten Kundgebung 1907 in Wilna rief ich ganz offen „zu den Waffen“. Im Handumdrehen war Polizei da; der Saal wurde umstellt, doch dank der Findigkeit und Gewandtheit der Genossen kam ich davon. In Petersburg ließ man mich dann unbehelligt, ein Zeichen dafür, wie konfus die Staatsmacht zu jener Zeit war. Eine Zeitlang war ich Kassierer des Petersburger Komitees. Damit das Petersburger Komitee zu mehr Geld kam, schwebte mir vor, das erste legale Arbeiterjahrbuch herauszugeben, das dann auch 1906 erschien. Es war eine Art Nachschlagewerk für Arbeiter, mit mehreren Abschnitten zu verschiedenen Themen – politischen, sozialen und dergleichen mehr. Obwohl es dem Anschein nach ein „nicht-fraktioneller“ Sammelband war, überwogen darin menschewistische Autoren. Der Grund hierfür war, dass ich mich 1906 meiner Einstellung zur Reichsduma wegen von den Bolschewiki entfernt hatte, denn ich war ganz entschieden dafür, „die Duma zu nutzen“, was mich in die Nähe der Menschewiki brachte. Ich vertrat die Auffassung, durch Mitarbeit in der Duma könnten die Aktivität, die Initiative der Massen, ihre politische Erziehung gefördert werden, während ein Boykott Passivität bewirken und die Entfaltung dieser Initiative behindern würde. Deshalb gehörte ich in den Jahren 1905 und 1906 nicht zu den Mitarbeitern der ersten legalen bolschewistischen Zeitung in Russland [25]. Daraufhin hatte das menschewistische Organ nichts Eiligeres zu tun, als mich für sich zu gewinnen.
Indes war der Kampf gegen die bürgerliche Frauenrechtsbewegung entbrannt. Neben dem politisch zahmen Frauenverein für gegenseitige Wohltätigkeit mit seinen Damen waren die Frauenfortschrittspartei [26] unter Doktor Pokrowskaja und der aktive Bund der Gleichberechtigung, dessen Popularität rasch zunahm, am Werke. Der Kampf wurde jetzt offen geführt. Aber noch dominierten die Frauenrechtlerinnen – die öffentliche Meinung stand auf ihrer Seite, denn sie wurde ja nicht von den Arbeitern, sondern von der Intelligenz bestimmt. Auf den Versammlungen waren nur wenige politisch bewanderte Arbeiterinnen, Hausangestellte und Gewerbetreibende zu finden, so dass die Frauenrechtlerinnen Erfolg hatten und es viele Mühe kostete, unsere eigene Linie zu propagieren, ohne Protest auszulösen. Die Partei leistete damals noch keine planmäßige Arbeit unter den Arbeiterinnen; mit Ausnahme einer Broschüre von Sablina (Genossin Krupskaja) [27] gab es keine Publikationen für Arbeiterinnen, und auch die war illegal erschienen. Ich erinnere mich, wie ich, bald nachdem Vera Sassulitsch nach Russland gekommen war, zu ihr fuhr, um mich direkt mit ihr zu beraten, wie man die Arbeit unter den Arbeiterinnen gestalten, womit man beginnen sollte.
Im Winter 1905/06 musste ich nicht nur Agitation unter den Massen betreiben, mich bei jeder Gelegenheit mit den Frauenrechtlerinnen herumschlagen und dabei den Gedanken verteidigen, dass es für die Sozialdemokratie keine isolierte Frauenfrage gab, sondern ich hatte auch mehrere öffentliche Vorlesungen über die Rolle der Frau in der Wirtschaft, über die Geschichte der Ehe usw. zu halten, in denen ich die Grundsätze des Sozialismus im Zusammenhang mit der Aufgabe, die Frau allseitig zu befreien, popularisierte. Nach wie vor gab es Auseinandersetzungen mit jenen Genossinnen, die, nachdem sie sich im Frühjahr 1906 vom Bund der Gleichberechtigung distanziert hatten, zwei sozialistische Frauenklubs gebildet hatten, denen sowohl Bolschewistinnen als auch Menschewistinnen und Sozialrevolutionärinnen angehörten. Obwohl auch Arbeiterinnen Mitglieder dieser Klubs waren und obwohl die Klubs die Massen anzogen, weigerte ich mich entschieden, sie zu besuchen, war ich doch der Meinung, dass hinsichtlich des Kampfes für die Befreiung der Frau vor allem eine klare und eindeutige Klassenlinie vorhanden sein müsse.
Dafür arbeitete ich in den Klubs der sogenannten Selbstbildungsvereine der Arbeiter mit, die spontan in Petersburg entstanden und in denen die Masse der parteilosen Arbeiter Grundlagen der sozialistischen Erziehung vermittelt bekam ...
Im Herbst 1906 traf ich in Finnland mit Rosa Luxemburg zusammen. Auf ihren Rat hin entschloss ich mich, zum Mannheimer Parteitag der deutschen Partei zu fahren, denn parallel dazu war auch eine Konferenz sozialdemokratischer Frauen anberaumt worden. [28] Diese Konferenz gab mir Anhaltspunkte für die Arbeit der Partei unter den Frauen. Begegnungen und Gespräche mit Clara Zetkin, mit der Arbeiterin Ottilie Baader, mit Margarethe Wengels und anderen überzeugten mich von der Richtigkeit meines Bestrebens, innerhalb der Partei einen Apparat für die Arbeit unter den Frauen zu schaffen.
Wieder in Russland, verfocht und entwickelte ich in mehreren Vorlesungen und Gesprächen den Gedanken, dass die Partei beginnen müsse, auch unter den Frauen zu wirken. Verständnis dafür fand ich lediglich bei den Arbeiterinnen selbst, während die Genossen aus der Partei meinen Worten gegenüber entweder skeptisch oder aber gleichgültig waren. Es gab auch welche, besonders unter den alten Revolutionärinnen, die in meinem Vorschlag eine „schädliche Abweichung zum Feminismus hin“ sahen.
Ich erinnere mich noch, als wäre es erst gestern gewesen, an den ersten missglückten Versuch, mit Einverständnis des Petersburger Komitees eine Versammlung von Arbeiterinnen durchzuführen, auf der die Bildung eines Arbeiterinnenbüros innerhalb der Partei zur Debatte stehen sollte. Das Petersburger Komitee hatte uns für diesen Abend einen Raum versprochen. Als wir paar Leute aber zur Arbeiterinnenversammlung kamen, war besagter Raum nicht nur verschlossen, sondern irgendein Flegel hatte zudem an die Tür die Worte geschmiert: „Die Versammlung nur für Frauen findet nicht statt, morgen eine Versammlung nur für Männer.“ Einer der uns begleitenden Arbeiter (wenn ich mich nicht täusche, war es Genosse Silnow vom Newawerk) bat uns alle, empört über diesen Unfug, zu sich ins Zimmer, wo wir dann die Organisationsversammlung der Arbeiterinnen durchführten. Ein Büro wählten wir allerdings nicht – dazu waren wir zu wenige.
Ich fuhr zur Klärung dieser Angelegenheit ins Petersburger Komitee. Formell hatten die Genossen nichts gegen unsere Initiative, doch sie gewährten uns auch keine Unterstützung. Genauer gesagt, für dieses Problem interessierte sich einfach niemand, während die Gefahr seitens der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zunahm. Die Sozialrevolutionärinnen hatten sich mit den Frauenrechtlerinnen verbündet und unterstützten sie. Alle bürgerlichen Frauenvereinigungen hatten eigene Zeitschriften, gaben Broschüren und Aufrufe heraus, hielten Beratungen ab, scharten Arbeiterinnen und Bäuerinnen aus der Provinz um sich und sandten Bittschriften an die Reichsduma. Ein Gegengewicht musste geschaffen werden. Wir verloren die Studentinnen sowie die weibliche werktätige Intelligenz und bekamen keine feste Basis unter den Arbeiterinnen.
Im Frühjahr 1907 schrieb ich einen Artikel zur Organisierung der Arbeiterinnen. Mit diesem Artikel war endlich die Frage der Schaffung eines speziellen Apparates der Partei für die Arbeit unter den Frauen aufgeworfen. Zur gleichen Zeit begann ich, im Textilarbeiterverband zu arbeiten. Gemeinsam mit diesem Verband organisierten wir im Frühjahr 1907 in Petersburg eine Reihe von Kundgebungen speziell für Arbeiterinnen. Damit möglichst viele Leute kamen, veranstalteten wir, wie damals allgemein üblich, diese Meetings in Form von Vorlesungen mit anschließender Diskussion. Jemand von uns, dessen Name bei der Polizei noch nicht auf der schwarzen Liste stand, wählte ein harmloses Thema, wie etwa Hygiene der Mutterschaft oder Die Arbeiterinnenklubs in England. Der Referent sprach etwa zwanzig Minuten, dann ergriffen wir das Wort und agitierten. Es kam vor, dass der anwesende Polizeihauptmann unser Manöver durchschaute und die Versammlung auflöste. Doch zuweilen vermochte der Referent ein Schlusswort durchzusetzen, in dem er dann das Ziel des Meetings resümierte. Unsere Meetings im Nobel-Haus auf der Wiborger Seite waren bei den Arbeitern und Arbeiterinnen sehr beliebt. Besonders gern hatten die Arbeiterinnen die Bolschewikin Natascha. Die Kundgebungen wurden von beiden Fraktionen getragen.
In jenem Frühjahr 1907 machten einige bewusste Arbeiterinnen auf sich aufmerksam – die Weberin Antonowa, die bolschewistische Textilarbeiterin Anna Semjonowna (Ossipowa), die Schneiderinnen Solowjowa und Marusja Burko, später auch die Druckerin Klawdija Nikolajewa und die Krankenpflegerin Jefremowa, eine beeindruckende, aparte Frau. Es bildete sich eine Gruppe, die zu den Arbeiterinnen in den Betrieben Verbindung hielt. Zu den Kundgebungen der Frauenrechtlerinnen schickten wir unsere Redner, die sich an der Diskussion beteiligen sollten, bei unseren eigenen Meetings dagegen ließen wir keine bürgerlichen Redner zu.
Im Herbst 1907 nahm ich an der I. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Stuttgart [29] und auch am Kongress der Internationale [30] teil. Auf der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz war ich die einzige Vertreterin Russlands. Während der Konferenz lieferten sich der rechte und der linke Flügel der Fraueninternationale einen Kampf, der die Auseinandersetzung zwischen den beiden Strömungen in der Internationale widerspiegelte. Ich stand auf Seiten Clara Zetkins. Der erste Punkt der Meinungsverschiedenheiten betraf den Kampf für das allgemeine Frauenstimmrecht. Die österreichischen Sozialistinnen mit Lilly Braun fanden sich zu einigen Kompromissen bereit, während Clara Zetkin Festigkeit verlangte. Im Namen Russlands unterstützte ich die Linken gegen die Opportunisten. Auch hinsichtlich der Formen der Arbeit unter den Frauen kam es zu Divergenzen: Clara Zetkin bestand auf der Bildung einer internationalen Zentralstelle, während Lilly Braun und die Rechten darin auf einmal eine Äußerung von Frauenrechtlertum sahen. Wiederum musste ich die Linken unterstützen. [31] Von der Stuttgarter Konferenz kehrte ich mit einem voll ausgereiften Plan für die Tätigkeit unter den Arbeiterinnen nach Russland zurück, dessen Verwirklichung ich im Herbst 1907 in Angriff nahm.
Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart bin ich Lenin begegnet.
Ein großer Saal, ein Theater oder Vereinssaal. Hunderte Delegierte aus allen Teilen Europas. Noch nicht aus der ganzen Welt, die Amerikaner waren damals wohl nicht dabei. [32] Auf der Bühne, im Präsidium, ein nicht besetzter Platz – der Platz eines englischen Delegierten, des linken, das heißt revolutionären Marxisten Quelch. Die deutschen Behörden hatten ihn gleich nach seiner ersten Rede auf dem Kongress des Landes verwiesen. Eine herausragende Persönlichkeit auf dem Kongress – der betagte August Bebel.
