Paul Levi


Brief an Lenin [1]

(27 März 1919)


Quelle: Paul Levi,Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie, Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Abendroth, Flechtheim und Fetscher, Frankfurt 1969, S.19-22.
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Werter Genosse Lenin,

ich benutze die erste Gelegenheit, um Ihnen einen kurzen Bericht über unsere Situation zu geben. Die näheren Umstände der Ereignisse in Berlin ersehen Sie aus einer kleinen Broschüre, die ich Ihnen gleichzeitig sende. In Berlin herrscht nach wie vor Terror in wildester Form, und wir sind persönlich gezwungen, illegal zu leben, und wir müssen den Teil der Tätigkeit, der illegal schwer oder nicht auszuüben ist, Herausgabe der Zeitung, Büros usw., für die Zeit schlimmsten Terrors von Berlin weg nach Leipzig verlegen. Im übrigen glaube ich sagen zu können, trotz des Wütens der Weißen Garde hat die Bewegung nicht gelitten. Die Erbitterung ist maßlos, und vor allem ist die Streikbewegung, die einsetzte, auch durch das Berliner Blutbad nicht zum Stillstand gekommen. Sie setzt schon von neuem wieder ein. Schon ist in Rheinland-Westfalen die Bewegung wieder ausgebrochen, Württemberg wird dieser Tage folgen, Oberschlesien ist in Unruhe usw.

Wir halten diese partiellen Streiks, die alle politischen Charakter tragen, in einem gewissen Sinne für unerwünscht. Sie sind zwar in den einzelnen Reichsteilen, in denen sie ausbrechen, gewaltig groß, aber solange sie partiell bleiben, reichen die Mittel der Regierung hin, die politische Bewegung wieder niederzuhalten. Wir tun daher, da wir die Möglichkeit eines Sieges erst im Generalstreik über ganz Deutschland sehen, nichts, um die partiellen Streiks hervorzurufen, und wir tun im einzelnen Falle alles uns Mögliche, um die Leute davon zurückzuhalten, der Regierung irgendeine Möglichkeit zum Blutvergießen zu geben. Vom letzteren können wir die Proletarier – nicht aber die Regierung – zurückhalten. Vom Streik selbst nicht: die Arbeiter laufen buchstäblich von selbst aus den Betrieben, so groß ist die Erbitterung.

Andererseits können wir natürlich der Streikbewegung auch nicht bremsend entgegentreten: zumal ja der Generalausstand allen Anschein nach in Deutschland aus einer immer schnelleren Folge von partiellen Ausständen herauswachsen wird. Es ist in Deutschland immerhin eine syndikalistische Strömung in gewissem Umfang vorhanden: es ist manchmal nicht leicht, unsere Leute von solchen Torheiten zurückzuhalten. Zumal wir auch innerhalb unserer Organisation gewisse Versuche aus jenem Lager haben, die direkt auf Staatsstreiche innerhalb unserer Organisation hinausliefen.

Namentlich die Ermordung von Leo [2] und die durch die Umstände hervorgerufene Unterbrechung des Erscheinens einer Zeitung auf etwa 8 Tage hat den Leuten Mut gegeben: wir haben deswegen für morgen eine Konferenz einberufen, um diese organisatorischen Fragen sowie unsere Stellung zum Syndikalismus und zur Generalstreikfrage ins reine zu bringen. Parteipolitisch ist die Lage etwa folgende:

Die Stellung der Regierung Ebert-Scheidemann ist erschüttert. Sie lebt nur noch von der Gnade der Bourgeoisie, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß diese Gnade nicht allzu lange mehr währen wird. In den breiten Schichten des Proletariats haben sie abgewirtschaftet. Die Metzeleien, die sie durch das ganze Reich hindurch veranstaltet haben, die heute vor aller Augen liegende Ergebnislosigkeit bewirkt, daß selbst der Teil der Bourgeoisie, der die Revolution durch Konzessionen einzudämmen hofft (z.B. Frankfurter Zeitung, Vossische Zeitung), mit dieser Ergebnislosigkeit unzufrieden ist.

