MIA > Deutsch > Marxisten > Lenin
Quelle: W. I. Lenin, Werke, Band 31 (April–Dezember 1920), Berlin 1983, S. 246–252.
Transkription: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Genossen! Gen. Gallacher hat zu Beginn seiner Rede sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß wir gezwungen sind, hier zum hundertsten und tausendsten Mal die Phrasen zu hören, die Gen. MacLaine und andere englische Genossen schon unzählige Male in Reden sowie in Zeitungen und Zeitschriften wiederholt haben. Ich glaube, wir brauchen das nicht zu bedauern. Die Methode der alten Internationale bestand darin, solche Fragen den einzelnen Parteien der interessierten Länder zur Entscheidung zu überlassen. Das war grundfalsch. Es ist durchaus möglich, daß wir die Verhältnisse in dieser oder jener Partei nicht ganz genau kennen, aber hier handelt es sich darum, die Taktik der kommunistischen Partei prinzipiell zu begründen. Das ist sehr wichtig, und wir müssen hier im Namen der III. Internationale den kommunistischen Standpunkt klar auseinandersetzen.
Zunächst möchte ich eine kleine Ungenauigkeit vermerken, die Gen. MacLaine unterlaufen ist und mit der man sich keinesfalls einverstanden erklären kann. Er bezeichnet die Arbeiterpartei als die politische Organisation der Trade-Union-Bewegung. Er hat dann noch einmal wiederholt: Die Arbeiterpartei „ist der politische Ausdruck der gewerkschaftlichen Bewegung“. Diese Meinung habe ich mehrmals in der Zeitung der Britischen Sozialistischen Partei gefunden. Sie ist nicht richtig, und sie ist mit die Ursache für die bis zu einem gewissen Grade durchaus berechtigte Opposition der revolutionären Arbeiter Englands. In Wirklichkeit ist es nicht richtig, von einer „politischen Organisation der Trade-Union-Bewegung“ oder von einem „politischen Ausdruck“ dieser Bewegung zu sprechen. Natürlich setzt sich die Arbeiterpartei größtenteils aus Arbeitern zusammen. Ob jedoch eine Partei wirklich eine politische Arbeiterpartei ist oder nicht, hängt nicht nur davon ab, ob sie sich aus Arbeitern zusammensetzt, sondern auch davon, wer sie führt und was der Inhalt ihrer Aktionen und ihrer politischen Taktik ist. Nur das letztere ist maßgebend dafür, ob wir wirklich eine politische Partei des Proletariats vor uns haben. Von diesem einzig richtigen Standpunkt aus ist die Arbeiterpartei eine durch und durch bürgerliche Partei, denn obwohl sie sich aus Arbeitern zusammensetzt, wird sie doch von Reaktionären geführt – von den schlimmsten Reaktionären, die ganz im Geiste der Bourgeoisie handeln. Es ist eine Organisation der Bourgeoisie, die dazu existiert, mit Hilfe der englischen Noske und Scheidemann die Arbeiter systematisch zu betrügen.
Nun gibt es aber auch einen anderen Standpunkt, und er wird von der Genossin Sylvia Pankhurst und dem Genossen Gallacher vertreten, die ihre Meinung zu dieser Frage geäußert haben. Worin bestand der Inhalt der Reden Gallachers und vieler seiner Freunde? Sie sagen uns: Wir sind nicht eng genug mit den Massen verbunden, aber nehmen Sie die Britische Sozialistische Partei, sie hat bis heute noch schlechteren Kontakt mit den Massen, sie ist sehr schwach. Und Gen. Gallacher erzählte uns hier, wie er und seine Freunde in Glasgow, in Schottland, wirklich großartig eine revolutionäre Bewegung organisierten, wie sie während des Krieges taktisch sehr gut manövrierten und wie sie die kleinbürgerlichen Pazifisten Ramsay MacDonald und Snowden geschickt unterstützten, als sie nach Glasgow kamen, um mit dieser Unterstützung eine große Massenbewegung gegen den Krieg zu organisieren.
