W.I. Lenin

 

Vorwort zu N. Bucharin:
Imperialismus und Weltwirtschaft

(1915)


Geschrieben im Dezember 1915.
Zum erstenmal veröffentlicht am 21. Januar 1927 in der Prawda Nr.17 (3549).
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Bedeutung und Aktualität des Themas, das in N. Bucharins Arbeit behandelt wird, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Das Problem des Imperialismus ist nicht nur eines der wesentlichsten, sondern – man kann sagen – das wesentlichste Problem in der Sphäre der ökonomischen Wissenschaft, die den Formwandel des Kapitalismus in neuester Zeit zum Gegenstand hat. Die Kenntnis der Tatsachen, die hierher gehören und die der Verfasser auf Grund der neuesten Materialien in so reichhaltiger Zusammenstellung bringt, ist ganz unerläßlich für jeden, der sich nicht nur für Ökonomie allein, sondern überhaupt für jede beliebige Sphäre des modernen sozialen Lebens interessiert. Von einer konkret historischen Beurteilung des gegenwärtigen Kriegs kann natürlich keine Rede sein, wenn diese nicht auf vollkommener Klarlegung ebenso des ökonomischen wie des politischen Wesens des Imperialismus beruht. Anders kann in die ökonomische und diplomatische Situation der letzten Jahrzehnte keine Einsicht gewonnen werden, ohne dies aber wäre es einfach lächerlich, von der Ausarbeitung einer richtigen Auffassung vom Krieg zu sprechen. Vom Standpunkt des Marxismus, der in dieser Frage die Anforderungen der modernen Wissenschaft überhaupt besonders plastisch zum Ausdruck bringt, kann es nur ein Lächeln geben über die „wissenschaftliche“ Bedeutung solcher Methoden, bei denen unter konkret historischer Beurteilung des Kriegs das Herausgreifen von einzelnen, den herrschenden Klassen eines Landes genehmen oder bequemen kleinen Tatsächelchen aus diplomatischen „Dokumenten“, aus den politischen Tagesereignissen usw. verstanden wird. G. Plechanow hatte z.B. dem Marxismus endgültig Valet sagen müssen, um die Analyse der kardinalen Eigenschaften und Tendenzen des Imperialismus als des Systems der ökonomischen Verhältnisse des jüngsten, hochentwickelten, reifen und überreifen Kapitalismus ersetzen zu können durch das Herausgreifen von solchen Tatsächelchen, die den Purischkewitsch und Miljukow genehm sind. Dabei wird der wissenschaftliche Begriff des Imperialismus herabgedrückt auf das Niveau eines Schimpfworts an die Adresse der unmittelbaren Konkurrenten, Rivalen und Gegner der zwei ebengenannten Imperialisten, die mit ihren Rivalen und Gegnern auf ganz dem gleichen Klassenboden stehen! In unserer Zeit der vergessenen Worte, der verlorenen Prinzipien, der umgestoßenen Weltanschauungen, der beiseite geschobenen Resolutionen und feierlichen Versprechungen darf man sich darüber nicht weiter wundern.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeit N.I. Bucharins liegt besonders darin, daß er die Grundtatsachen der Weltwirtschaft betrachtet, die mit dem Imperialismus als einem Ganzen, als einer bestimmten Entwicklungsstufe des höchstentwickelten Kapitalismus zusammenhängen. Es gab die Epoche eines verhältnismäßig „friedlichen“ Kapitalismus, in der er in den vorgeschrittenen Ländern Europas den Feudalismus vollständig besiegt hatte und sich mit – relativ – größter Ruhe und Gleichmäßigkeit entwickeln konnte, unter „friedlicher“ Expansion über gewaltige Gebiete von noch unbesetzten, in den kapitalistischen Strudel noch nicht endgültig hineingerissenen Ländern. Auch in dieser Epoche, die ungefähr in die Jahre 1871-1914 fällt, schuf der „friedliche“ Kapitalismus natürlich Lebensbedingungen, die von einem wirklichen „Frieden“ sowohl im militärischen als auch im allgemeinen Klassensinne, recht weit entfernt waren. Für neun Zehntel der Bevölkerung der vorgeschrittenen Länder, für Hunderte von Millionen Menschen in den Kolonien und rückständigen Ländern war dies eine Epoche nicht des „Friedens“, sondern der Unterdrückung, der Qual, des Schreckens, – eines Schreckens, der vielleicht um so entsetzlicher war, als er ein „Schrecken ohne Ende“ zu sein schien. Diese Epoche ist nun unwiderruflich vorüber, sie ist abgelöst von einer Epoche verhältnismäßig viel stürmischeren, sprunghafteren, katastrophaleren, konfliktreicheren Charakters, – von einer Epoche, in der für die Masse der Bevölkerung nicht so sehr der „Schrecken ohne Ende“ als vielmehr das „Ende mit Schrecken“ typisch wird.