Wladimir Iljitsch gehörte der Delegation der Bolschewiki an. Von seiner Arbeit sah das Publikum nicht viel – er saß in den Kommissionen, dort, wo die Linie der internationalen Arbeiterbewegung eigentlich festgelegt wurde. [33]
Zur Debatte stand ein ernstes Problem: Wie sollte sich das internationale organisierte Proletariat im Falle eines Krieges verhalten? (Das war 1907!) Die Sozialdemokraten, die bereits in Opportunismus verfallen waren, hatten Angst, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Sie schlugen eine Resolution vor, in der es nicht um die Sache ging, in der nur schöne Worte standen – lauter wohlklingende, große, aber nichtssagende Worte: Wenn ein Krieg auszubrechen droht, müssen die Arbeitervertreter in den Parlamenten alles tun, um entsprechend ihren Kräften und Möglichkeiten den Krieg zu verhüten ... So ungefähr lautete der Text. [34]
In der Kommission sprach Lenin: Wenn ein Krieg ausbricht, ist es die Aufgabe des organisierten Proletariats, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln. [35] Die Opportunisten der II. Internationale versuchten natürlich alles, damit Wladimir Iljitsch mit seiner Fassung nicht durchkam. Lenin zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Früher oder später werden wir sowieso darauf zurückkommen müssen. Oder die Sozialdemokratie wird untergehen.“
Und wiederum hatte er recht!
Ein Jahr darauf schrieb Lenin:
„Was wir heute oft nur auf ideologischem Gebiet erleben: Auseinandersetzungen mit theoretischen Korrekturen an Marx –, was heute in der Praxis nur in einzelnen Teilfragen der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kommt, als taktische Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten und die Spaltungen auf dieser Grundlage –, das alles wird die Arbeiterklasse fraglos in noch viel größerem Maßstab durchzumachen haben, wenn die proletarische Revolution alle Streitfragen verschärfen, ... wenn sie das Proletariat zwingen wird, im Feuer des Kampfes Feind von Freund zu scheiden und die schlechten Bundesgenossen von sich abzuschütteln, um entscheidende Schläge gegen den Feind führen zu können.“
Mit unbändigem Hass brandmarkte Lenin die sozialdemokratischen Opportunisten, die die revolutionäre Bewegung der Massen fürchteten ...
Stuttgart beeinflusste mich stark. Die Polemik und der Kampf der Strömungen auf dem Kongress, wo Rosa Luxemburg gegen Bebel „in Person“ auftrat und wo ein Grüppchen von Linken populärste Führungskräfte attackierte, bestärkten mich noch mehr in meiner Überzeugung, dass die Strömung in der Sozialdemokratie recht hatte, die kompromisslos Kurs auf die soziale Revolution hielt. Aus ebendiesem Grunde befriedigte mich auch die Taktik meiner Verbündeten in der Partei, der Menschewiki, in vieler Hinsicht nicht. Ich stimmte mit ihnen in der Beurteilung der Rolle des bürgerlichen Liberalismus in Russland nicht überein und hielt jedes „Übereinkommen“ beziehungsweise jede Zusammenarbeit für falsch. Meine Mitstreiter wiederum bemerkten an mir und in meinen Aufsätzen den Geist „bolschewistischer Phraseologie“, und mein Artikel über die Ergebnisse des Mannheimer Parteitages (1906) brachte mir Vorwürfe ein; doch gerade diesen Artikel hatte ich unter dem Einfluss Rosa Luxemburgs, nach regem und engem Kontakt mit ihr, verfasst ...
Im Herbst 1907 machte ich mich ernsthaft an die Organisierung der Arbeiterinnen in Petersburg. Die Gruppe von Arbeiterinnen, die sich im Frühjahr 1907 zusammengeschlossen hatte, bildete den Kern, mit dem ich die Arbeit begann. Die Aufgabe lautete, die Massen der werktätigen Frauen anzusprechen, sie in Bewegung zu setzen. Die Veranstaltung von Kundgebungen wurde insofern immer schwieriger, als die Reaktion nach der Auflösung der II. Duma und der Verhaftung der sozialdemokratischen Fraktion [36] zunehmend dreister wurde und immer mehr erstarkte. Aus der Illegalität heraus war es außerordentlich schwer, an die Massen der Frauen heranzukommen. So blieb nur die Arbeit in den Gewerkschaften, und auch sie erreichte nur den beschränkten Kreis der schon bewussten Arbeiterinnen. Da beschlossen wir, in der Predtetschenskaja-Straße, unweit der Ligowka, einen legalen Klub für Arbeiterinnen mit dem harmlosen Statut eines Arbeiterinnenvereins für gegenseitige Hilfe zu gründen. In der Ligowka befand sich unser wichtigster Stützpunkt, der Textilarbeiterverband, und dort tagte auch ziemlich oft das Büro der Gewerkschaften. [37]
Den Klub wollten wir an keine Fraktion binden, daher nahmen wir Vertreterinnen der Bolschewiki und der Menschewiki in ihn auf und setzten durch, dass das Petersburger Komitee ihn anerkannte. Die Mittel für die Unterhaltung des Klubs besorgten wir uns selbst.
Die Geschichte des Klubs ist so eng mit meinem Leben damals verknüpft, dass mir, sobald ich versuche, mir die Ergebnisse meiner Arbeit im Winter 1907/08 ins Gedächtnis zurückzurufen, unwillkürlich auch all die Schwierigkeiten, Hindernisse und Reibereien mit Genossen wieder einfallen, zu denen es in Zusammenhang mit dem ersten Arbeiterinnenklub kam.
Als Lektoren waren bei uns eine Menge Genossen tätig. Dem Klub gehörten zweihundert bis dreihundert Arbeiterinnen mit den unterschiedlichsten Berufen an. Der Klub war jeden Abend geöffnet. Ich entsinne mich, dass Vera Sassulitsch zur Einweihung zugegen war. Ich war ungewöhnlich guter Dinge. Es war schön, zu wissen, dass wir es fertiggebracht hatten, die zahllosen von der Polizei aufgetürmten Hindernisse zu überwinden und in ganzen anderthalb Monaten nicht nur zu erreichen, dass das Statut genehmigt wurde, sondern auch die Arbeiterinnen für unser neues Vorhaben zu interessieren.
Zum Frühjahr wurde die Atmosphäre im Klub etwas gespannter. Es hatte sich eine kleine Gruppe herausgebildet, die verlangte, dass die gesamte „Intelligenz“ aus dem Klub ausgeschlossen werde, obwohl viele davon Pflichten wie die von Bibliothekarinnen, Lektorinnen usw. im Klub wahrnahmen. [38] Zum anderen billigte ein Teil der Genossen noch immer nicht unseren „Separatismus“ und sah in dem Klub unbedingt eine frauenrechtlerische Abweichung. Da ich meine Kräfte nicht sinnlos mit steriler Polemik vergeuden wollte und fest an die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges, das heißt an die Notwendigkeit glaubte, innerhalb der Partei eine Abteilung für die Arbeit unter den Frauen zu bilden, trat ich aus dem Klub aus. Meine Arbeit unter den Proletarierinnen gab ich jedoch nicht auf. Ich begann lediglich, nach anderen Formen zu suchen.
Im gleichen Winter musste ich erneut engere Verbindungen zu den finnischen Genossen herstellen. Es erschienen meine Broschüre Finnland und der Sozialismus (sie wurde später beschlagnahmt und ich gemäß Artikel 101 gerichtlich belangt) und Anfang 1908 mehrere Artikel über das neue Wahlsystem in Finnland. [39] Da die Beziehungen zwischen Russland und Finnland auf der Tagesordnung standen, holte man mich als Spezialistin für diese Frage in die Kommission der sozialdemokratischen Fraktion der III. Duma.
Die Reaktion gewann immer mehr die Oberhand. Die legale Arbeit der Partei konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Dumafraktion. Den Gewerkschaften und Bildungsklubs drohte Verbot, die führenden Kräfte der Partei gingen entweder erneut ins Ausland oder aber in die Illegalität. Diese finstere Zeit war durch Verhaftungen, Haussuchungen und Verbannungen gekennzeichnet. Doch die wachgerüttelte Öffentlichkeit wusste die vom Zarismus aufgetürmten Hindernisse zu umgehen. Unter politisch unverfänglichen Aushängeschildern fanden Kongresse statt, auf denen in versteckter Form die allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck gebracht und gleichsam als Refrain immer wieder die Losung aufgestellt wurde, ein demokratisches Regime zu errichten. Auf diesen Kongressen bildeten wir eine eigene Arbeitsgruppe und traten gewöhnlich geschlossen auf; die Parteifraktionen sprachen sich untereinander ab, damit es gegenüber dem Gegner keine größeren Unstimmigkeiten gab. Mehrmals hatte ich auf diesen Kongressen im Namen der Arbeiterinnengruppe zu sprechen. Mein Hauptanliegen war jedoch immer, die Arbeiter selbst zum Sprechen zu bewegen, ihnen bei der Vorbereitung darauf zu helfen und ihnen Denkanstöße zu geben. Zu vielen Genossen, zu jungen Arbeitern hatte ich auch nach diesen Kongressen noch lange Zeit persönlich und geistig Verbindung. Zu den vielversprechenden Arbeitern gehörten in jener Zeit der Metallarbeiter Jazynewitsch, der sich in der Immigration leider allmählich von uns lossagte, der Arbeiter Kamenew und der Sekretär der Textilarbeiter, Grischa. Arbeiterinnen traten hingegen kaum in Erscheinung – dabei bin ich damals in den Betrieben und Werkstätten so vielen eindrucksvollen Frauengestalten begegnet.
Die Massen für unsere Bewegung zu gewinnen, sie für die Revolution zu erziehen und in den Kampf für die grundlegende Veränderung der Lage der Frau einzubeziehen, bildete nach wie vor das Hauptziel meiner Aktivität.
Im Frühjahr 1908 wurde bekannt, dass sich die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen anschickten, im Herbst des gleichen Jahres einen Gesamtrussischen Frauenkongress nach Petersburg einzuberufen. [40] Nachdem ich die Zustimmung der Mitglieder des Zentralkomitees erhalten hatte, begann ich bereits im Frühjahr mit der Vorbereitung auf diesen Kongress.
Die Vorbesprechungen fanden in meiner Wohnung statt. Der Gedanke, dass Sozialdemokratinnen und Arbeiterinnen als gesonderte Arbeiterinnengruppe am Kongress der Frauenrechtlerinnen teilnehmen sollten, wurde zunächst sowohl von den Bolschewistinnen als auch von den Menschewistinnen ziemlich feindselig aufgenommen. Die einen sahen darin eine Abweichung in Richtung Frauenrechtlertum, die anderen eine Tendenz zu Kompromisslertum und Zusammenarbeit mit den feindlichen bürgerlichen Parteien. Ich war der Ansicht, dass die Teilnahme von Arbeiterinnen an einem Kongress der Frauenrechtlerinnen, ihr Auftreten mit einem eigenen Programm, mit eigenen Resolutionen und sogar einer eigenen Deklaration auf die Massen der Proletarierinnen ungeheure erzieherische Wirkung haben würde. Da ich hinsichtlich der Propagierung der Ideen des Sozialismus gewaltige Hoffnungen auf die Vorbereitung zum Kongress setzte, entschloss ich mich, „eigenmächtig“ zu handeln, und betrieb, gestützt auf den Textilarbeiterverband und später auf das Zentralbüro der Gewerkschaften, diese Vorbereitungen. Bei der intensiven Arbeit halfen mir einzelne Mitglieder des Arbeiterinnenklubs. Anfangs werkelten wir ziemlich herum, wir hatten nicht genügend Verbindungen.
