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Dieser Artikel erschien in Swesda [1] Nr.1, 16. Dezember 1910, in der Rubrik Briefe aus dem Ausland.
W.I. Lenin, Werke, Bd.16, Berlin, 1977, S.353-360.
Transkription: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die grundlegenden taktischen Differenzen in der modernen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas laufen auf den Kampf gegen zwei größere Richtungen hinaus, die vom Marxismus, der faktisch zur herrschenden Theorie in dieser Bewegung geworden ist, abweichen. Diese zwei Richtungen sind der Revisionismus (Opportunismus, Reformismus) und der Anarchismus (Anarchosyndikalismus, Anarchosozialismus). Diese beiden Abweichungen von der in der Arbeiterbewegung herrschenden marxistischen Theorie und marxistischen Taktik sind während der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der proletarischen Massenbewegung in verschiedenen Formen und verschiedenen Schattierungen in allen zivilisierten Ländern zu beobachten.
Schon diese Tatsache allein erhellt, daß sich diese Abweichungen weder aus Zufälligkeiten noch aus Irrtümern einzelner Personen oder Gruppen, noch selbst aus dem Einfluß nationaler Besonderheiten oder Traditionen usw. erklären lassen. Es muß tiefer liegende Ursachen geben, die in der Wirtschaftsordnung und im Charakter der Entwicklung aller kapitalistischen Länder wurzeln und diese Abweichungen ständig erzeugen.
Die im vorigen Jahr erschienene kleine Schrift des holländischen Marxisten Anton Pannekoek Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung (Hamburg, Erdmann Dubber, 1909) stellt einen interessanten Versuch dar, diese Ursachen wissenschaftlich zu erforschen. Wir wollen in den weiteren Ausführungen den Leser mit Pannekoeks Schlußfolgerungen bekannt machen, die man als durchaus richtig anerkennen muß.
Eine der tiefsten Ursachen, die periodisch taktische Differenzen erzeugen, ist die Tatsache des Wachstums der Arbeiterbewegung selbst. Mißt man diese Bewegung nicht mit dem Maß irgendeines phantastischen Ideals, sondern betrachtet sie als praktische Bewegung gewöhnlicher Menschen, dann wird klar, daß die Gewinnung immer neuer „Rekruten“, die Einbeziehung neuer Schichten der werktätigen Masse unvermeidlich von Schwankungen in Theorie und Taktik, von Wiederholungen alter Fehler, von einer zeitweiligen Rückkehr zu veralteten Anschauungen und veralteten Methoden usw. begleitet sein muß. Auf die „Ausbildung“ der Rekruten verwendet die Arbeiterbewegung jedes Landes periodisch größere oder kleinere Mengen von Energie, Aufmerksamkeit und Zeit.
Weiter. Die Entwicklung des Kapitalismus geht in den verschiedenen Ländern und auf den verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaft nicht gleich schnell vor sich. Die Arbeiterklasse und ihre Ideologen machen sich den Marxismus am leichtesten, schnellsten, vollständigsten und dauerhaftesten unter den Bedingungen der stärksten Entwicklung der Großindustrie zu eigen. Rückständige oder in ihrer Entwicklung zurückbleibende ökonomische Verhältnisse führen stets dazu, daß Anhänger der Arbeiterbewegung auftauchen, die sich lediglich einige Seiten des Marxismus, lediglich einzelne Teile der neuen Weltanschauung oder einzelne Losungen und Forderungen zu eigen machen, ohne imstande zu sein, mit allen Traditionen der bürgerlichen Weltanschauung im allgemeinen und der bürgerlich-demokratischen Weltanschauung im besonderen entschieden zu brechen.
Eine ständige Quelle der Differenzen bildet ferner der dialektische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in Widersprüchen und durch Widersprüche vollzieht. Der Kapitalismus ist fortschrittlich, denn er vernichtet die alten Produktionsweisen und entwickelt die Produktivkräfte, zugleich aber hemmt er auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Wachstum der Produktivkräfte. Er entwickelt, organisiert und diszipliniert die Arbeiter – und er unterdrückt, unterjocht, führt zu Degeneration, Elend usw. Der Kapitalismus erzeugt selbst seinen Totengräber, schafft selbst die Elemente der neuen Ordnung, aber diese einzelnen Elemente ändern ohne einen „Sprung“ nichts an der allgemeinen Sachlage, rühren nicht an die Herrschaft des Kapitals.
Der Marxismus als Theorie des dialektischen Materialismus vermag diese Widersprüche des lebendigen Lebens, der lebendigen Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung zu erfassen. Aber es versteht sich von selbst, daß die Massen aus dem Leben und nicht aus Büchern lernen, und darum pflegen einzelne Personen oder Gruppen bald diesen, bald jenen Zug der kapitalistischen Entwicklung, bald die eine, bald die andere „Lehre“ dieser Entwicklung aufzubauschen und sie zu einer einseitigen Theorie, zu einem einseitigen System der Taktik zu erheben.
