Wladimir Lenin

 

Ursprünglicher Entwurf der Resolution des X. Parteitags der KPR [Kommunistische Partei Rußlands] über die syndikalistische und anarchistische Abweichung in unserer Partei

(März 1921)


März 1921 - Nach dem Manuskript.
W.I. Lenin, Werke, Bd.32, S.253.
Transkription: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. In den letzten Monaten ist in den Reihen der Partei deutlich eine syndikalistische und anarchistische Abweichung zutage getreten, welche die entschiedensten Maßnahmen auf dem Gebiet des ideologischen Kampfes sowie zur Reinigung und Gesundung der Partei erfordert.
 

2. Die genannte Abweichung ist zum Teil dadurch hervorgerufen worden, daß in die Reihen der Partei ehemalige Menschewiki eingetreten sind, sodann auch Arbeiter und Bauern, die sich die kommunistische Weltanschauung noch nicht ganz zu eigen gemacht haben; hauptsächlich aber ist diese Abweichung durch die Einwirkung des kleinbürgerlichen Elements auf das Proletariat und die KPR hervorgerufen worden, eines Elements, das in unserem Lande außerordentlich stark ist und unvermeidlich Schwankungen in der Richtung zum Anarchismus erzeugt, besonders in Augenblicken, wo sich die Lage der Massen infolge der Mißernte und der äußerst verheerenden Folgen des Krieges kraß verschlechtert hat und wo durch die Demobilisierung der Millionenarmee viele Hunderttausende Bauern und Arbeiter ins Land hinausgeschleudert werden, die nicht sofort imstande sind, richtige Einkommensquellen für ihre Existenz zu finden.
 

3. Der theoretisch abgeschlossenste und prägnanteste Ausdruck dieser Abweichung (Variante: einer der abgeschlossensten usw. Ausdrücke dieser Abweichung) sind die Thesen und andere literarische Erzeugnisse der Gruppe der sogenannten „Arbeiteropposition“. Bezeichnend genug ist beispielsweise ihre folgende These:

Die Leitung der Volkswirtschaft zu organisieren, obliegt dem Gesamtrussischen Kongreß der Produzenten, die in gewerkschaftlichen Produktionsverbänden zusammenzuschließen sind. Diese wählen das zentrale Organ, das die gesamte Volkswirtschaft der Republik leitet.

Die Ideen, die dieser und zahlreichen ähnlichen Erklärungen zugrunde liegen, sind theoretisch von Grund aus falsch, denn sie bedeuten den völligen Bruch mit dem Marxismus und Kommunismus sowie mit den Ergebnissen der praktischen Erfahrung aller halbproletarischen Revolutionen und der jetzigen proletarischen Revolution.

Erstens vereinigt der Begriff „Produzent“ den Proletarier mit dem Halbproletarier und mit dem kleinen Warenproduzenten und gibt somit den Grundbegriff des Klassenkampfes und die Grundforderung, zwischen den Klassen genau zu unterscheiden, radikal preis.

Zweitens ist die Orientierung auf die parteilosen Massen bzw. das Liebäugeln mit ihnen, das in der angeführten These zum Ausdruck kommt, eine nicht weniger radikale Abkehr vom Marxismus.

Der Marxismus lehrt - und diese Lehre ist nicht nur formell von der gesamten Kommunistischen Internationale im Beschluß des II. Kongresses der Komintern (1920) über die Rolle der politischen Partei des Proletariats bestätigt worden, sondern auch praktisch durch unsere Revolution bestätigt worden -, daß nur die politische Partei der Arbeiterklasse, d.h. die kommunistische Partei, imstande ist, eine solche Avantgarde des Proletariats und der gesamten werktätigen Masse zu vereinigen, zu erziehen und zu organisieren, die allein fähig ist, den unvermeidlichen kleinbürgerlichen Schwankungen dieser Masse, den unvermeidlichen Traditionen und Rückfällen in zünftlerische Beschränktheit oder zünftlerische Vorurteile unter dem Proletariat zu widerstehen und die ganze zusammengefaßte Tätigkeit des gesamten Proletariats zu leiten, d.h. es politisch zu leiten, und durch das Proletariat alle werktätigen Massen zu leiten. Anders ist die Diktatur des Proletariats nicht zu verwirklichen.

Die falsche Auffassung von der Rolle der kommunistischen Partei in ihrem Verhältnis zum parteilosen Proletariat und sodann im Verhältnis des ersten und des zweiten Faktors zur gesamten Masse der Werktätigen ist eine grundsätzliche theoretische Abkehr vom Kommunismus und eine Abweichung in der Richtung zum Syndikalismus und Anarchismus, diese Abweichung aber durchdringt alle Auffassungen der Gruppe der „Arbeiteropposition“.
 