Uns kam es darauf an, die Frauenmassen durch unsere Arbeit möglichst stark zu beeindrucken, sie aufzuwühlen, sie in Bewegung zu setzen, ihre Initiative zu wecken, um so die Arbeiterinnen in die revolutionäre Bewegung einzubeziehen und für die Partei zu gewinnen. Anlässlich des Streiks auf der Wiborger Seite veranstalteten wir erneut eine Kundgebung im Nobel-Haus. Eine Menge Arbeiterinnen hatte sich eingefunden, doch die Polizei ließ uns das Meeting nicht zu Ende führen. Dessen ungeachtet gingen die Arbeiterinnen frohen Mutes auseinander, beeindruckt von dem Gesehenen und Gehörten, und wir gewannen neue Verbindungen. Da es immer schwieriger wurde, Versammlungen durchzuführen, und die Arbeiterinnen noch Angst vor illegalen Versammlungen hatten und diese nur ungern besuchten, betrieben wir unsere Agitation unter dem Deckmantel von „Namenstagsfeiern“. Eine bewusste Arbeiterin lud Freundinnen und Bekannte zum „Namenstag“ in ihr Stübchen ein; ebenfalls als „Freundin“ kam dann eine unserer Agitatorinnen. Bei Kuchen oder auch Hering mit Zwiebel wurde die Sprache auf den bevorstehenden Frauenkongress gebracht. Gewöhnlich bekundeten die Eingeladenen Interesse und baten, dass man doch noch einmal käme, um zu „erzählen“ und zu „erklären“.
Die Kunde von dem bevorstehenden Frauenkongress verbreitete sich rasch in den Werkstätten, und dank unseren Gesprächen gewannen die Arbeiterinnen eine kritische Einstellung zu den Frauenrechtlerinnen und fühlten sich mehr zur Partei hingezogen.
Während legaler, im Zeichen der Kongressvorbereitung stehender Kundgebungen der Frauenrechtlerinnen kamen unsere Arbeiterinnen als „geschlossene Gruppe“, um lautstark zu bekunden, dass es keine Eintracht mit den „Gnädigen“ geben könne. Daraufhin hassten mich die Frauenrechtlerinnen noch mehr, hielten sie mich doch für die Anstifterin dieser „ungehörigen“ Aktionen. So abgrundtief war der Hass der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen auf mich, dass Anna Filossofowa (die Mutter des Schriftstellers D. Filossofow), in der Frauenbewegung eine namhafte Persönlichkeit, nachdem ich sie einmal Geschäfte halber hatte aufsuchen müssen, anschließend in allen Zimmerecken das Kreuz geschlagen haben soll, um meinen „bösen“ revolutionären Geist auszutreiben. Ein andermal musste ich, damit die Ausgaben für die Vorbereitung des Kongresses gedeckt werden konnten, eine Vorlesung halten, bei der Eintrittsgeld verlangt wurde. Leute, die die Vorlesung organisieren konnten, hatten wir kaum, so dass ich selbst die Karten für die „Ehrengäste“ austrug, durch die wir mehr Geld einzunehmen hofften. Die Frau von Professor Sawitsch, eine Kadettin, die nicht wusste, dass ich es war, die ihr die Eintrittskarte brachte, regte sich mächtig darüber auf, dass das „Waisenhaus“ (das „Waisenhaus“ hatte uns als Aushängeschild dienen müssen) einen Vortrag mit dieser „schrecklichen Kollontai“ veranstaltete. Sie wies die Karte kategorisch zurück, gab aber Geld „für das Waisenhaus“.
Parallel zur Vorbereitung des Kongresses arbeitete ich im Frühjahr und Sommer 1908 in aller Eile an meinem Buch Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage [41]. Die Herausgabe bereitete Schwierigkeiten: Das Buch sollte zum Kongress erscheinen, der für Dezember angesetzt war, ich wurde aber erst im September mit dem Buch fertig. Nicht allen behagte dieses Buch. Die Menschewiki fanden, es sei entschieden im „bolschewistischen Geist“ verfasst, und schlugen gewisse Korrekturen vor, die ich kategorisch ablehnte, zumal an den Stellen, wo ich es für notwendig befand, jegliche Zusammenarbeit oder auch nur zeitweilige Absprachen mit Vertreterinnen der Bourgeoisie zu verurteilen. Der Verlag „Snanije“ [42] hatte es übernommen, das Buch herauszubringen, doch zuvor musste es noch an Maxim Gorki nach Capri zur Durchsicht geschickt werden. Irgendwie blieb das Manuskript auf dem Rückweg hängen. Ich hielt es schon für verloren (eine Kopie besaß ich nicht, es war von Hand geschrieben), doch im November traf das Manuskript dann doch ein. Wegen dieser Verzögerung erschien das Buch erst nach dem Kongress, was höchst ärgerlich war. Hätte es den Teilnehmerinnen am Kongress früher vorgelegen, so hätte dies unsere Position noch mehr gefestigt.
Am intensivsten lief die Vorbereitung auf den Kongress im Oktober und November 1908. Gerade im September 1908 nun war wegen des Aufrufs zum „bewaffneten Aufstand“ in der Broschüre über Finnland und wegen der Agitation im Textilarbeiterverband, die von meiner „Zugehörigkeit zur Partei“ zeugte, ein Prozess gegen mich angestrengt worden. Mitten in der eifrigsten Arbeit musste ich in die Illegalität gehen. In den zwei Monaten vor dem Kongress führte ich über 50 (soweit ich mich erinnern kann, waren es 52) Versammlungen mit Arbeiterinnen durch. Legal trat ich selbstverständlich nicht in Erscheinung. Mehrmals kam mir die Polizei auf die Spur, und nur die Selbstlosigkeit der Arbeiterinnen rettete mich. So tauchte während einer Versammlung in den Räumlichkeiten einer Sektion des Metallarbeiterverbandes unverhofft die Polizei auf. Der Sekretär des Verbandes hatte zwar eine Tagesordnung der Gewerkschaft parat, doch meine Anwesenheit hätte alles verderben können. Da band mir eine Arbeiterin rasch ein Kopftuch um und drückte mir ihren Gewerkschaftsausweis in die Hand. So war nicht ich ohne Papiere, sondern die Arbeiterin. Ein anderes Mal (in einem Klub auf der Wiborger Seite) erschien ebenfalls die Polizei. Wir hatten indessen ausgemacht, dass ich Unterricht im Schneidern erteilte, und die Schnitte für Röcke und Blusen überzeugten die Polizei restlos von der Richtigkeit unserer Angaben.
Die Vorbereitung zum Kongress verlangte nicht nur Agitation und die Wahl der Delegierten. Es galt auch, mit den bereits gewählten Delegierten Reden auszuarbeiten. Auf dem Kongress haben von unserer Gruppe wohl fünf Arbeiterinnen gesprochen. Die Ausarbeitung der Referate war ebenfalls eine Art Schule für die Arbeiterinnen. Besonders gut wurde die Rede der Arbeiterin Wolkowa aufgenommen.
Der Gesamtrussische Frauenkongress, der die verschiedenartigsten Schichten der weiblichen Bevölkerung vereinte (von den Damen der Wohltätigkeitsvereine bis zu unserer, nach Auffassung der Frauenrechtlerinnen „flegelhaften“ Arbeiterinnengruppe), fand Anfang Dezember statt. Auf den vorangehenden Konferenzen, die im Klub von Doktor Schabanows Frauenverein für gegenseitige Wohltätigkeit stattfanden, versuchten die Filossofowa und andere, uns zu einer Übereinkunft zu bewegen und Bedingungen zu vereinbaren, unter denen wir einen „Block“ mit den Frauenrechtlerinnen hätten bilden können. Ich muss sagen, dass die Menschewistinnen zur „Blockbildung“ neigten und ich mich in dieser Hinsicht voll und ganz auf die Unversöhnlichkeit und Standhaftigkeit der Vertreterinnen der Bolschewiki stützte. Jekaterina Kuskowa mit ihrer Handvoll Anhängerinnen wünschte, sich der „Gruppe der Arbeiterinnen“ anzuschließen, doch gerade durch sie und ihre Freunde entstand die Gefahr, dass die von uns vorgezeichnete klare, abgrenzende Klassenlinie für das Verhalten auf dem Kongress, welche unweigerlich dazu führen musste, dass wir den Kongress verließen, vereitelt würde.
Kurz vor dem Kongress sanktionierte das Petersburger Komitee unsere Teilnahme, delegierte Vera Sluzkaja auf den Kongress und bestimmte den Genossen Sergej [43] zu unserem Leiter. Als sich das Petersburger Komitee davon überzeugt hatte, welch rückständige Schicht wir anzusprechen vermocht hatten, änderte es seine Einstellung zu unserer Initiative, so dass die gesamte Arbeit auf dem Kongress unter Mitwirkung des bolschewistischen Petersburger Komitees vonstatten ging. Bei der Agitationskampagne geriet ich mehrmals mit dem Provokateur Malinowski aneinander, der unserer Arbeit offenkundig feindselig gegenüberstand. Er hat auf mich immer einen unangenehmen Eindruck gemacht. Heute wundert es mich allerdings, dass er sich, da er doch wusste, dass ich in der Illegalität war, mit mir in Wortgefechte einließ, anstatt meine Arbeit einfach zu vereiteln. Ob er der Einbeziehung von „Weibsbildern“ in unsere Bewegung vielleicht tatsächlich keine Bedeutung beigemessen hat?
Am Kongress nahmen etwa 700 Delegierte des bürgerlichen Flügels teil, während unsere Gruppe 45 Personen zählte. Doch zweifellos richtete nicht nur der Kongress, sondern auch die Behörde ihr wachsames Augenmerk auf die Arbeiterinnengruppe. Jede unserer Wortmeldungen löste einen Sturm aus. Schon der erste Auftritt der Gruppe mit roten Nelken bei der feierlichen Eröffnung des Kongresses im Saal der Stadtduma – wo die verschiedenen Vertreter des öffentlichen Lebens sprachen, von denen keiner weiter links als die Kadetten stand, und wir absichtlich nicht das Wort ergriffen – war eine Art Demonstration, von der die Zeitungen zu berichten wussten. Ich hatte beabsichtigt, auf dem Kongress zwar anwesend zu sein, aber nicht zu sprechen. Natürlich war das unmöglich. Meine Rede mit einzelnen Bemerkungen gab zu heftigsten Debatten Anlass. Am nächsten Tag war der Saal von Polizei umstellt. Ausweiskontrolle. Ich wurde gewarnt, und statt weiter am Kongress teilzunehmen, fuhr ich auf dem schnellsten Wege – die Papiere waren alle vorbereitet – ins Ausland. Meinen schriftlich ausgearbeiteten Diskussionsbeitrag verlas die Arbeiterin Wolkowa. [44] Als das Vorhaben zur Sprache kam, ein „nicht klassengebundenes“ Frauenzentrum in Russland zu bilden, machte die Arbeiterinnengruppe unseren Plan wahr und verließ den Kongress. Das bereitete mir außerordentlich große Genugtuung, obwohl ich gezwungen war, Russland und die mir ans Herz gewachsene Sache zu verlassen.
Ich erinnere mich noch an die kalte Winternacht auf der verschneiten Station Werschbolowo und an jene endlos lange Stunde, da die Papiere überprüft wurden. Den Mantelkragen hochgeschlagen, ging ich auf dem reif bedeckten Bahnsteig auf und ab und hatte nur einen Gedanken: Würde es mir gelingen durchzukommen, oder würde man mich festnehmen? Welche Qual, das Geräusch der Sporen zu hören, die sich bald eilig näherten, bald wieder entfernten! Unwillkürlich kam mir in den Sinn, wann und unter welchen Umständen ich wohl nach Russland zurückkehren würde. Damals dachte ich noch nicht daran und hätte es wohl auch nicht geglaubt, dass ich erst nach acht Jahren wieder nach Russland käme, mitten in den brodelnden Kessel der Revolution hinein, über eine andere Grenze, nachdem ich ein welterschütterndes Ereignis – den langen Krieg in der Atmosphäre der herangereiften sozialen Revolution – miterlebt hatte ...
Unmittelbar vor Abfahrt des Zuges händigte mir ein „Blauberockter“ (ein Gendarm) sporenklirrend meinen Pass aus. Fünf Minuten später lief ich dann „frei“ im Ausland umher, auf dem hell erleuchteten, sauberen, mustergültig eingerichteten deutschen Grenzbahnhof Eydtkuhnen.
