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W. I. Lenin, Zur nationalen und zur kolonialen Frage, Berlin 1981.
Auch: W. I. Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin (Ost).
Transkription: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
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Weiter muß ich auf die Frage der Selbstbestimmung der Nationen eingehen. Diese Frage hat durch unsere Kritiker eine übertriebene Bedeutung erlangt. Hier zeigte sich die Schwäche unserer Kritiker darin, daß eine Frage, der im allgemeinen Aufbau des Programms, in der Gesamtsumme der Programmforderungen im Grunde nicht einmal eine zweitrangige Bedeutung zukommt – daß diese Frage durch diese Kritik spezielle Bedeutung erlangt hat.
Als Gen. Pjatakow sprach, fragte ich mich verwundert, was das sei: eine Programmdiskussion oder ein Streit zwischen zwei Organisationsbüros. Als Gen. Pjatakow sagte, die ukrainischen Kommunisten handelten gemäß den Direktiven des ZK der KPR(B), habe ich nicht begriffen, in welchem Ton er sprach. Im Tone des Bedauerns? Ich verdächtige Gen. Pjatakow dessen nicht, aber der Sinn seiner Rede war: Wozu alle diese Selbstbestimmungen, wenn in Moskau ein ausgezeichnetes Zentralkomitee sitzt! Das ist ein kindlicher Standpunkt. Die Ukraine war von Rußland durch außergewöhnliche Verhältnisse getrennt worden, und die nationale Bewegung hat dort keine tiefen Wurzeln geschlagen. Soweit sie zum Vorschein kam, wurde sie von den Deutschen erledigt. Das ist eine Tatsache, aber es ist ein Ausnahmefall. Dort steht es selbst mit der Sprache so, daß man nicht mehr weiß, ob die ukrainische Sprache die Sprache der Massen ist oder nicht. Die werktätigen Massen anderer Nationen waren voller Mißtrauen gegen die Großrussen als eine Kulakennation, eine Unterdrückernation. Das ist eine Tatsache. Ein Vertreter der Finnen erzählte mir, daß unter der finnischen Bourgeoisie, die die Großrussen haßte, Stimmen laut werden: „Die Deutschen entpuppten sich als eine größere Bestie, die Entente ebenfalls, lieber her mit den Bolschewiki.“ Das ist ein gewaltiger Sieg, den wir in der nationalen Frage über die finnische Bourgeoisie errungen haben. Das wird uns keineswegs hindern, gegen sie als unseren Klassengegner mit den geeigneten Mitteln zu kämpfen. Die Sowjetrepublik, die sich in dem Land gebildet hat, dessen Zarenherrschaft Finnland unterdrückte, muß erklären, daß sie das Recht der Nationen auf Unabhängigkeit achtet. Mit der roten finnischen Regierung, die eine kurze Zeit bestand, schlössen wir einen Vertrag ab [1], wir machten ihr gewisse territoriale Zugeständnisse, um derentwegen ich des öfteren rein chauvinistische Einwände zu hören bekam: „Dort gibt es gute Fischgründe, und ihr habt sie abgetreten.“ Das sind solche Einwände, von denen ich sagte: Kratze manch einen Kommunisten, und du wirst auf einen großrussischen Chauvinisten stoßen.
Es scheint mir, dieses Beispiel Finnlands zeigt, ebenso wie das der Baschkiren, daß man in der nationalen Frage nicht damit argumentieren darf, wir brauchten um jeden Preis wirtschaftliche Einheit. Natürlich brauchen wir sie! Aber wir müssen sie durch Propaganda, durch Agitation, durch einen freiwilligen Bund zu erreichen suchen. Die Baschkiren mißtrauen den Großrussen, weil die Großrussen kulturell höher entwickelt sind und diesen Umstand ausnutzten, um die Baschkiren auszuplündern. Darum ist in diesen entlegenen Gegenden das Wort Großrusse für den Baschkiren gleichbedeutend mit „Unterdrücker“ und „Betrüger“. Damit muß man rechnen, dagegen muß man ankämpfen. Aber das ist eine langwierige Sache. Durch ein Dekret läßt sich das nicht beseitigen. Hier müssen wir sehr vorsichtig sein. Ganz besonders vorsichtig muß eine Nation wie die Großrussen sein, die in allen anderen Nationen erbitterten Haß gegen sich geweckt hat. Erst jetzt haben wir gelernt, das zu korrigieren, und auch das noch schlecht genug. Wir haben zum Beispiel im Kommissariat für Volksbildung oder in seiner nächsten Nähe Kommunisten, die sagen: Einheitsschule – darum wage niemand, in einer anderen Sprache zu unterrichten als der russischen! Meines Erachtens ist ein solcher Kommunist ein großrussischer Chauvinist. Er steckt in vielen von uns, und ihn muß man bekämpfen.
Deshalb müssen wir den anderen Nationen erklären, daß wir konsequente Internationalisten sind und den freiwilligen Bund der Arbeiter und Bauern aller Nationen anstreben. Das schließt Kriege keineswegs aus. Der Krieg, das ist eine andere Frage, die dem Wesen des Imperialismus entspringt. Wenn wir gegen Wilson Krieg führen und Wilson eine kleine Nation zu seinem Werkzeug macht, so sagen wir: Wir werden gegen dieses Werkzeug kämpfen. Wir haben uns niemals dagegen ausgesprochen. Wir haben niemals gesagt, die sozialistische Republik könne ohne bewaffnete Macht existieren. Unter gewissen Verhältnissen kann sich der Krieg als notwendig erweisen. Jetzt aber besteht in der Frage der Selbstbestimmung der Nationen der Kern der Sache darin, daß die einzelnen Nationen den gleichen geschichtlichen Weg gehen, aber auf höchst mannigfaltigen Zickzackwegen, auf den mannigfaltigsten Pfaden, und daß kulturell höher entwickelte Nationen diesen Weg eingestandenermaßen anders gehen als kulturell weniger entwickelte. Finnland ging einen anderen Weg. Deutschland geht einen anderen Weg. Gen. Pjatakow hat tausendmal recht, wenn er sagt, wir brauchten die Einheit. Aber für diese Einheit muß man kämpfen durch Propaganda, durch den Einfluß der Partei, durch die Schaffung einheitlicher Gewerkschaften. Doch auch hier kann man nicht nach einer Schablone verfahren. Würden wir diesen Punkt streichen oder ihn anders abfassen, so würden wir die nationale Frage aus dem Programm ausmerzen. Das wäre möglich, wenn es Menschen ohne nationale Eigentümlichkeiten gäbe. Aber solche Menschen gibt es nicht, und auf andere Weise können wir die sozialistische Gesellschaft nicht aufbauen.
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1. Gemeint ist der am 1. März 1918 in Petrograd abgeschlossene Vertrag über die Festigung der Freundschaft und Brüderlichkeit zwischen der RSFSR und der Finnischen Sozialistischen Arbeiterrepublik.
Leztztes Update: 27.2.2012