Bürgerliche Ideologen, Liberale und Demokraten, die den Marxismus und die moderne Arbeiterbewegung nicht verstehen, fallen ständig hilflos von einem Extrem ins andere. Bald suchen sie alles daraus zu erklären, daß böse Menschen eine Klasse gegen die andere „aufhetzen“, bald trösten sie sich damit, daß die Arbeiterpartei eine „friedliche Reformpartei“ sei.
Als direktes Produkt dieser bürgerlichen Weltanschauung und ihres Einflusses sind sowohl der Anarchosyndikalismus als auch der Reformismus zu betrachten; sie klammern sich an eine Seite der Arbeiterbewegung, erheben die Einseitigkeit zur Theorie und erklären Tendenzen oder Züge dieser Bewegung, die eine spezifische Besonderheit dieser oder jener Periode, dieser oder jener Bedingungen des Wirkens der Arbeiterklasse darstellen, für einander ausschließend. Das wirkliche Leben aber, die wirkliche Geschichte schließt diese verschiedenen Tendenzen in sich ein, ähnlich wie das Leben und die Entwicklung in der Natur sowohl langsame Evolution als auch jähe Sprünge, Abbrechen der Allmählichkeit in sich einschließen.
Die Revisionisten halten alle Betrachtungen über „Sprünge“ und über den prinzipiellen Gegensatz der Arbeiterbewegung zur ganzen alten Gesellschaft für Phrasen. Sie halten Reformen für eine teilweise Verwirklichung des Sozialismus. Der Anarchosyndikalist lehnt die „Kleinarbeit“, insbesondere Ausnutzung der Parlamentstribüne, ab. In Wirklichkeit läuft diese Taktik darauf hinaus, die „großen Tage“ abzuwarten, ohne zu verstehen, die Kräfte zu sammeln, die die großen Ereignisse hervorbringen.
Die einen wie die anderen hemmen die wichtigste, die dringendste Arbeit: den Zusammenschluß der Arbeiter zu großen, starken, gut funktionierenden Organisationen, die imstande sind, unter allen Bedingungen gut zu funktionieren, die vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sind, klar ihre Ziele erkennen und in wahrhaft marxistischer Weltanschauung erzogen werden.
Hier erlauben wir uns eine kleine Abschweifung und bemerken in Parenthese, um eventuellen Mißverständnissen vorzubeugen, daß Pannekoek seine Analyse ausschließlich mit Beispielen aus der westeuropäischen Geschichte, besonders der Geschichte Deutschlands und Frankreichs, illustriert, ohne im geringsten an Rußland zu denken. Wenn es mitunter scheint, als spiele er auf Rußland an, so kommt dies nur daher, daß die Grundtendenzen, die bestimmte Abweichungen von der marxistischen Taktik erzeugen, auch bei uns in Erscheinung treten, ungeachtet der gewaltigen Unterschiede, die in Kultur und Lebensformen sowie in Geschichte und Wirtschaft zwischen Rußland und dem Westen bestehen.
Eine außerordentlich wichtige Ursache, die unter den Teilnehmern der Arbeiterbewegung Differenzen erzeugt, sind schließlich die Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im allgemeinen und der Bourgeoisie im besonderen. Wäre die Taktik der Bourgeoisie immer die gleiche oder zumindest gleichartig, so würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer ebenso gleichbleibenden oder gleichartigen Taktik zu beantworten. In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten.
Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Aufrechterhaltung aller alten und überlebten Institutionen, die Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen. Darin besteht das Wesen der konservativen Politik, die in Westeuropa immer mehr aufhört, die Politik der Grundbesitzerklassen zu sein, die immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik wird. Die zweite Methode ist die Methode des „Liberalismus“, der Schritte in Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw.
Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge der radikalen Widersprüche ihrer eigenen Lage. Die normale kapitalistische Gesellschaft kann sich nicht erfolgreich entwickeln ohne ein gefestigtes Repräsentativsystem, ohne gewisse politische Rechte der Bevölkerung, die selbstverständlich verhältnismäßig hohe Ansprüche in „kultureller“ Hinsicht stellt. Diese Ansprüche auf ein bestimmtes Minimum an Kultur werden erzeugt durch die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise selbst mit ihrer hohen Technik, ihrer Kompliziertheit, Elastizität, Beweglichkeit, mit der raschen Entwicklung der Weltkonkurrenz usw.