In der Emigration war ich von Dezember 1908 bis März 1917, also über acht Jahre. Ich arbeitete während dieser Zeit in Deutschland, England, Frankreich, Schweden, Norwegen, Dänemark, der Schweiz, Belgien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Es waren eine Art Lehrjahre für mich – die Arbeit unter den werktätigen Massen unterschiedlicher Nationalitäten in Zusammenhang mit den Aufgaben, vor denen die sozialdemokratische Partei eines jeden Landes stand –, eine praktische Schule der Arbeit, die in mir die Überzeugung von den schöpferischen Eigenschaften des Proletariats als Klasse stärkte.
Im Ausland ging ich in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, für die ich als Agitatorin, Lektorin und Schriftstellerin tätig war. Ich schrieb für Kautskys Zeitschrift Die Neue Zeit und für die Die Gleichheit [45] (ein führendes Organ der Sozialdemokratie), für eine österreichische Arbeiterinnenzeitschrift sowie für die Parteipresse Englands, Belgiens, Schwedens, Norwegens, Finnlands, der Schweiz, Frankreichs, Polens und der Vereinigten Staaten und arbeitete selbstverständlich auch in der russischen Auslandspresse sowie in legalen marxistischen Zeitschriften Russlands mit.
Im Frühjahr 1909 machte ich als Agitationsrednerin meine erste Rundreise durch Süddeutschland. Meine Agitation war allgemein gehalten, nur in einzelnen Fällen sprach ich auf Versammlungen vor Arbeiterinnen. Damals fuhr ich auch zusammen mit Genossin Clara Zetkin nach England, wo uns eine besondere Aufgabe erwartete: Auf Einladung der Britischen Sozialistischen Partei (des linken, marxistischen Flügels der englischen Bewegung) sollten wir den Kampf gegen die Suffragetten [46] führen und den sogenannten Bund der Wahlrechte für alle Volljährigen unterstützen.
In den Jahren 1909 und 1910 war ich in Deutschland – in Dresden und Berlin – tätig, wohin ich im Auftrag der Zentrale und auf Einladung lokaler Organisationen Agitationsreisen unternahm. Auch unsere russische Partei setzte mich ein; sie betraute mich damit, den russischen Kolonien in Deutschland, der Schweiz und Belgien Besuche abzustatten. Neben Vorträgen über allgemeine politische Themen hielt ich Vorlesungen über Tolstoi, über das Problem von Ehe und Familie, über die Wechselbeziehung zwischen Wirtschaftssystem und Bevölkerungsdichte usw.
Zu jener Zeit stand ich in ununterbrochenem Kontakt zu dem in Paris ansässigen Genossen Tschitscherin (Ornatski), Sekretär des Büros politischer Emigranten. Die politischen Emigranten verdankten seiner unerschöpflichen Energie, Ergebenheit und Selbstaufopferung nicht nur materielle Hilfe und Unterstützung, sondern auch die Herstellung von Verbindungen zwischen den einzelnen Emigrantengruppen und die ständige politische Anleitung. Jeder Arbeiter, der ins Ausland kam, kannte den Genossen Ornatski; an ihn wandten sich Personen der verschiedensten Parteiströmungen um Hilfe. Immer waren sie überzeugt, bei ihm Unterstützung zu finden. Jeder, der in der Emigration irgendwie mit dem Genossen Tschitscherin-Ornatski zusammenarbeitete, wird ihn sein ganzes Leben lang als kristallklare Persönlichkeit, als Beispiel seltener Arbeitsfähigkeit und Selbstaufopferung in Erinnerung behalten.
Eine aktive Rolle bei der Arbeit der russischen Zentren spielte ich damals nicht, da ich gänzlich in der praktischen Tätigkeit aufging. Meine Agitationsreisen jener Jahre haben in meinem 1911 verfassten Buch Durch das Europa der Arbeiter ihren Niederschlag gefunden.
Im August 1910 nahm ich als Delegierte des (russischen) Textilarbeiterverbandes an der II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz [47] und am Internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen [48] teil. Auf der Sozialistischen Frauenkonferenz galt es, sich an der Auseinandersetzung zwischen den zwei Strömungen zur Taktik bei der Erringung des allgemeinen Frauenwahlrechts und zum Problem des Arbeitsschutzes für Frauen zu beteiligen. Diese Auseinandersetzung habe ich in meinem Buch Durch das Europa der Arbeiter sowie in etlichen Artikeln beschrieben, die in der legalen russischen Presse (Sowremenny Mir, Schisn [49] und anderen) erschienen. Dabei unterstützte ich den von Clara Zetkin geführten linken Flügel.
Im Winter 1910/11 übernahm ich es, den Protest von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland angesichts des Schicksals der Abgeordneten der II. Reichsduma zu organisieren. [50] Beginnen musste ich dabei bei den Reichstagsabgeordneten, was es mir ermöglichte, den Reichstag ständig zu besuchen, mich näher mit dem Leben und der Arbeit der Fraktion vertraut zu machen und viele Führungsspitzen der deutschen Partei besser kennenzulernen. Den regsten und tätigsten Anteil an der Organisierung des Protestes nahmen Karl Liebknecht und Oskar Cohn. Liebknecht hatte ich bereits 1906 auf dem Mannheimer Parteitag kennengelernt. Für immer ist mir unser erstes mehrstündiges Gespräch während eines Spazierganges in den Bergen um Heidelberg im Gedächtnis geblieben. Seitdem verbanden mich feste und herzliche kameradschaftliche Beziehungen mit Liebknecht.
Die Emigranten sahen Liebknecht dem Geiste nach als einen der Ihren an. Von allen Führern der deutschen Partei vermochte er sich als einziger in alle Feinheiten der russischen Probleme einzufühlen und war stets über unsere Angelegenheiten im Bilde. Mehr noch, Liebknecht verkörperte jenen echten Geist internationaler Kameradschaft, der vielen Führern der II. Internationale mangelte. Selbst bei August Bebel, dieser klugen und kraftvollen, wahrhaft herausragenden Persönlichkeit der II. Internationale, selbst bei ihm, mit seinem Nimbus ungeheurer Popularität, der sogar von den politischen Gegnern geachtet wurde, kam hin und wieder der Anflug einer Art nationaler Exklusivität, ja eine leichte Spur von Überheblichkeit durch, wenn es um die übrigen Parteien der Welt neben der deutschen Sozialdemokratie ging. Bei Liebknecht spürte jeder vor allem den Kameraden, dann erst den Führer. Und die Russen missbrauchten häufig diese Eigenschaft „Karls“, wie ihn die Emigranten nannten, oder „unseres Karls“, wie ihn die deutschen Arbeiter titulierten.
Die Organisierung des Protestes brachte mich auch mit einigen deutschen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf dem Gebiet der Politik, der Wissenschaft und der Kunst zusammen. Bei der Gelegenheit lernte ich eine interessante Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, die zweiundsiebzigjährige Minna Cauer, näher kennen, die sich der Macht der Jahre nicht beugte und, wenn sie sprach, Tausende, ihr mitunter politisch feindlich gesinnte Zuhörer zu fesseln vermochte.
Zu Kautsky und Rosa Luxemburg ließ ich all diese Jahre die freundschaftlichen Verbindungen nicht abreißen. Auch zu vielen deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen bekam ich Kontakt, der mit der Zeit immer enger wurde. Ich kam mit Lilly Braun zusammen, die sich zwar allmählich von der aktiven Parteiarbeit zurückzog, die ich aber dennoch voller Neugier als markante, originelle Persönlichkeit studierte. Zu Clara Zetkin, Luise Zietz und der betagten Ottilie Baader hatte ich nicht nur im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit, als Genossin, Kontakt, sondern uns verband persönliche Freundschaft, bis es 1912 zu dem Zwischenfall kam, der mit dem Erscheinen meines Buches Durch das Europa der Arbeiter zusammenhing ...
Ich hatte auch Begegnungen mit Wladimir Iljitsch Lenin, 1911 in Paris, als er in Bibliotheken arbeitete, um sein Wissen, das er stets für unzureichend hielt, zu erweitern, Französisch und Englisch lernte, Parteikonferenzen der Bolschewiki einberief, Besprechungen in der Parteischule in Longjumeau [51] führte und – dies vor allen Dingen – die Partei leitete.
Viele waren in jenen Jahren angesichts der grausamen Reaktion und der zaristischen Repressalien, der Galgen und der Gefängnisse deprimiert und pessimistisch. Wladimir Iljitsch dagegen spürte die Vorboten des herannahenden Sturmes und war optimistisch und lebensfroh. Er bereitete die Partei darauf vor, die Führung bei dem neuen Aufschwung der Revolution zu übernehmen ...
Auch zu Russland hatte ich die Verbindung nicht verloren. Im Auftrag der Moskauer Gruppe der Sozialdemokraten in der Fraktion der III. Reichsduma sammelte ich Material und arbeitete den Entwurf eines Gesetzes über Mutterschaftsschutz und -fürsorge aus, und zwar in Zusammenhang mit einer Kampagne, die in Russland auf Grund eines Gesetzes über die staatliche Versicherung der Arbeiter stattfand. Die Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs gab den Anlass zu meiner späteren Arbeit über Versicherung bei Mutterschaft, die den Titel Gesellschaft und Mutterschaft trug.
Im Jahre 1911 wurde erstmals der Internationale Frauentag begangen. Ich sprach in Frankfurt am Main und wirkte auch bei der Vorbereitung dieses Tages mit. Damals versuchte ich, mit aller Kraft durchzusetzen, dass die Arbeiterinnen in Russland diesen Tag in der einen oder anderen Form begingen. Doch es gab keine Organisation, keine Zentrale, die diese Aufgabe hätte übernehmen können. Dennoch ging ich in der russischen Presse auf die Bedeutung dieses Tages ein und schrieb über seine Ergebnisse. So wollte ich darauf hinwirken, dass dieser Tag wenigstens im nächsten Jahr begangen würde.
Im Frühjahr 1911 lebte ich im Pariser Vorort Passy, wo ich in einem Zuge das Buch Durch das Europa der Arbeiter schrieb. Damals war ich häufig zu Gast bei Paul Lafargue und seiner Frau Laura Marx in dem kleinen Ort Draveil. Die Tage und besonders die Abende, die ich in Gesprächen mit den Lafargue, diesen vor Geist und klugem Witz sprühenden, hochgebildeten Veteranen der internationalen Arbeiterbewegung, verbrachte, sind mir tief im Gedächtnis geblieben. Ihr Tod – sie schieden noch im gleichen Jahre freiwillig aus dem Leben – war ein persönlicher Schlag für mich. [52] (Bei der Beisetzung sprach Wladimir Iljitsch Lenin.)
Im Herbst 1911 brach in Paris und in einigen Industriestädten des Nordens der berühmte Streik der Hausfrauen – „la grève des menagères“ – aus. Der durch Teuerung ausgelöste Streik verlief stürmisch: Die Frauen der Arbeiter schlugen auf den Märkten alles kurz und klein; sie kamen zwar mit leeren Einkaufskörben wieder nach Hause, kauften aber keine Vorräte zu Wucherpreisen. Besonders heftig kämpften sie gegen die hohen Milch- und Fleischpreise und forderten die Einführung fester Lebensmittelpreise. Es gab Verhaftungen unter den Hausfrauen; die Antwort darauf waren lautstarke Kundgebungen und Demonstrationen. Diese ganze Bewegung habe ich in Artikeln beschrieben, die im gleichen Jahr in der Nascha Sarja [53] erschienen sind.
Bei Ausbruch des Hausfrauenstreiks weilte ich in Südfrankreich. Unverzüglich kehrte ich nach Paris zurück und stürzte mich kopfüber in diese Bewegung. Ich hatte mehrere Versammlungen am Tage durchzuführen, sprach auf Plätzen und Märkten, in großen Sälen und dunklen, engen Bistros. Unter den rebellierenden Sklavinnen des häuslichen Herdes herrschte froher Mut. Es gab da manche großartige Frau voller Kraft und Energie. Einige besaßen ein Talent zum Reden, von dem sie gar keine Ahnung gehabt hatten. Die Arbeiter unterstützten die Bewegung und riefen mancherorts den Streik aus, um so die Einführung fester Lebensmittelpreise zu fordern. Ende September klang die Bewegung ab. Die Hausfrauen hatten einen Teilsieg errungen: Die bürgerliche Regierung führte über die Munizipalitäten (die örtlichen Selbstverwaltungsorgane) Festpreise ein und veranlasste rasch Fleischkäufe in Argentinien.