Unser Ziel ist es gerade, diese großartige neue revolutionäre Bewegung, die von Gen. Gallacher und seinen Freunden repräsentiert wird, in eine kommunistische Partei mit einer wirklich kommunistischen, d. h. marxistischen Taktik einzubeziehen. Darin besteht jetzt unsere Aufgabe. Einerseits ist die Britische Sozialistische Partei schwach und versteht es nicht richtig, Agitation unter den Massen zu treiben; anderseits gibt es junge revolutionäre Elemente, hier so gut vertreten durch Gen. Gallacher, die zwar Kontakt mit den Massen haben, aber keine politische Partei darstellen, in dieser Hinsicht also noch schwächer sind als die Britische Sozialistische Partei, und es ganz und gar nicht verstehen, ihre politische Arbeit zu organisieren. Bei einer solchen Lage der Dinge müssen wir ganz offen sagen, welche Taktik wir für richtig halten. Als Gen. Gallacher auf die Britische Sozialistische Partei zu sprechen kam und sagte, sie sei „hoffnungslos reformistisch“ (hopelessly reformist), hat er zweifelsohne übertrieben. Der allgemeine Sinn und Inhalt aller von uns hier angenommenen Resolutionen zeigt jedoch absolut deutlich, daß wir von der Britischen Sozialistischen Partei eine Änderung ihrer Taktik im Geiste unserer Resolutionen verlangen. Und die einzig richtige Taktik der Freunde Gallachers wäre, sofort in die Kommunistische Partei einzutreten, um die Taktik dieser Partei im Geiste der hier angenommenen Resolutionen zu ändern. Wenn Sie so viele Anhänger haben, daß Sie in Glasgow Massenversammlungen abhalten können, dann wird es Ihnen nicht schwerfallen, mehr als zehntausend Mitglieder für die Partei zu gewinnen. Der letzte Parteitag der Britischen Sozialistischen Partei, der vor 3 oder 4 Tagen in London stattfand, hat beschlossen, den Namen der Partei in Kommunistische Partei umzuändern, und hat in das Programm einen Punkt über die Teilnahme an den Parlamentswahlen und den Eintritt in die Arbeiterpartei aufgenommen. Auf dem Parteitag waren zehntausend organisierte Mitglieder vertreten. Den schottischen Genossen dürfte es deshalb nicht schwerfallen, für diese „Kommunistische Partei Großbritanniens“ mehr als zehntausend revolutionäre Arbeiter zu gewinnen, die die Kunst der Massenarbeit besser beherrschen, und derart die alte Taktik der Britischen Sozialistischen Partei im Sinne einer wirksameren Agitation, im Sinne einer größeren revolutionären Aktivität zu Ändern. Genossin Sylvia Pankhurst hat in der Kommission wiederholt erklärt, daß man in England „Linke“ brauche. Ich antwortete ihr natürlich, das sei ganz richtig, nur dürfe man nicht zu sehr nach „links gehen“. Sie erklärte ferner: „Wir sind bessere Pioniere, bisher aber machen wir vorwiegend Lärm“ („noisy“). Das verstehe ich nicht im schlechten, sondern im guten Sinne des Wortes – daß sie es besser verstehen, revolutionäre Agitation zu treiben. Das schätzen wir und müssen wir schätzen. Wir haben das in allen unseren Resolutionen zum Ausdruck gebracht, denn wir betonen stets, daß wir eine Partei dann und nur dann als Arbeiterpartei anerkennen können, wenn sie wirklich mit den Massen verbunden ist und die alten, durch und durch korrumpierten Führer bekämpft, sowohl die auf dem rechten Flügel stehenden Chauvinisten als auch diejenigen, die wie die rechten Unabhängigen in Deutschland eine Mittelstellung einnehmen. In allen unseren Resolutionen haben wir das gut ein dutzendmal festgestellt und wiederholt, und das bedeutet eben, daß wir die Umgestaltung einer alten Partei im Sinne ihrer engeren Verbindung mit den Massen fordern.