4. Der X. Parteitag der KPR erklärt, daß er alle Versuche der genannten Gruppe und anderer Personen, ihre falschen Auffassungen unter Berufung auf Paragraph 5 des wirtschaftlichen Teils des Programms der KPR zu verteidigen, der sich mit der Rolle der Gewerkschaften befaßt, ebenfalls für grundfalsch hält. Dieser Paragraph besagt, daß „die Gewerkschaften dahin gelangen müssen, daß sie die ganze Leitung der gesamten Volkswirtschaft als eines einheitlichen wirtschaftlichen Ganzen tatsächlich in ihren Händen konzentrieren“ und daß sie „auf diese Weise ein unlösbares Band zwischen der zentralen Staatsverwaltung, der Volkswirtschaft und den breiten Massen der Werktätigen sichern“, indem sie diese Massen „zur unmittelbaren Arbeit an der Wirtschaftsführung heranziehen“.

Als Vorbedingung für eine solche Lage, zu der die Gewerkschaften „gelangen müssen“, erklärt das Programm der KPR im gleichen Paragraphen den Prozeß der „immer größeren Befreiung der Gewerkschaften von der zünftlerischen Beschränktheit“ und die Erfassung der Mehrheit „und nach und nach aller“ Werktätigen durch die Gewerkschaften.

Schließlich wird im gleichen Paragraphen des Programms der KPR unterstrichen, daß die Gewerkschaften „bereits auf Grund der Gesetze der RSFSR und der eingebürgerten Praxis an allen lokalen und zentralen Verwaltungsorganen der Industrie teilnehmen“.

Anstatt gerade diese praktischen Erfahrungen der Teilnahme an der Verwaltung zu berücksichtigen, anstatt diese Erfahrungen in strenger Übereinstimmung mit den erreichten Erfolgen und korrigierten Fehlern weiter zu entwickeln, geben die Syndikalisten und Anarchisten direkt die Losung „Kongresse oder Kongreß der Produzenten“ aus, die die Verwaltungsorgane der Wirtschaft „wählen“. Die führende, erzieherische, organisierende Rolle der Partei gegenüber den Gewerkschaften des Proletariats und des Proletariats gegenüber den halbkleinbürgerlichen und ausgesprochen kleinbürgerlichen Massen der Werktätigen wird auf diese Weise vollständig umgangen, ausgeschaltet, und anstatt der Fortführung und Verbesserung der von der Sowjetmacht bereits begonnenen praktischen Arbeit zum Aufbau neuer Wirtschaftsformen ergibt sich ein kleinbürgerlich-anarchistisches Zerstören dieser Arbeit, das nur zum Triumph der bürgerlichen Konterrevolution führen kann.
 

5. Außer der theoretischen Unrichtigkeit und der grundfalschen Einstellung zur praktischen Erfahrung des von der Sowjetmacht begonnenen wirtschaftlichen Aufbaus sieht der Parteitag der KPR in den Auffassungen dieser Gruppe und analoger Gruppen und Personen eine schwere politische Verirrung und eine unmittelbare politische Gefahr für das Bestehen der Diktatur des Proletariats selbst.

In einem Lande wie Rußland werden durch das gewaltige Überwiegen des kleinbürgerlichen Elements und durch die infolge des Krieges unvermeidliche wirtschaftliche Zerrüttung und Verarmung, die Epidemien und Mißernten, die krasse Verschärfung der Not und der Volksleiden besonders starke Schwankungen in den Stimmungen der kleinbürgerlichen und halbproletarischen Massen erzeugt. Diese Schwankungen verlaufen bald in der Richtung einer Stärkung des Bündnisses dieser Massen mit dem Proletariat, bald in der Richtung einer bürgerlichen Restauration, und die ganze Erfahrung aller Revolutionen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zeigt mit absoluter Klarheit und Überzeugungskraft, daß aus diesen Schwankungen nichts anderes herauskommen kann als die Restauration (Wiederherstellung) der Macht und des Eigentums der Kapitalisten und der Gutsbesitzer, falls die Einheit, die Kraft, der Einfluß der revolutionären Vorhut des Proletariats auch nur im geringsten geschwächt wird.

Deshalb sind die Ansichten der „Arbeiteropposition“ und ihr ähnlicher Elemente nicht nur theoretisch falsch, sondern dienen auch praktisch als Ausdruck kleinbürgerlicher und anarchistischer Schwankungen, schwächen praktisch die konsequente führende Linie der kommunistischen Partei und helfen praktisch den Klassenfeinden der proletarischen Revolution.
 

6. Auf Grund all dessen verwirft der Parteitag der KPR entschieden diese Ideen, in denen sich die syndikalistische und anarchistische Abweichung äußert, und erkennt als notwendig an

Indem der Parteitag das ZK der Partei beauftragt, diese seine Beschlüsse strengstens durchzuführen, weist er zugleich darauf hin, daß in speziellen Veröffentlichungen, Sammelbänden usw. dem möglichst gründlichen Meinungsaustausch der Parteimitglieder über alle erwähnten Fragen Platz eingeräumt werden kann und soll.

 


Leztztes Update: 20.7.2008