In Paris blieb ich bis Januar 1912, nahm dort an der Bewegung gegen die dreijährige Dienstzeit in der Armee und gegen den Militarismus teil. Zweimal fuhr ich von Paris aus nach Belgien, um Agitation zu betreiben. Dabei hielt ich im Auftrag von Tschitscherin-Ornatski Vorlesungen in den russischen Kolonien und sprach auf Einladung der Sozialistischen Partei Belgiens über aktuelle Fragen (damals war ein heftiger Kampf gegen die Klerikalen im Gange). Besonders beeindruckt hat mich die Arbeit in der Borinage, dem belgischen Kohlerevier, wo ein Streik vorbereitet wurde und wo es galt, die Stimmung vorsichtig, doch beharrlich zu beeinflussen. Der Streik brach schon bald nach meiner Abreise aus und endete mit einem Teilsieg; er währte sechs Wochen.
In Brüssel hatte ich Gelegenheit, das erlesene Haus von Vandervelde und seiner „eleganten Frau“ kennenzulernen, wo der Diener das Frühstück auf silbernen Assietten servierte. Die ganze ästhetische Atmosphäre des Salons von Madame Vandervelde, der alle belgischen Berühmtheiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft versammelte, bildete einen schroffen Gegensatz zu den Bildern des Elends, der Schinderei und der erschütternden Arbeitsbedingungen für die Arbeitermassen, die ich auf meiner Agitationsreise durch Belgien gesehen hatte.
Ich entsinne mich, wie ich einmal in irgendeiner Angelegenheit zu Vandervelde musste. Ich kam direkt vom Bahnhof, nachdem ich mehrere Tage in Fabriksiedlungen, im Zug oder auf Feldwegen, wo einem die Füße im Herbstmorast versanken, verbracht hatte. Der befrackte Diener erklärte sich lange Zeit nicht bereit, mich auch nur zu „melden“, und man muss einfach gesehen haben, wie er meinen Mantel, an dem der Schmutz der Feldwege hing, mit zwei Fingern aufhängte. Damals stellte ich mir die Frage: Wie mochten wohl die Arbeiter zu ihrem führenden Vertreter kommen? Wo war der Kontakt zu ihnen, wo die kameradschaftliche Führung? Vandervelde war schon damals auf einen Ministerposten aus.
Dafür ist mir das außerordentlich herzliche und kameradschaftliche Verhältnis der belgischen Arbeiter, ihre teilnahmsvolle Aufmerksamkeit für die Agitatoren in Erinnerung geblieben. Ich weiß noch, wie in Tourcoing, wo gerade schlimme Arbeitslosigkeit herrschte und die Arbeiterfamilien regelrecht Hunger litten, die Genossen, als sie mich nach erfolgreichen Versammlungen bei ihnen zum Bahnhof brachten, mir für unterwegs eine Riesentüte Brötchen mitgaben, für die sie ihr bisschen Geld zusammengelegt hatten. In einer anderen kleinen Ortschaft hatte jemand während des Meetings meine Galoschen weggeschleppt. Zur Bahnstation musste ich zwei bis drei Werst durch dicksten Morast laufen. Die Veranstalter waren ob des Vorfalls sehr aufgebracht. Einige Tage darauf erhielt ich in Brüssel eine Postanweisung über fünf Francs (in russischem Geld waren das damals etwa zwei Rubel) nebst einem Brief von den Arbeitern jenes Ortes, wo meine Galoschen abhanden gekommen waren. Sie teilten mir mit, dass die Galoschen nicht aufgefunden worden seien, so dass die Arbeiter Geld zusammengelegt hätten, damit ich mir neue kaufen könnte. Dazu ist noch zu sagen, dass die Löhne dort extrem niedrig waren und häufig unter zwei Francs am Tag lagen.
Die klerikale Presse entfachte ein Kesseltreiben gegen mich. Den Vorwand dazu boten meine Vorträge über Religion. Es war von Ausweisung die Rede, so dass mir die belgischen Genossen rieten, abzufahren, damit mir Belgien in der Zukunft nicht versperrt wäre.
Im Januar 1912 kehrte ich nach Berlin zurück, wo ich Material für mein geplantes Buch Gesellschaft und Mutterschaft sammelte. Dieses Buch wurde erst 1914 fertig. Es erschien 1915 [54] in Petersburg, im Verlag „Schisn i Snanije“ von Bontsch-Brujewitsch.
Im Frühjahr 1912 lud mich der schwedische sozialistische Jugendverband (der linke Flügel der schwedischen Partei unter Führung von Höglund) zu einer Agitationsreise durch Schweden ein. In Schweden war das Thema des Militarismus und eines neuen Einberufungssystems aktuell. Der linke Flügel vertrat leidenschaftlich einen antimilitaristischen Standpunkt. Branting hingegen war für eine Stärkung der militärischen Macht Schwedens. In Begleitung von Dr. Hannes Sköld (als Dolmetscher) bereiste ich im April etliche schwedische Städte und kleinere Ortschaften, wobei ich bis hoch in den Norden kam und sogar vor schwedischen Matrosen und einer Garnison meine Agitation betrieb. Den 1. Mai beging der Jugendverband (die Linken) mit einer im revolutionär-internationalistischen Geist gehaltenen besonderen Plattform gegen die opportunistisch eingestellten rechten Sozialdemokraten. [55] Abermals zog die bürgerliche Presse gegen mich zu Felde und verbreitete alle möglichen Märchen über mich.
Nach meiner Rückkehr aus Schweden kam es ganz plötzlich zum Konflikt mit der deutschen Partei. In Russland war mein Buch Durch das Europa der Arbeiter [56] erschienen. Darin hatte ich auf die Neigung des Parteiapparates der deutschen Sozialdemokratie zum Opportunismus und auf seine zunehmende Bürokratisierung hingewiesen. Verschiedentlich hatte ich das „Generalsgehabe“, die Blasiertheit und die Arroganz führender Leute verspottet und dem bürokratischen Dünkel und Konservatismus der Parteiführung das gesunde Klassenempfinden der einfachen Parteimitglieder gegenübergestellt. Die deutschen Genossen hatten mein Buch nicht lesen können, denn es war in Russisch erschienen, aber ein paar Leute befleißigten sich, es den Deutschen als Satire auf die deutsche Partei, als verleumderisches Pamphlet darzustellen, das den Feinden der Arbeiterklasse nützen könnte. Die Parteiführung war aufgebracht. Von Kautsky kam ein Brief, der eine „Abfuhr“ enthielt; mit unseren persönlichen Beziehungen war es vorbei. Von verschiedenen Seiten trafen von Deutschen, die unlängst noch meine Freunde gewesen waren, kühle Briefe ein, in denen von meinem „infamen“ Betragen gegenüber der deutschen Sozialdemokratie die Rede war. Es hieß darin, dass die deutsche Partei mit mir eine „Schlange“ an ihrem Busen genährt hätte: Man habe mich in die Partei aufgenommen, mich wie einen Genossen arbeiten lassen, mir Einblick in alle Seiten des Parteilebens gewährt, und so hätte ich es der Partei nun „vergolten“. Vergebens bemühte ich mich damals darum, dass die Genossen mein Buch erst einmal lasen. Das Vorurteil, das die üble Nachrede in Zusammenhang mit meinem Buch bewirkt hatte, war nicht mehr zu erschüttern. Die deutschen Genossen wandten sich von mir ab, sie fühlten sich gekränkt für die „stärkste und beste Partei der Welt“.
Allein Karl Liebknecht, der das „unglückselige“ Buch kannte, empörte die Voreingenommenheit der Parteiführung, deren Angst vor Kritik. Er fuhr zu einer Aussprache mit dem Parteivorstand, aber da keine konkreten Maßnahmen gegen mich eingeleitet worden waren, vermochte auch sein Eingreifen nichts zu bewirken – das Vorurteil blieb bestehen. Den Sommer 1912 verbrachte ich in äußerst schlechter seelischer Verfassung in einer Arbeitersiedlung bei Berlin (Zeuthen), einem Metallarbeiterdomizil, wo ich an meinem Buch Gesellschaft und Mutterschaft arbeitete. Zur Agitation zog mich die deutsche Partei nicht mehr heran.
Im September kam von den englischen Genossen eine Einladung zum Kongress der Trade-Unions in Newport [57]. Selbstverständlich ging ich auf das Angebot ein, zumal mir für die Arbeit an meinem Buch englische Quellen und Materialien fehlten. Während meines Englandaufenthaltes im Jahre 1912 studierte ich speziell die Beteiligung der Frauen an der Genossenschaftsbewegung, lernte die führenden Vertreter dieser Bewegung, Margaret Bondfield und Davis, kennen und knüpfte Kontakt zur Arbeiterjugend, den Organisatoren der sozialistischen Arbeiteruniversitäten. Obwohl an diesen Universitäten nach der „Marxschen Schule“ unterrichtet wurde, herrschte unter den Jugendlichen der Geist des Syndikalismus; dafür waren bei ihnen revolutionäre Kühnheit und Entschlossenheit zu spüren, die der Führung des alten Trade-Unionismus fehlten.
Auf dem Kongress kam es zur Auseinandersetzung zwischen zwei Strömungen in Zusammenhang mit der neuen Taktik der Trade-Unions und der Arbeiterpartei [58]. Die Linken traten für stärker ausgeprägte Klassenpolitik und für die Unterstützung von „Massenaktionen“ ein. So hatte ich nicht nur auf dem Kongress die Linken zu unterstützen, sondern musste auch in einigen dem Kongress vorausgehenden Konferenzen gegen die alten Tradeunionisten zu Felde ziehen. Henderson, damals Sekretär der Arbeiterpartei, behinderte in jeder Weise die Anerkennung meines Mandats, doch wurde es von Tom Mann und anderen Vertretern der damaligen Linken verteidigt.
Die Arbeit im Britischen Museum ergab reichhaltiges Material für mein Buch, so dass ich mit dem festen Vorsatz nach Berlin zurückkehrte, die begonnene Arbeit schleunigst zu Ende zu führen. Stattdessen musste ich jedoch erneut die Suppe auslöffeln, die ich mir mit meinem Buch Durch das Europa der Arbeiter eingebrockt hatte. Während meiner Abwesenheit hatte ein anonymer Verfasser (wie sich dann herausstellte, war es ein Russe gewesen) an das Zentralorgan der Gewerkschaften Deutschlands eine Rezension gesandt, in der er zu beweisen suchte, dass das Buch die Frucht „offenen“ Renegatentums, ein Absage an die Sozialdemokratie usw. sei. Selbstverständlich waren die Passagen angeführt worden, in denen nicht sehr respektvoll von der Führung der Partei gesprochen beziehungsweise der Parteibürokratismus verurteilt wurde. So musste ich mich nicht nur in eine Polemik einlassen, sondern auch zu einer Aussprache mit den Führern der Gewerkschaftsbewegung fahren. Legien war besonders darüber empört, dass ich es gewagt hatte, die deutsche Partei des Opportunismus zu „verdächtigen“. (Legien und Scheidemann erwogen sogar, mich aus Deutschland ausweisen zu lassen.) Die Hohlheit der Spitzen der Partei ging schon damals so weit, dass jedes kritische Wort, und mochte es auch noch so gerechtfertigt sein, von ihnen als Beleidigung „Ihrer Majestät der Sozialdemokratie“ angesehen wurde. Jedwede Ironie gegenüber Meier oder Schulze galt ihnen als klarer Beweis für „Verrat am Sozialismus“.