Sylvia Pankhurst fragte weiter: „Ist es zulässig, daß eine kommunistische Partei einer anderen politischen Partei beitritt, die ihrerseits der II. Internationale angehört?“ Und sie antwortete, das sei unmöglich. Man muß berücksichtigen, daß in der englischen Arbeiterpartei ganz eigenartige Verhältnisse bestehen. Das ist eine sehr originelle Partei oder, richtiger gesagt, überhaupt keine Partei im üblichen Sinne dieses Wortes. Sie setzt sich aus Mitgliedern aller Gewerkschaftsorganisationen zusammen, so daß sie jetzt etwa vier Millionen Mitglieder zählt, und gewährt allen politischen Parteien, die ihr angeschlossen sind, genügend Freiheit. Ihr gehört somit die große Mehrheit der englischen Arbeiter an, die von den Ärgsten bürgerlichen Elementen am Gängelband geführt werden, von Sozialverrätern, noch schlimmeren Herrschaften als die Scheidemann, Noske und ihresgleichen. Aber gleichzeitig duldet es die Arbeiterpartei, daß sich die Britische Sozialistische Partei in ihren Reihen befindet und daß diese letztere ihre eigenen Presseorgane hat, in denen die Mitglieder eben dieser Arbeiterpartei frei und offen erklären dürfen, daß die Führer der Partei Sozialverräter sind. Gen. MacLaine hat solche Erklärungen der Britischen Sozialistischen Partei im Wortlaut zitiert. Auch ich kann das bestätigen, denn ich habe in der Zeitung der Britischen Sozialistischen Partei The Call gelesen, daß die Führer der Arbeiterpartei Sozialpatrioten und Sozialverräter genannt werden. Das heißt, daß eine Partei, die der Arbeiterpartei angehört, nicht nur an den alten Arbeiterführern scharfe Kritik üben darf, sondern sie auch direkt und offen, unter Nennung von Namen, als Sozialverräter bezeichnen kann. Es ist eine sehr originelle Lage, wenn eine Partei, die riesige Arbeitermassen in einer Weise umfaßt, als wäre sie eine politische Partei, dennoch gezwungen ist, ihren Mitgliedern volle Freiheit einzuräumen. Gen. MacLaine hat hier darauf hingewiesen, daß auf dem Parteitag der Arbeiterpartei die dortigen Scheidemänner gezwungen waren, offen die Frage des Anschlusses an die III. Internationale zu stellen, so daß alle lokalen Organisationen und Sektionen dieser Partei diese Frage diskutieren mußten. Unter diesen Umständen wäre es falsch, nicht in diese Partei einzutreten.
Genossin Sylvia Pankhurst hat mir in einem Privatgespräch erklärt: „Wenn wir als wirkliche Revolutionäre in die Arbeiterpartei hineingehen, dann werden uns diese Herrschaften ausschließen.“ Nun, das wäre gar nicht so schlimm! In unserer Resolution heißt es, daß wir für den Anschluß sind, insoweit die Arbeiterpartei hinreichend Freiheit der Kritik einräumt. In diesem Punkt sind wir bis zuletzt konsequent. Gen. MacLaine hat ausdrücklich gesagt, in England hätten sich jetzt so originelle Verhältnisse herausgebildet, daß eine politische Partei trotz ihrer Bindung an die eigenartige, halb gewerkschaftliche, halb politische Organisation von vier Millionen Arbeitern, an deren Spitze bürgerliche Führer stehen, eine revolutionäre Arbeiterpartei bleiben kann, wenn sie den Willen dazu hat. Unter diesen Umständen wäre es ein schwerer Fehler der besten revolutionären Elemente, wenn sie nicht alles täten, um in dieser Partei zu bleiben. Überlaßt es den Herren Thomas und den anderen Sozialverrätern, die ihr unverhohlen so nennt, euch auszuschließen. Das wird auf die Massen der englischen Arbeiter eine vortreffliche Wirkung ausüben.
Die Genossen heben hervor, daß die Arbeiteraristokratie in England stärker ist als in jedem anderen Land. Das ist wirklich so. Sie ist ja dort nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten entstanden. Dort hat die Bourgeoisie, die auf eine weit größere Erfahrung, und zwar auf eine demokratische Erfahrung zurückblickt, es verstanden, die Arbeiter zu bestechen und aus ihnen eine große Schicht abzusondern, die in England zwar größer ist als in anderen Ländern, aber doch nicht gar so groß im Vergleich mit den breiten Arbeitermassen. Diese Schicht ist bis ins Mark von bürgerlichen Vorurteilen durchdrungen und treibt eine ausgesprochen bürgerliche, reformistische Politik. So sehen wir, daß in Irland zweihunderttausend englische Soldaten die Iren durch furchtbaren Terror niederhalten. Die englischen Sozialisten treiben unter ihnen keine revolutionäre Propaganda. In unseren Resolutionen aber haben wir klar gesagt, daß wir nur diejenigen englischen Parteien in die Kommunistische Internationale aufzunehmen gewillt sind, die unter den englischen Arbeitern und Soldaten eine wirklich revolutionäre Propaganda treiben. Ich betone, weder hier noch in den Kommissionen sind Einwände dagegen erhoben worden.