Schwankungen in der Taktik der Bourgeoisie, Übergänge vom System der Gewaltanwendung zum System von Scheinzugeständnissen sind infolgedessen charakteristisch für die Geschichte aller europäischen Länder im letzten halben Jahrhundert, wobei die verschiedenen Länder in bestimmten Perioden vorwiegend die eine oder die andere Methode entwickelten. So war zum Beispiel in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts England das klassische Land der „liberalen“ bürgerlichen Politik, das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre hielt sich an die Methode der Gewalt usf.
Als diese Methode in Deutschland herrschte, war der einseitige Widerhall auf dieses bürgerliche Regierungssystem das Anwachsen des Anarchosyndikalismus oder, wie er damals genannt wurde, des Anarchismus in der Arbeiterbewegung (die „Jungen“ zu Beginn der neunziger [2], Johann Most zu Beginn der achtziger Jahre [3]). Als 1890 eine Wendung zu „Zugeständnissen“ eintrat, erwies sich – wie immer – diese Wendung als noch gefährlicher für die Arbeiterbewegung, da sie den ebenso einseitigen Widerhall auf das bürgerliche „Reformertum“ hervorrief: den Opportunismus in der Arbeiterbewegung. „Das positive, reale Ziel der liberalen Politik der Bourgeoisie“, sagt Pannekoek, „ist die Irreführung der Arbeiter, ist das Hineintragen von Spaltung in ihre Mitte, ist das Verwandeln ihrer Politik in ein ohnmächtiges Anhängsel des ohnmächtigen, stets ohnmächtigen und ephemeren [4] Scheinreformertums.“
Nicht selten erreicht die Bourgeoisie für eine gewisse Zeit ihr Ziel mit Hilfe der „liberalen“ Politik, die – wie Pannekoek richtig bemerkt – eine „schlauere“ Politik darstellt. Ein Teil der Arbeiter, ein Teil ihrer Vertreter läßt sich mitunter durch Scheinzugeständnisse täuschen. Die Revisionisten erklären die Lehre vom Klassenkampf für „veraltet“ oder schlagen eine Politik ein, die in der Praxis die Abkehr vom Klassenkampf bedeutet. Die Zickzackwege der bürgerlichen Taktik haben eine Stärkung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung zur Folge und steigern nicht selten die Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung bis zur direkten Spaltung.
Alle Ursachen der genannten Art erzeugen innerhalb der Arbeiterbewegung, innerhalb der proletarischen Reihen Differenzen über die Taktik. Zwischen dem Proletariat und den Schichten des Kleinbürgertums einschließlich der Bauernschaft, die mit dem Proletariat in Berührung kommen, gibt es aber keine chinesische Mauer und kann es auch keine geben. Es ist begreiflich, daß der Übergang einzelner Personen, Gruppen und Schichten vom Kleinbürgertum zum Proletariat seinerseits Schwankungen in der Taktik des Proletariats hervorrufen muß.
Die Erfahrung der Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder hilft, an Hand konkreter Fragen der Praxis Klarheit über das Wesen der marxistischen Taktik zu schaffen; sie hilft den jüngeren Ländern, die wahre Klassenbedeutung der Abweichungen vom Marxismus klarer zu unterscheiden und diese Abweichungen erfolgreicher zu bekämpfen.
1. Swesda (Der Stern) – legale bolschewistische Zeitung, Vorläuferin der Prawda; erschien in Petersburg vom 16. (29.) Dezember 1910 bis zu ihrem Verbot am 22. April (5. Mai) 1912.
Die von Lenin geleitete legale Swesda war ein bolschewistisches Kampforgan, das das Programm der illegalen Partei verfocht. Von 96 Nummern der Swesda und der Newskaja Swesda wurden 39 beschlagnahmt, 10 mit Strafen belegt. Die Auflage einzelner Nummern erreichte 50.000 bis 60.000 Exemplare.
2. Als Reaktion auf die opportunistische Haltung einiger Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion entstand nach dem Sieg der deutschen Sozialdemokratie über das Sozialistengesetz in der sozialdemokratischen Partei eine kleinbürgerliche, linksopportunistische Gruppe, die „Jungen“. Ihre Wortführer waren in der Hauptsache junge Literaten und Studenten. Sie lehnten den parlamentarischen Kampf der Partei ab. Friedrich Engels nannte die „Jungen“ Helden der revolutionären Phrase, die „intrigieren und klüngeln“ und dadurch die Partei desorganisieren. Auf dem Erfurter Parteitag 1891 wurden die „Jungen“ aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen.
3. Most, Johann – Sozialdemokrat, später Anarchist. Nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes 1878 emigrierte er nach England. 1880 wurde er auf dem Wydener Kongreß wegen seiner ultralinken, parteifeindlichen Haltung aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen. Er emigrierte 1882 in die USA und betrieb dort anarchistische Propaganda.
4. Laut Duden: nur einen Tag dauernd, vorübergehend
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008