Eine Antwort auf die Rezension über mein Buch verfasste Liebknecht. Doch der anonyme Schreiberling konnte sich einfach nicht beruhigen. Er ließ einen neuen Artikel vom Stapel, in dem er zweideutige Anspielungen auf meine Person machte: „Aus welchem Grund behält die deutsche Polizei eigentlich eine russische politische Emigrantin in Berlin? Da stimmt doch etwas nicht!“ Auf diese Niederträchtigkeit antworteten die russischen Genossen mit einem Protestschreiben, wobei aufschlussreich ist, dass bekannte Namen, wie Maxim Gorki, Anatoli Lunatscharski und andere, unter dem Schreiben standen; auch Karl Liebknecht setzte seinen Namen darunter.
Äußerlich war der Zwischenfall beigelegt, doch es vergingen noch viele Monate, ehe meine Beziehungen zur deutschen Partei wiederhergestellt waren. Die persönliche Freundschaft zu einigen Genossen war dabei für immer in die Brüche gegangen. Ich bin deshalb so ausführlich auf diesen im Grunde nichtigen Vorfall eingegangen, weil er charakteristisch für die Atmosphäre war, die in der deutschen Partei vor dem Kriege herrschte, und weil er für mich persönlich große Bedeutung besaß.
Im November 1912 wurde angesichts der abzusehenden Komplikationen in den internationalen Beziehungen der Mächte und in Zusammenhang mit dem Balkankrieg ein Außerordentlicher Internationaler Sozialistenkongress nach Basel [59] einberufen. Da dank der Ankunft von Genossen aus Russland meine Verbindungen zu den russischen Arbeiterinnen wiederaufgelebt waren, wurden mir zwei Mandate für den Internationalen Kongress zugesandt – eines vom Textilarbeiterverband und eines von den Näherinnen. Nach dem Kongress blieb ich für einige Zeit zur Agitation in der Schweiz.
Im Februar 1913 lud mich die schweizerische Partei erneut ein, damit ich den Frauentag vorbereitete. Die Initiative zu dieser Einladung war vom linken Flügel der Partei unter Genossen Platten ausgegangen. Von der Schweiz aus fuhr ich nach Paris, von dort nach Belgien, um Vorträge in den russischen Kolonien zu halten und in den Industriegebieten Belgiens Agitation zu betreiben. Nach meiner Rückkehr aus Belgien widmete ich mich ausschließlich der literarischen Arbeit, was teils durch das gespannte Verhältnis zur deutschen Partei, teils durch meinen Gesundheitszustand bedingt war. Damals schrieb ich den Artikel Die neuen Frauen sowie eine Reihe anderer Beiträge über Probleme des Geschlechts (sie sind in Nowaja Schisn [60] erschienen).
In den Jahren 1912 und 1913 gelang es mir, dazu beizutragen, dass der Frauentag am 23. Februar (8. März) 1913 in Russland begangen wurde. Dieser Tag wurde durch eine Sonderausgabe zweier – damals legal erscheinender – Zeitungen gewürdigt, der bolschewistischen Prawda [61] und des menschewistischen Lutsch [62]. Bezeichnend war, dass ich an den Blättern beider Fraktionen unmittelbar mitarbeitete [63]
Den Sommer 1913 verbrachte ich bis in den Spätherbst (Mitte November) hinein in England, und zwar vorwiegend in London. Das war die Zeit, als die Beilis-Affäre [64] nicht nur in allen revolutionären Kreisen, sondern auch bei den ehrlich denkenden Menschen ganz allgemein lebhaftes Echo auslöste. In London beteiligte ich mich aktiv an der Agitation zur Beilis-Affäre. Gemeinsam mit der finnischen Landtagsabgeordneten Hilja Pärsinen untersuchte ich damals die Organisation der Sozialhilfe für Mütter und der Kinderfürsorge in England und hielt im Bebel-Haus Vorträge vor Arbeiterinnen. Vor allem aber arbeitete ich an meinem Buch Gesellschaft und Mutterschaft.
Als ich Ende 1913 nach Deutschland zurückkam, fand ich, dass von der Atmosphäre der Feindseligkeit mir gegenüber längst nicht mehr so viel zu spüren war. Die deutsche Übersetzung von Durch das Europa der Arbeiter machte als Manuskript in der Parteiführung die Runde, und die objektiveren Genossen konnten sich davon überzeugen, dass sein Inhalt auf jeden Fall keinen Anlass bot, mich der „Untreue“ und des „Verrats“ zu bezichtigen. Clara Zetkin schrieb mir als erste dazu einen freundschaftlichen Brief. Es wurde über die Herausgabe des Buches in deutscher Sprache verhandelt, aber dann kam der Krieg dazwischen. Ich wurde wieder zur Parteiarbeit herangezogen.
Zu jener Zeit waren das Parteileben und die Parteiarbeit in Russland erheblich intensiver und lebhafter geworden. Das zeigte sich sogleich in stärkeren Verbindungen zu Russland. In Russland gewann die Bewegung an Reife. Einen allgemeinen Aufschwung bewirkte auch das fast gleichzeitige Erscheinen zweier Zeitschriften für Arbeiterinnen – einer bolschewistischen und einer menschewistischen. [65] Das Leben selbst hatte verwirklicht, worum ich mich in den vorangegangenen Jahren eifrig bemüht hatte. Ich arbeitete damals an der (menschewistischen) Zeitschrift Golos Rabotnizy mit.
Zur gleichen Zeit kam es zu Reibereien zwischen den Menschewiki und mir in der Berliner Gruppe. Den ersten Anlass dazu lieferte die Ausweisung Lunatscharskis aus Berlin, wohin er gekommen war, um in der russischen Kolonie Vorträge zu halten. Die Kolonie war bei dieser Gelegenheit mehr als feige, was mich gegen diese Haltung protestieren ließ. Die Misshelligkeiten zwischen uns nahmen noch zu, als es um die Bildung eines besonderen Zentrums in Berlin für die Verstärkung der Verbindungen zu Russland und für eine intensivere Arbeit der Emigranten in Berlin ging. Obwohl in Berlin eine Menge russischer Arbeiter lebten, waren sie nicht in die Kolonie eingegliedert; mein Vorschlag, die Zentrale auch für die Arbeiter zu öffnen, wurde als Demagogie aufgefasst. Die Führungsgruppe in der Kolonie war der Ansicht, dass der Zentrale Leute „mit Erfahrungen in der konspirativen Tätigkeit“ angehören müssten, die feste Verbindungen zur deutschen Partei hatten. Diese Eigenschaften besaßen jedoch nur die „alten Parteiemigranten“. Es kam zu einer Art Scheidung der Kolonie in „Führungsschicht und Fußvolk“. Ich stand auf der Seite des Fußvolkes, was unweigerlich zu Meinungsverschiedenheiten führte.
Angesichts des für August geplanten Internationalen Kongresses und der Konferenz in Wien [66] ruhte meine literarische Arbeit. Frühjahr und Sommer 1914 vergingen mit der verstärkten Vorbereitung der Konferenz; ich schrieb Artikel für Arbeiterinnenzeitschriften in verschiedenen Sprachen und sammelte Material für ein Referat über die soziale Fürsorge bei Mutterschaft, das ich auf der Internationalen Konferenz halten wollte. Zur gleichen Zeit verfasste ich die Broschüre Die werktätige Mutter und für die russische Presse eine Reihe von Beiträgen zu Fragen der Versicherung.
Ende Mai fand in Berlin eine Tagung des Internationalen .Sozialistischen Büros statt, auf der es um die Einberufung der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz ging. Ich gehörte dem Büro als Korrespondentin Russlands vom Internationalen Frauensekretariat an, dessen Mitglied ich noch von Stuttgart her war (seit Anfang 1914 gehörte dem Sekretariat als Vertreterin der Bolschewiki auch Genossin Ines [67] an). Es lag Pulvergeruch in der Luft; die ganze Atmosphäre war gespannt. Das Büro organisierte in Berlin eine imposante Kundgebung der Arbeiterinnen gegen Krieg und Militarismus. Das Eingreifen der Polizei hinderte mich am Reden; meine Rede wurde dann schriftlich verbreitet. Obwohl sie mit dem Pseudonym Dawydowa unterschrieben war, begann mich die Polizei offen zu beschatten: Meine Zimmerwirtin wurde verhört, und auch andere Anzeichen sprachen für eine mögliche Ausweisung. Ich fuhr nach Bayern, doch als der Krieg erklärt wurde, kehrte ich auf schnellstem Wege von dort zurück ...
1. Die Neue Zeit – theoretische Zeitschrift der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die von 1883 bis 1923 in Stuttgart erschien. Nach dem Tode von Friedrich Engels begann die Zeitschrift, auf die Positionen des Revisionismus überzuwechseln. Bis 1917 wurde sie von Karl Kautsky redigiert.
2. Nautschnoje Obosrenije (Wissenschaftliche Revue) – wissenschaftliche Monatsschrift für Philosophie und Literatur, die von 1901 bis 1903 in Petersburg erschien. Sie veröffentlichte Alexandra Kollontais Artikel Industrie und Handel im Großfürstentum Finnland (Nr. 7, 1901), Die Landfrage in Finnland (Nr. 2/3, 1902) und Holzflößer in Finnland (Nr. 9, 1902).
3. Mit Bobrikow-Herrschaft ist die Politik des Polizei- und Gendarmerieregimes gemeint, die von dem zaristischen Generalgouverneur N. I. Bobrikow in Finnland betrieben wurde, in dessen Amtszeit (1898–1904) der Druck durch Zensur und Administration sowie die Willkür der zaristischen Regierung besonders grausam waren.
4. Sozialpolitisches Centralblatt, auch Soziale Praxis – Zeitschrift für Sozialpolitik, die von 1892 bis 1943 in Berlin und Leipzig herausgegeben wurde.
5. Obrasowanije (Die Bildung) – pädagogische und populärwissenschaftliche Zeitschrift, die in der Zeit von 1892 bis 1909 monatlich in Petersburg erschien.
6. Sarja (Die Morgenröte) – marxistische wissenschaftlich-politische Zeitschrift, die von der Iskra-Redaktion in den Jahren 1901 und 1902 legal in Stuttgart herausgegeben wurde. Eigentlicher Redakteur der Zeitschrift war Lenin. Aktiv wirkte Plechanow an der Sarja mit. In der Zeitschrift (Nr. 4, 1902) wurde auch Alexandra Kollontais Artikel Der Sozialismus und Finnland veröffentlicht.
7. Der Wortlaut der Rede von Alexandra Kollontai auf der Studentenversammlung wurde nicht veröffentlicht. Das Manuskript wird im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt (F. 134).
8. Als „Oswoboschdenzen“ wurde die liberale bürgerliche Intelligenz bezeichnet, die sich um den Bund der Befreiung, die illegale politische Organisation der russischen liberalen Bourgeoisie, und dessen Auslandsorgan, die Zeitschrift Oswoboschdenije (Die Befreiung), scharte. Die Zeitschrift wurde von 1902 bis 1905 zunächst in Stuttgart und später in Paris herausgegeben. Redakteur der Zeitschrift war der ehemalige legale Marxist P. B. Struve. Die „Oswoboschdenzen“ bildeten den Kern der Kadetten, der größten bürgerlichen Partei Russlands, die im Jahre 1905 gegründet wurde.
9. Gemeint ist die Prawda (Die Wahrheit) – menschewistische Monatsschrift für Kunst, Literatur und Gesellschaft. Sie erschien von Januar 1904 bis Februar 1906 in Moskau.
10. Alexandra Kollontais Arbeit Zur Frage des Klassenkampfes wurde in den Sammelband Ausgewählte Aufsätze und Reden aufgenommen, der 1972 bei Politisdat, Moskau, erschienen ist.
11. Im Listok Oswoboschdenija“ (Blatt der Befreiung), Nr. 22/23 von 1904, wurde eine Notiz über dieses Meeting veröffentlicht.
12. Offensichtlich handelt es sich um die illegale Zeitung des Petersburger Komitees der SDAPR Peterburgskaja Rabotschaja Nedelja (Petersburger Arbeiterwoche); eine Nummer dieser Zeitung erschien am 20. März 1905.
13. Gemeint ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Flugblatt des Petersburger Komitees der SDAPR über die Konstituierende Versammlung.
14. Fabritschny Westnik (Fabrikbote) – Fachzeitschrift der Arbeiter der Textilindustrie; erschien 1909 monatlich in Petersburg.