Ganz besonders ist dabei zu beachten, daß dieser Wechsel durch nichts anderes herbeigeführt ist, als durch unmittelbare Entwicklung, Erweiterung, Fortsetzung der am tiefsten verwurzelten Tendenzen des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt. Wachstum des Austausches, Wachstum der Großindustrie, – dies sind die Grundtendenzen, die seit Jahrhunderten durchweg in der ganzen Welt zu beobachten sind. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Austausches, auf einer bestimmten Wachstumsstufe der Großindustrie, auf jener nämlich, die ungefähr an der Grenze zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert erreicht war, führte der Austausch eine solche Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und des Kapitals herbei, wuchs die Großindustrie zu einem solchen Umfang heran, daß an die Stelle der „freien“ Konkurrenz das Monopol zu treten begann. Typisch wurden nun nicht mehr die – innerhalb eines Landes und in den Beziehungen zwischen den Ländern – einander in „freier“ Konkurrenz gegenüberstehenden Unternehmungen, sondern, die monopolistischen Unternehmerverbände, die Trusts. Zum typischen „Herrn“ der Welt wurde nunmehr das Finanzkapital, das sich durch besondere Beweglichkeit und Elastizität, durch besonders starkes Verflochtensein, national wie international, auszeichnet, – das in besonderem Maße unpersönlich und von der direkten Produktion losgelöst ist das sich besonders leicht konzentriert und auch bereits in besonders hohem Maße konzentriert ist, derart, daß buchstäblich einige hundert Milliardäre und Millionäre die Geschicke der ganzen Welt in ihren Händen halten.

Abstrakt-theoretisch gesprochen kann man zu dem Schluß kommen, zu dem den auch Kautsky – der, zwar in etwas anderer Weise, dem Marxismus ebenfalls Valet gesagt hat – in der Tat gelangt ist: daß es nämlich bereits nicht mehr allzuweit sei bis zum Zusammenschluß dieser Kapitalmagnaten in einem einzigen Welttrust, der die Konkurrenz und den Kampf der staatlich getrennten Finanzkapitale durch ein international zusammengeschlossenes Finanzkapital ersetzen werde. Diese Schlußfolgerung ist aber ganz genau so abstrakt, simplifiziert und falsch, wie es die ähnlichen Gedankengänge unserer „Struvisten“ und „Ökonomisten“ in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren, als diese aus dem progressiven Charakter des Kapitalismus, aus seiner Unvermeidlichkeit, aus seinem endgültigen Sieg in Rußland bald apologetische Schlüsse zogen (Anbetung des Kapitals, Versöhnung mit ihm, Verhimmelung statt Bekämpfung des Kapitals), bald apolitische (d.h. Negierung der Politik oder Negierung ihrer Bedeutung, der Wahrscheinlichkeit von allgemeinen politischen Erschütterungen usw.; – dies der spezifische Fehler der „Ökonomisten“), – oder aber geradewegs „streikistische“ („Generalstreik“) als Apotheose der Streikbewegung, die getrieben wurde bis zum Vergessen oder zur Ignorierung der übrigen Formen der Bewegung und einen „Sprung“ machte, vom Kapitalismus zu dessen Überwindung durch reine Streikmethoden, einzig und allein durch den Streik. Es gibt Anzeichen dafür, daß die unbestreitbare Tatsache der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus im Vergleich zum halb-kleinbürgerlichen „Paradies“ der freien Konkurrenz, desgleichen die faktische Unvermeidlichkeit des Imperialismus und sein endgültiger Sieg über den „friedlichen“ Kapitalismus in den vorgeschrittensten Ländern der Welt, möglicherweise auch heute zu nicht minder zahlreichen und mannigfaltigen politischen und apolitischen Fehlern und Irrungen führen werden.