Genosse Gallacher und Genossin Sylvia Pankhurst können das nicht bestreiten. Sie sind nicht imstande, zu widerlegen, daß die Britische Sozialistische Partei, wenn sie in der Arbeiterpartei verbleibt, genügend Freiheit besitzt, um zu schreiben, daß die und die Führer der Arbeiterpartei Verräter sind, daß diese alten Führer die Interessen der Bourgeoisie vertreten, daß sie Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung sind. Das ist absolut richtig. Wird den Kommunisten eine solche Freiheit eingeräumt, so sind sie – wenn sie mit der Erfahrung der Revolutionäre aller Länder, nicht nur der russischen Revolution, rechnen wollen; und wir befinden uns hier nicht auf einem russischen, sondern auf einem internationalen Kongreß – verpflichtet, der Arbeiterpartei beizutreten. Gen. Gallacher meinte ironisch, wir wären in diesem Fall unter den Einfluß der Britischen Sozialistischen Partei geraten. Nein, wir haben uns davon auf Grund der Erfahrungen aller Revolutionen in allen Ländern überzeugt. Und wir glauben, daß wir das den Massen sagen müssen. Die Kommunistische Partei Englands muß die notwendige Freiheit behalten, um die Arbeiterverräter, die in England viel stärker sind als in anderen Ländern, zu entlarven und zu kritisieren. Das ist nicht schwer zu begreifen. Es ist nicht richtig, wenn Gen. Gallacher behauptet, daß wir durch unser Eintreten für den Anschluß an die Arbeiterpartei die besten Elemente unter den englischen Arbeitern von uns abstoßen würden. Wir müssen die Probe aufs Exempel machen. Wir sind überzeugt, daß alle unsere Resolutionen und Beschlüsse, die wir auf diesem Kongreß annehmen, in allen revolutionären, sozialistischen englischen Zeitungen veröffentlicht werden und daß alle lokalen Organisationen und Sektionen die Möglichkeit haben werden, sie zu erörtern. Der ganze Inhalt unserer Resolutionen besagt sonnenklar, daß wir für eine revolutionäre Taktik der Arbeiterklasse in allen Ländern eintreten und daß unser Ziel der Kampf gegen den alten Reformismus und Opportunismus ist. Die Ereignisse zeigen, daß man mit unserer Taktik den alten Reformismus wirklich besiegt. Und dann werden die besten revolutionären Elemente der Arbeiterklasse, die mit dem langsamen Entwicklungstempo, das in England vielleicht noch langsamer sein wird als in anderen Ländern, unzufrieden sind, alle zu uns kommen. Die langsame Entwicklung ist darauf zurückzuführen, daß die englische Bourgeoisie die Möglichkeit hat, der Arbeiteraristokratie bessere Lebensbedingungen zu bieten und dadurch die revolutionäre Bewegung aufzuhalten. Deshalb müssen die englischen Genossen bestrebt sein, nicht nur die Massen zu revolutionieren, was sie vortrefflich tun (Gen. Gallacher hat das bewiesen), sondern zugleich auch eine wirkliche politische Partei der Arbeiterklasse zu schaffen. Weder Genosse Gallacher noch Genossin Sylvia Pankhurst, die beide hier aufgetreten sind, gehören bisher einer revolutionären kommunistischen Partei an. Eine so ausgezeichnete proletarische Organisation wie die der Shop Stewards hat sich bis heute keiner politischen Partei angeschlossen. Wenn Sie sich politisch organisieren, dann werden Sie sehen, daß unsere Taktik auf richtigem Verständnis für die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte beruht und daß eine wirklich revolutionäre Partei nur dann geschaffen werden kann, wenn sie die besten Elemente der revolutionären Klasse in sich aufnimmt und jede Möglichkeit ausnutzt, die reaktionären Führer überall dort zu bekämpfen, wo sie sich zeigen. Wenn die Kommunistische Partei Englands damit beginnt, in der Arbeiterpartei revolutionäre Arbeit zu leisten, und wenn die Herren Henderson dann gezwungen sind, diese Partei auszuschließen, so wird das ein großer Sieg der kommunistischen und revolutionären Arbeiterbewegung in England sein.
1. Über die Zugehörigkeit der Kommunistischen Partei Englands zur Labour Party wurde in der letzten Sitzung des Kongresses am 6. August bei der Erörterung der Thesen Lenins über die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale entschieden. Nach Lenins Rede sprach sich der Kongreß mit Stimmenmehrheit (58 gegen 24 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen) für den Eintritt der Kommunistischen Partei in die Labour Party aus. Die Labour Party lehnte es jedoch ab, die Kommunistische Partei Englands in ihre Organisation aufzunehmen.
Zuletzt aktualisiert am 10. November 2016