15. Alexandra Kollontais Aufsatz Probleme der Moral unter positivem Blickwinkel und der zu einem analogen Thema geschriebene Artikel Ethik und Sozialdemokratie wurden in der Zeitschrift Obrasowanije (Nr. 9, 1905 und Nr. 2, 1906) veröffentlicht.
16. Feminismus – um die Jahrhundertwende entstandene bürgerliche Frauenbewegung, die für die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau im Rahmen des bürgerlichen Staates kämpfte. Ihr Programm enthielt Forderungen wie aktives und passives Wahlrecht für die Frauen, das Recht auf Bildung, das Recht, staatliche Ämter zu bekleiden, und das Recht, selbständig Handel zu treiben und ein Unternehmen zu führen. Russischer
17. Verein für gegenseitige Wohltätigkeit – bürgerliche Frauenorganisation, gegründet 1899. Mitglieder der Gesellschaft waren geistig arbeitende Frauen.
18. Die demokratischen Schichten Russlands stellten in der Regel vier Forderungen zur Vervollkommnung des Wahlsystems: allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht. Diese Forderungen wurden kurz die „Vierpunkteformel“ genannt. Alexandra Kollontai meint die Ergänzung durch eine fünfte Forderung – die Forderung, dass das Wahlsystem auch für die Frauen gelten solle.
19. Bund der Gleichberechtigung der Frau – Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene feministische Organisation. Der Bund forderte die politische Gleichberechtigung der Frau und das Recht der Frauen, verschiedene Berufe auszuüben. Nach der Niederlage der ersten russischen Revolution hörte er auf zu existieren.
20. Schidlowski-Kommission – besondere Regierungskommission „zur unverzüglichen Klärung der Ursachen für die Unzufriedenheit der Arbeiter ...“ Sie wurde am 29. Januar 1905 in Zusammenhang mit der Streikbewegung nach dem Blutsonntag gebildet. Mit der Bildung dieser Kommission wollte der Zarismus die Arbeiter von ihrem revolutionären Kampf abhalten. Die Bolschewiki nutzten die Wahlen für die Kommission, um die Manöver der Regierung zu entlarven und die Massen politisch zu erziehen.
21. Bund des russischen Volkes – monarchistische Schwarzhunderterorganisation in Russland, die im Oktober 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründet worden war.
22. Der Petersburger Sowjet der Arbeiterdeputierten wurde am 13. (26.) Oktober 1905 gebildet. Die erste Tagung des Sowjets fand nachts statt. In der Folgezeit wurden auch in Moskau und anderen Städten Sowjets der Arbeiterdeputierten geschaffen.
23. Lenin kam am 8. November (alter Stil) 1905 nach Petersburg. Die erwähnte Begegnung fand offensichtlich Mitte November in einem Raum des Technologischen Instituts (Sagorodny-Prospekt Nr. 49) bei einer Diskussion mit den Menschewiki über die Agrarfrage statt.
24. Wperjod (Vorwärts) – legale bolschewistische Tageszeitung, die ab 26. Mai (8. Juni) 1906 in Petersburg erschien; nach dem Erscheinen der Nummer 17 vom 14. (27.) Juni wurde sie verboten.
25. Gemeint ist die Zeitung Nowaja Schisn (Neues Leben) – erste legale bolschewistische Tageszeitung, die vom 27. Oktober bis 3. Dezember 1905 (alter Stil) in Petersburg erschien. Faktisch war sie das Zentralorgan der SDAPR.
26. Frauenfortschrittspartei – zahlenmäßig kleine bürgerlich-liberale Organisation, deren Organ die Zeitung Schenski Westnik (Blatt der Frau) war. Redakteur war die Ärztin M. I. Pokrowskaja. Das Blatt wurde von 1904 bis 1917 in Petersburg herausgegeben und spiegelte die Versuche der Bourgeoisie wider, die Arbeiterbewegung zu spalten und die Arbeiterinnen vom Klassenkampf abzuhalten.
27. Gemeint ist die von Nadeschda Krupskaja unter dem Pseudonym Sablina 1901 herausgegebene Broschüre Die arbeitende Frau.
28. Der Mannheimer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fand im September 1906 statt. Auf ihm wurden Probleme des politischen Massenstreiks und der Gewerkschaften erörtert. Die 4. Konferenz sozialdemokratischer Frauen Deutschlands, die zur gleichen Zeit stattfand, diskutierte über Fragen des Kampfes für das Wahlrecht der Frauen, der Agitation unter den Landarbeiterinnen, der Einbeziehung von Hausangestellten in die Frauenbewegung usw. Zu allen Problemen wurden Resolutionen verabschiedet, die zur Verstärkung des Kampfes für die Rechte und Forderungen der Frauen aufriefen.
29. Die I. Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Stuttgart fand vor der Eröffnung des VII. Internationalen Sozialistenkongresses der II. Internationale statt. Anwesend waren 58 Delegierte aus 15 Ländern. Die Konferenz hatte die Aufgabe, eine einheitliche Taktik der sozialistischen Parteien im Kampf für das Wahlrecht der Arbeiterinnen bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht für beide Geschlechter festzulegen.
30. Der VII. Internationale Sozialistenkongress der II. Internationale fand vom 18. bis 24. August 1907 in Stuttgart statt. Die Delegation der Bolschewiki wurde von Lenin geleitet, der Großes leistete, um die linken Kräfte in der internationalen Sozialdemokratie zusammenzuschließen. Der Kongress verabschiedete einen Beschluss über den Kampf der Sozialisten gegen den herannahenden Krieg.
31. Auf der Stuttgarter Frauenkonferenz wurde ein Internationales Frauensekretariat gegründet, dem Clara Zetkin vorstand. Eine der Aufgaben des Sekretariats war es, Informationsmaterial über die Frauenbewegung zu sammeln und die sozialistische Frauenbewegung zu leiten. Der Verlauf der Konferenz und die auf ihr geführten Diskussionen bilden das Thema mehrerer Aufsätze Alexandra Kollontais sowie ihrer Broschüre Internationale Beratungen sozialistischer Arbeiterinnen, die 1918 erschienen ist. Der Wortlaut der Broschüre ist in gekürzter Fassung in dem Buch enthalten: A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, Moskau 1972, russ.
32. Auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale waren Delegierte aus 25 Ländern der Welt – aus Argentinien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Italien, Norwegen, Österreich, Polen, Russland, den Vereinigten Staaten von Amerika usw. – anwesend. Die Gesamtzahl der Delegierten betrug 884. Am stärksten waren die Delegationen Deutschlands mit 289 Mitgliedern und Englands mit 123 Mitgliedern; aus den USA waren 22 Delegierte zugegen.
33. Lenin arbeitete in der Kommission, die die Resolution des Kongresses Der Militarismus und die internationalen Konflikte vorbereitend erörterte. Zusammen mit Rosa Luxemburg vertrat er den revolutionär-marxistischen Flügel innerhalb der Kommission.
34. Der Text der Resolution lautet exakt: „Der Kongress betrachtet es deshalb als Pflicht der arbeitenden Klasse und insbesondere ihrer Vertreter in den Parlamenten, unter Kennzeichnung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und der Triebfeder für die Aufrechterhaltung der nationalen Gegensätze mit allen Kräften die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern, sowie dahin zu wirken, dass die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverbrüderung und des Sozialismus erzogen und mit Klassenbewusstsein erfüllt wird ... “ (Die revolutionäre Arbeiterbewegung im Kampf um den Frieden 1848–1964, Dokumente, Berlin 1964, S. 23–26.)
35. Die Formulierung ist nicht ganz exakt. Wie Lenin selbst schreibt, wurde in den Abänderungsanträgen, die die Linken zu der von August Bebel ausgearbeiteten Resolution machten, „die Aufgabe der Sozialdemokratie, nicht nur gegen den Ausbruch von Kriegen oder für die rasche Beendigung bereits ausgebrochener Kriege zu kämpfen, sondern auch die durch den Krieg herbeigeführte Krise auszunutzen, um den Sturz der Bourgeoisie zu beschleunigen“, hervorgehoben. (W. I. Lenin: Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart) Die von den Linken eingebrachten Zusätze zur Resolution wurden angenommen und in vollem Wortlaut eingefügt.
36. Die zaristische Regierung löste am 3. (16.) Juni 1907 die II. Reichsduma auf (sie war erst ein halbes Jahr zuvor, am 20. Februar [5. März] 1907, gebildet worden). Die sozialdemokratische Fraktion der Duma wurde verhaftet. Gleichzeitig wurde ein neues Wahlgesetz erlassen, das den Gutsbesitzern und der Großbourgeoisie die ungeteilte Mehrheit in der III. Duma sicherte. Der 3. Juni 1907 ist als Tag des konterrevolutionären Staatsstreichs in die Geschichte des Landes eingegangen.
37. Der Textilarbeiterverband und das Zentrale Gewerkschaftsbüro waren in dieser Zeit vorwiegend menschewistisch.
38. Alexandra Kollontai bezeichnet diese Politik nach dem polnischen Sozialisten W. K. Machaiski als „Machaiski-Kurs“. Es handelt sich dabei um eine dem Marxismus feindliche kleinbürgerliche anarchistische Strömung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Russland entstanden war. Das konterrevolutionäre und reaktionäre Wesen des „Machaiski-Kurses“ zeigte sich in bösartigen Verleumdungen, im Anprangern der revolutionären Intelligenz, wodurch Zwietracht zwischen ihr und der Arbeiterklasse gesät werden sollte.
39. Alexandra Kollontais Broschüre Finnland und der Sozialismus erschien 1906. Ein Aufsatz dieses Buches, Bourgeoisie und Proletariat Finnlands (Charakteristik der Ereignisse von 1905 und der ersten Hälfte des Jahres 1906), wurde mit einigen Kürzungen in den Sammelband A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 45–60, russ., aufgenommen. Der Artikel „Finnland an der Wahlurne wurde in der Zeitung Russkaja Schisn (Russisches Leben) vom 2. März 1907 veröffentlicht.
40. Der I. Gesamtrussische Frauenkonress fand vom 10. bis 16. (23.–29.) Dezember 1908 in Petersburg statt. Etwa 700 der anwesenden Delegierten vertraten die Kadettenpartei; ferner war auf dem Kongress eine Gruppe von Arbeiterinnen und Vertreterinnen der Intelligenz (45 Delegierte) anwesend. Die Veranstalter des Kongresses, die Feministinnen, wollten ihn unter die Losung stellen: „Die Frauenbewegung darf weder bürgerlich noch proletarisch sein – sie ist von einer für alle Frauen gültigen Idee getragen.“ In ihren Reden deckten die Delegierten der Arbeiterinnen den Klassengegensatz zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung auf. Unter dem Druck der Arbeiterinnen nahm der Kongress Resolutionen zum Arbeitsschutz für Frauen und Kinder, zur Stellung der Bäuerin usw. an. Die Arbeiterinnen schlugen ferner eine Resolution vor, die das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht forderte. Das Präsidium weigerte sich, diese Resolution zu verlesen, und ersetzte sie durch eine andere, im Geiste des bürgerlichen Liberalismus verfasste Resolution. Daraufhin verließ die Gruppe der Arbeiterinnen zum Zeichen des Protests den Kongress. Alexandra Kollontai hatte sich aktiv daran beteiligt, die Gruppe der Arbeiterinnen auf den Kongress vorzubereiten.
41. Alexandra Kollontais Buch Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage (St. Petersburg 1909, russ.) ist die erste grundlegende Arbeit der Autorin zur Frauenfrage (27 Druckbogen). In der russischen Literatur war dies nach der 1901 erschienenen Broschüre Die arbeitende Frau von Sablina (Pseudonym Nadeschda Krupskajas) das zweite Buch, in dem marxistische Ansichten zur Frauenfrage entwickelt wurden. Die Einleitung zu dem Buch, in der das Problem dargelegt wird, wurde in den Sammelband A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 61 bis 81, russ., aufgenommen.