Insbesondere hat bei Kautsky der offene Bruch mit dem Marxismus nicht die Form der Negierung oder des Vergessens der Politik angenommen, nicht die Form des „Überspringens„ der in der imperialistischen Epoche besonders zahlreichen und mannigfaltigen politischen Konflikte, Erschütterungen und Umgestaltungen, nicht die Form der Apologie des Imperialismus, sondern die des Traums von einem „friedlichen“ Kapitalismus. Der „friedliche“ Kapitalismus ist abgelöst durch den nichtfriedlichen, kriegerischen, katastrophenreichen Imperialismus, das muß Kautsky zugeben, weil er das bereits 1909 in einer besonderen Schrift [1] zugegeben hat, in der er zum letzten Male mit einheitlichen Schlußfolgerungen als Marxist aufgetreten ist. Wenn es aber nicht angeht, ganz einfach, offen, gröblich von einer Rückkehr vom Imperialismus zurück zum „friedlichen“ Kapitalismus Träume zu spinnen, – ließe sich dann nicht vielleicht diesen ihren Wesen nach kleinbürgerlichen Träumen die Form von unschuldigen Betrachtungen über einen „friedlichen„ „Ultraimperialismus“ geben? Bezeichnet man als Ultraimperialismus den internationalen Zusammenschluß der nationalen (richtiger gesagt: der staatlich getrennten) Imperialisten, als ein Gebilde, das die auf den Kleinbürger besonders unangenehm, besonders beunruhigend, besonders störend wirkenden Konflikte, wie Kriege, politische Erschütterungen usw., beseitigen „könnte“, – warum sollte man dann nicht die heute schon eingetretene, schon vorhandene konflikt- und katastrophenreiche Epoche des Imperialismus von sich abtun durch unschuldige Träume von einem verhältnismäßig friedlichen, verhältnismäßig konfliktlosen, verhältnismäßig katastrophenlosen „Ultraimperialismus“? Warum sollte man dann nicht den „schroffen“ Aufgaben, die das für Europa bereits angebrochene imperialistische Zeitalter bereits gestellt hat und weiter stellt, aus dem Weg gehen können mit dem phantastischen Traum: diese Epoche werde vielleicht bald vorüber sein und in ihrem Gefolge sei vielleicht eine relativ „friedliche“, keine „schroffe“ Taktik erfordernde Epoche des „Ultraimperialismus“ denkbar? Und so sagt denn auch Kautsky:

Eine solche neue (ultraimperialistische) Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen. [2]

Nicht die geringste Spur von Marxismus findet sich in diesem Bestreben, dem bereits in die Wirklichkeit getretenen Imperialismus aus dem Wege zu gehen und sich dem Traum von einem „Ultraimperialismus“ hinzugeben, von dem man gar nicht weiß, ob er realisierbar ist. In dieser Konstruktion wird der Marxismus für jene „neue Phase des Kapitalismus“ anerkannt, für deren Realisierung ihr Erfinder selbst nicht garantiert; für die gegenwärtige, für die bereits eingetretene Phase wird statt des Streben nach einer Abstumpfung der Widersprüche serviert. Kautsky hatte das Versprechen gegeben, Marxist zu sein in der herannahenden akuten Katastrophenepoche, die er in seinem 1909 geschriebenen Werk über diese Epoche mit aller Bestimmtheit hatte prophezeien und positiv ins Auge fassen müssen. Heute, da bereits absolut feststeht, daß diese Epoche angebrochen ist, gibt Kautsky abermals nur das Versprechen, in einer zukünftigen, – wer weiß, ob überhaupt realisierbaren – Epoche des Ultraimperialismus Marxist zu sein! Kurz und gut – Versprechungen, soviel ihr wollt: in einer anderen Epoche Marxist zu sein, aber nur nicht heute, mir nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen, nur nicht zu dieser Stunde! Marxismus auf Kredit, Marxismus auf Sicht, Marxismus für morgen; für heute aber die kleinbürgerliche, opportunistische Theorie – und nicht bloß Theorie – von einer Abstumpfung der Widersprüche. Etwas in der Art von dem „in den heutigen Zeitläufen“ so weit verbreiteten Internationalismus zu Ausfuhrzwecken, wenn leidenschaftliche – o wie leidenschaftliche! – Internationalisten und Marxisten sympathisieren mit jeder Äußerung von Internationalismus im gegnerischen Lager, überall, nur nicht im eigenen Hause oder bei den eigenen Verbündeten; wenn sie sympathisieren mit der Demokratie ... wenn diese ein bloßes Versprechen „der Verbündeten“ bleibt; sympathisieren mit der „Selbstbestimmung der Nationen“ ... bloß nicht derjenigen Nationen, die von der Nation abhängig sind, die die Ehre hat, die sympathisierende Person in ihren Reihen zu zählen ... Kurz und gut: eine von den 1001 Spielarten der Heuchelei.

Läßt sich aber bestreiten, daß eine neue Phase des Kapitalismus nach dem Imperialismus abstrakt „denkbar“ ist? Nein. Abstrakt kann man sich eine solche Phase denken. Nur daß dies in der Praxis bedeutet, daß man ein Opportunist wird, der die brennenden Aufgaben der Gegenwart von sich weist im Namen der Phantasie über künftige, nicht brennende Aufgaben. In der Theorie heißt das, daß man sich nicht auf die in der Wirklichkeit vor sich gehende Entwicklung stützt, sondern sich von vornherein von ihr abwendet um dieser Phantasie willen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, alle Unternehmungen und alle Staaten ausnahmslos umfassenden Welttrust verläuft. Doch tut sie dies unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen – beileibe nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer, nationaler Natur usw. usw. – daß unbedingt, noch ehe es zu einem einzigen Welttrust, zu einer „ultraimperialistischen“ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unvermeidlich zusammenbrechen, der Kapitalismus sich in sein Gegenteil verwandeln wird.

W. Iljin (Lenin)


Anmerkungen

1. Kautsky: Der Weg zur Macht.

2. Kautsky: Zwei Schriften zum Umlernen In Die Neue Zeit, Nr.5 1919.


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008