Es ist selbstverständlich, daß außer uns die Unabhängigen den größten Gewinn aus dieser Entwicklung ziehen, zumal sie sich jetzt wieder außerordentlich radikal gebärden und durch radikale Reden vergessen zu machen suchen, daß sie die ganze Politik der Ebert-Scheidemann mitgemacht haben, solange sie von dieser in der Regierung geduldet worden waren, die innere wie die äußere. Sie haben die Rechtlosmachung der Räte mitgemacht. Sie haben die Einberufung der Nationalversammlung festgemacht.

Sie haben auch die ganze Politik gegen Rußland mitgemacht; noch mehr, sie sind deren eigentliche Urheber. Wir nehmen an, daß Ihnen bekannt ist, daß bereits am 12. November, also am Tage nach der Berliner A.- u. S.-Rats-Sitzung, die die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Euch beschloß, die Reichsregierung unter Mitwirkung der 3 Unabhängigen beschloß, die Verhandlungen mit Euch nicht aufzunehmen, daß auf Anregung von Kautsky dasselbe beschlossen wurde mit der Begründung, „daß man sich sonst bei der Entente unbeliebt mache, daß die Einladung des Berliner Vollzugsrates zum I. Rätekongreß durch die Regierung verhindert wurde, und daß Haase [3] und Dittmann [4] dafür stimmten, daß am 12. Dezember die unabhängigen Mitglieder der Regierung allein beschlossen, der Entente den Vorschlag der gemeinsamen Bekämpfung des Bolschewismus zu machen.

Die „öffentliche Meinung“ hat ja nun, wie Ihr wißt, in Deutschland eine Änderung durchgemacht. Man „orientiert sich östlich“.

Nunmehr schreien auch wieder die Unabhängigen mit vollen Backen von der Einigung mit Rußland.

Kautsky ist ja nunmehr nach Rußland gereist. Es ist kein Zweifel, daß dieser Lump jetzt in Deutschland den „Vermittler“ mit Rußland wird spielen wollen.

Wie sich aus allem Vorstehendem ergibt, ist für uns jetzt das größte Hindernis die Zweideutigkeit und Verlogenheit der Unabhängigen. Innerpolitisch wäre es daher für uns vom größten Interesse, wenn Ihr Kautsky so behandelt, daß hier unzweideutig erkannt werden kann, wie Ihr über diese Elemente denkt. Am liebsten wäre uns, wenn Ihr uns eine offizielle Erklärung zugehen ließet, wie Ihr Kautsky und die Politik der USP (innen wie außen) einschätzt.

Wenn Verhandlungen mit der Regierung Ebert-Scheidemann in Eurem Interesse nötig sind (was wir nicht beurteilen können), dann wäre uns lieber, wenn ein Bürgerlicher als Vermittler aufträte; dann wäre wenigstens der USP die Möglichkeit genommen, mit Eurer „Freundschaft“ hier krebsen zu gehen.

 

Mit den besten Grüßen

                    Ihr
                        Hartstein [5]



Anmerkungen

1. Der Brief trägt das Datum des 27. März 1919. Der Text wird als Durchschlag des Briefes in der „Library for Political Studies“, New York, aufbewahrt.

2. Leo = Leo Jogiches (1867-1919). In russischen und polnischen revolutionären Zirkeln wurde er meist Jan Tyszko oder Tyszka genannt; unter diesem Namen erscheint er auch in sowjetischen historischen Arbeiten. Im Spartakusbund und in der KPD arbeiteten Leo Jogiches und Rosa Luxemburg eng zusammen. Jogiches wurde 2 Monate nach Rosa Luxemburg ermordet.

3. Haase, Hugo (1863-1919), Reichstagsabgeordneter 1897 bis 1906 und 1912-1918, in der Nationalversammlung 1919 Führer der Unabhängigen, vom 9. Nov. bis 29. Dez. 1918 Volksbeauftragter der ersten Revolutionsregierung.

4. Dittmann, Wilhelm (1874-1954), seit 1899 in der sozialistischen Parteiarbeit, seit 1912 Reichstagsabgeordneter. Im Februar 1918 als „Miturheber“ am Aufstand der Matrosen 1917 wegen Landesverrat verurteilt, im Oktober 1918 begnadigt, Volksbeauftragter der ersten Revolutionsregierung. Reichstagsabgeordneter der USPD, später wieder der SPD.

5. Levis Brief ist mit „Hartstein“ gezeichnet, dem Pseudonym, das er bereits im Krieg in der Schweiz und für seinen illegalen Verkehr mit der russischen Partei benutzte.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008