42. „Snanije“ – Buchverlagsgenossenschaft, die von 1898 bis 1913 in Petersburg bestand; sie diente ursprünglich der Aufklärung und wurde mit Gorkis Eintritt (1900) zum Verlag für schöngeistige Literatur für breite demokratische Leserkreise umgestaltet.
43. Der Name des Leiters der Arbeitergruppe auf dem Gesamtrussischen Frauenkongress 1908 konnte nicht genau ermittelt werden. In den Listen der Mandatskommission des Kongresses ist S. G. Berednikow angegeben. Er hielt auf dem Kongress das Referat Die Beteiligung der Frauen an der Selbstverwaltung auf dem Lande.
44. Der Wortlaut von Alexandra Kollontais Referat Die Arbeiterin in der modernen Gesellschaft auf dem I. Gesamtrussischen Frauenkongress wurde nicht aufgefunden. Warwara Wolkowa, eine Arbeiterin von der Narwskaja Sastawa, verlas als Delegierte der Arbeiterinnengruppe Alexandra Kollontais Referat auf dem Kongress. In dem Referat wurden die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Frauen arbeiteten, eingehend untersucht, und es wurde nachgewiesen, dass die „Frauenfrage“ vor allem eine Frage des „täglichen Sattwerdens“ und der Befreiung der Frau von kapitalistischer Ausbeutung ist.
45. Die Gleichheit – sozialdemokratische Zeitschrift, Organ der Arbeiterfrauenbewegung in Deutschland, später Organ der internationalen sozialistischen Frauenbewegung; sie erschien von 1891 bis 1923 halbmonatlich in Stuttgart; von 1892 bis 1917 wurde sie von Clara Zetkin redigiert.
46. Suffragetten – Angehörige der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzten. Die Suffragetten wandten eine Obstruktionstaktik an, veranstalteten Straßenkundgebungen und störten in jeder Weise die öffentliche Ordnung. Die Bewegung der Suffragetten stützte sich nicht auf die werktätigen Frauen und wurde keine Massenbewegung.
47. Gemeint ist die II. Internationale Frauenkonferenz, die im August 1910 in Kopenhagen stattfand. Auf der Konferenz waren etwa 100 Delegierte aus 17 Ländern anwesend. Auf der Tagesordnung standen folgende Fragen: 1. soziale Fürsorge für Mutter und Kind, 2. Mittel und Wege zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts und 3. Herstellung engerer Beziehungen zwischen den sozialistischen Frauenorganisationen aller Länder als eine Methode zur Verstärkung der Arbeit unter den Frauen.
48. Der VIII. Internationale Sozialistenkongress der II. Internationale fand vom 28. August bis 3. September 1910 in Kopenhagen statt. Die SDAPR wurde auf dem Kongress durch W. I. Lenin, G. W. Plechanow, A. M. Kollontai, A. W. Lunatscharski und andere vertreten. In der Resolution zur Frage des Kampfes gegen die Kriegsgefahr Schiedsgerichte und Abrüstung bekräftigte der Kongress die auf dem Stuttgarter Kongress (1907) verabschiedete Resolution Der Militarismus und die internationalen Konflikte, die die von Wladimir Iljitsch Lenin und Rosa Luxemburg vorgeschlagenen Zusatzanträge enthielt, in denen die Sozialisten aller Länder aufgefordert wurden, die durch den Krieg hervorgerufene ökonomische und politische Krise für den Sturz der Bourgeoisie zu nutzen.
49. Sowremenny Mir (Die Welt der Gegenwart) – Monatsschrift für Literatur, Wissenschaft und Politik; sie erschien von 1906 bis 1918 in Petersburg. Die engsten Mitarbeiter der Zeitschrift waren Menschewiki. In der Periode des Blocks der Bolschewiki mit den parteitreuen Menschewiki arbeiteten am Sowremenny Mir auch Bolschewiki mit.
Schisn (Das Leben) – illustrierte literarisch-künstlerische und populärwissenschaftliche Monatsschrift bürgerlich-liberaler Prägung, die in den Jahren 1906 und 1907 in Petersburg herausgegeben wurde.
50. Es geht um das Schicksal der Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion der II. Reichsduma, die auf Grund von Beschuldigungen, die die zaristische Geheimpolizei zusammengezimmert hatte, in der Nacht zum 3. Juni 1907 von der zaristischen Regierung festgenommen wurden (am Morgen des 3. Juni wurde die Duma aufgelöst). Vor Gericht wurden 55 Mitglieder der Fraktion verurteilt. Zwei von ihnen starben während der Haft. Lenin, das Internationale Sozialistische Büro der II. Internationale und viele ausländische sozialdemokratische Parteien setzten sich für die Abgeordneten ein.
51. Die Parteischule in Longjumeau (bei Paris) wurde im Frühjahr 1911 unter Führung W. I. Lenins organisiert. Hörer waren 18 illegal tätige Arbeiter aus großen Parteiorganisationen – aus Petersburg, Moskau, Sormowo, Jekaterinoslaw, Nikolajew, Baku, Tiflis, dem Bezirk Dabrowa (Polen) usw. Lenin hielt in der Schule Lektionen zur politischen Ökonomie, zur Philosophie und zur Theorie des Sozialismus. Vorlesungen wurden auch von Ines Armand, A. W. Lunatscharski, N. A. Semaschko und anderen gehalten. Nach Beendigung der Schule kehrten die Teilnehmer wieder zur illegalen Arbeit nach Russland zurück.
52. Paul Lafargue – bekannter Funktionär der französischen wie der internationalen Arbeiterbewegung, und seine Frau Laura Lafargue, Tochter von Karl Marx, schieden am 26. (13.) November 1911 freiwillig aus dem Leben.
53. Nascha Sarja (Unsere Morgenröte) – Monatsschrift der menschewistischen Liquidatoren, erschien von 1910 bis 1914 in Petersburg. Alexandra Kollontais Artikel Die Bewegung der Menagères (Hausfrauen) in Frankreich wurde 1911 in Nr. 9/10 der Zeitschrift veröffentlicht.
54. Im Autortext wurde versehentlich nicht das richtige Veröffentlichungsjahr angegeben. Alexandra Kollontais umfangreiche wissenschaftliche Arbeit Gesellschaft und Mutterschaft (40 Druckbogen) wurde 1916 vom Verlag „Schisn i Snanije“ herausgegeben. Die Autorin wirft darin nicht nur wichtige Probleme dieses Themas auf, sondern bietet auch einen Exkurs über die staatliche Versicherung der Mütter in 15 Ländern der Erde. Dem Buch ist umfangreiches dokumentarisches Material beigefügt: Gesetze zu diesem Problem im Wortlaut, Tabellen sowie die Vielzahl der bei der Arbeit benutzten Quellen (in sechs europäischen Sprachen). Die zweite und die dritte Auflage des Buches erschienen in sowjetischer Zeit, 1921 und 1923. Die Einleitung zu dem Buch wurde in den Sammelband A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 160 bis 175, russ., aufgenommen.
55. Am 1. Mai 1912 sprach Alexandra Kollontai unter freiem Himmel in Stockholm vor Tausenden von Zuhörern. Ihre Rede wurde von Dr. Hannes Sköld, einem bekannten Philologen, ins Schwedische übersetzt und in der Zeitung Social-Demokraten vom 2. Mai 1912 veröffentlicht. In Russisch ist die Rede in dem Sammelband A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 106–108, enthalten.
56. Alexandra Kollontais Buch Durch das Europa der Arbeiter (Aus dem Notizbuch eines Lektors) ist 1912 in Petersburg erschienen. In dem Buch ist Material zusammengefasst, das die Autorin auf Agitationsreisen durch Städte in Deutschland, England, Dänemark und Schweden gesammelt hat.
57. Der Kongress der Trade-Unions (45 an der Zahl) fand in Newport (Großbritannien) vom 2. bis 7. September 1912 statt.
58. Gemeint ist die Unabhängige Arbeiterpartei, die 1893 auf Initiative des schottischen Bergmanns Keir Hardie gegründet wurde, der eine unabhängige Arbeitervertretung im Parlament propagierte. Als Ziel verkündete die Partei die Wahl von Arbeiterabgeordneten ins Parlament, damit diese dort eine selbständige Politik betrieben, den Kampf für die Nationalisierung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel sowie die Arbeit in den Gewerkschaften. Da aber Opportunisten die Führung in der Partei an sich rissen und bürgerliche Mitläufer hinzustießen, büßte die Partei ihren Kampfgeist ein.
59. Es handelt sich um den Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongress der II. Internationale, der am 24. und 25. November 1912 in Basel stattfand. Die Delegierten nahmen einstimmig das Manifest gegen den Krieg an, das die Arbeiter zum Kampf gegen die drohende Kriegsgefahr aufrief. Das Manifest empfahl den Sozialisten, im Falle des Ausbruchs eines imperialistischen Krieges die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zum Kampf um die Sozialistische Revolution auszunutzen.
60. Nowaja Schisn (Neues Leben) – literarisch-gesellschaftlicher Almanach, der von 1910 bis 1916 in Moskau erschien. Alexandra Kollontais Arbeit Die neuen Frauen wurde im Frühjahr 1913 auch als Broschüre herausgegeben.
61. Prawda (Die Wahrheit) – legale bolschewistische Tageszeitung, die auf Initiative von Petersburger Arbeitern gegründet wurde, erschien erstmalig am 22. April (5. Mai) 1912. Die ideologische Leitung der Zeitung lag in den Händen W. I. Lenins. Kurz vor Beginn des Krieges, am 8. (21.) Juli 1914, wurde die Redaktion der Prawda demoliert; die Mitarbeiter wurden festgenommen, die Zeitung verboten. Nach dem Sturz des Zarismus wurde die Zeitung ab März 1917 wieder herausgegeben.
62. Lutsch (Der Strahl) – Tageszeitung der menschewistischen Liquidatoren. Sie erschien von September 1912 bis Juli 1913 in Petersburg. Die Zeitungen Schiwaja Schisn (Das lebendige Leben), Nowaja Rabotschaja Gaseta (Neue Arbeiterzeitung), Nascha Rabotschaja Gaseta (Unsere Arbeiterzeitung) und Sewernaja Rabotschaja Gaseta (Arbeiterzeitung des Nordens), setzten die Arbeit der Zeitung Lutsch fort.
63. Alexandra Kollontais Aufsatz Frauentag wurde am 17. Februar 1913, eine Woche bevor der Tag der internationalen Solidarität der Proletarierinnen erstmals in Russland gefeiert wurde, in der Prawda veröffentlicht. Dieser Tag stand in Petersburg unter der Losung des Kampfes für die wirtschaftliche und politische Befreiung der Frau. Der Wortlaut des Aufsatzes ist in dem Sammelband A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 109–112, russ., enthalten.
64. Gemeint ist der Gerichtsprozess der zaristischen Regierung gegen den Juden Beilis im Jahre 1913. Man beschuldigte Beilis wider besseres Wissen des Ritualmordes. Der Prozess war ein deutlicher Ausdruck für die chauvinistische, antisemitische Pogrompolitik des Zarismus.
65. Es handelt sich um die Herausgabe der Zeitschrift Rabotniza (Die Arbeiterin), der legalen Zeitschrift des Zentralkomitees der Partei der Bolschewiki (sieben Nummern sind erschienen), und der Zeitschrift der Menschewiki Listok Rabotnizy (Blatt der Arbeiterin) (eine Nummer ist erschienen) im Mai 1914. Die Autorin hat die menschewistische Zeitung fälschlicherweise mit Golos Rabotnizy (Die Stimme der Arbeiterin) bezeichnet und sie mit einer ähnlichen menschewistischen Publikation von 1917 verwechselt.
66. Der Internationale Kongress der II. Internationale und die nächste Internationale Sozialistische Frauenkonferenz sollten Ende des Sommers 1914 stattfinden. Auf dem Kongress sollten die wichtigsten Fragen der Lage der Arbeiterklasse und ihres Kampfes gegen den Imperialismus sowie die Probleme von Krieg und Militarismus erörtert werden. Der beginnende Krieg machte die Pläne der Sozialisten zunichte.
67. Gemeint ist Ines Armand.
Zuletzt aktualisiert am 16. Juli 2020