Karl Liebknecht

 

Der Kampf im Ruhrrevier und die Revolution in Rußland

Rede in Leipzig am 12. Februar 1905


Leipziger Volkszeitung, 13. Februar 1905.
Karl Liebknecht, Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Berlin 1952, S.83-86.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Zeitungsbericht

In begeisterter Rede schildert Liebknecht noch einmal die Ursachen und den Verlauf des nun plötzlich zu Ende gegangenen Kampfes im Ruhrrevier [1] und geißelte dabei in schärfster Weise das traurige Verhalten der Herren Bülow und Möller im Reichsage gegenüber dem rücksichtslos-brutalen Gebaren der Zechenbesitzer, die auf die Regierung pfeifen und sie noch in dreister Weise verhöhnen. Welches der Zweck des Vorgehens der Grubenbarone ist, das hat sich namentlich in den letzten Tagen mit aller Deutlichkeit offenbart: sie wollen die völlige Niederschmetterung der Arbeiterorganisationen, was sie in dem bisherigen Kampfe nicht erreicht haben, aber jetzt dadurch zu erreichen hoffen, daß sie die Wiedereinstellung der Arbeiter einfach ablehnen, um sie in ihrer Verzweiflung zu Gewalttätigkeiten zu reizen. Das ist ihr Ziel. Von dem angekündigten preußischen Berggesetz ist, vorausgesetzt, daß überhaupt ein solches kommt, nichts zu erwarten ... In Preußen regiert das Kraut- und das Schlotjunkertum. Übrigens ist die preußische Regierung selbst an dem Grubenkapital beteiligt. Wenn also ein Berggesetz eingebracht wird, dann ist es sicherlich so beschaffen, daß es neben einem Quentchen Arbeiterschutz zentnerschweren Arbeitswilligenschutz enthält.

Genosse Liebknecht rühmt sodann das große Maß Selbstüberwindung und die Einmütigkeit der Bergarbeiter in diesem Riesenkampfe, der, wenn er auch den Kämpfenden selbst keinen materiellen Erfolg gebracht hat, so doch einen gewaltigen moralischen Erfolg, und zwar für die gesamte Arbeiterschaft. Ihr sind die Augen aufgetan. Tief hat sich in ihr die Überzeugung festgewurzelt, daß die Regierung weiter nichts ist als ein Ausschuß der Kapitalisten, und das Märchen vom sozialen Königtum hat heute seinen Platz in der Rumpelkammer. Angesichts des fest koalierten Unternehmertums wirft der Redner die Frage auf, welche Möglichkeit überhaupt die Arbeiter noch haben, den Übermut des Kapitalismus und seiner Regierung zu brechen. Diese Frage berühre sich mit dem Generalstreik. Die Möglichkeit des politischen Generalstreiks sei jetzt mehr als je in die Erscheinung gerückt. Er bilde eine wichtige Frage für die Fortentwicklung der Arbeiterbewegung nicht nur Deutschlands, sondern für die ganze zivilisierte Welt. Und von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, habe der Kampf im Ruhrrevier weltgeschichtliche Bedeutung, denn er zeige, welche Taktik in Zukunft die Arbeiterbewegung einzuschlagen habe.

Aber bei aller Wichtigkeit dieses Kampfes für die Arbeiterbewegung, so fuhr der Redner fort, sind die gegenwärtigen Vorgänge in Rußland von unendlich größerer Bedeutung, sie sind ein Wendepunkt für die Geschicke der Völker Europas. In ausführlicher Weise verbreitet sich der Vortragende alsdann über die Geschichte der revolutionären Propaganda in Rußland, besonders über die Dekabristenbewegung, die bekanntlich von der Blüte des russischen Adels ausging und mit einem grausamen Hinschlachten der Teilnehmer endete; weiter schilderte er den Zarbefreier Alexander, der mit den Geschwornengerichten und der sogenannten Bauernbefreiung [1] die revolutionäre Bewegung aus der Welt zu schaffen hoffte; die brutale Unterdrückung aller Nationalitäten in Rußland, der Letten, der Polen, der Finnen, der Juden usw.; die beispiellose Korruption unter den Beamten, die Hungersnöte, die darauffolgende Periode der Propaganda der Tat, in der auch der Zar Alexander II. durch die Bombe endete. Langsam aber stetig verbreitet sich von dieser Zeit ab die Industrie, die eigentliche Triebkraft des Proletariats. Mit dem Fortschreiten der Industrie erscheint aber auch die Sozialdemokratie auf dem Plan, die die Fahne des Marxismus entfaltet, überall, im Westen, im Norden, im Süden. Zu der gewaltsamen Unterdrückung jeder freien Regung im Volke gesellten sich die Brutalitäten der Russifizierungspolitik ...

Bei der gänzlichen Rechtlosigkeit der russischen Arbeiterschaft war schließlich der Streik die einzige Waffe. Aber auch gegen diese Waffe der Arbeiterschaft ging man rücksichtslos vor, indem man den Streik als Majestätsbeleidigung qualifizierte. Die ständigen Begleiter von Streiks wurden deshalb die Kosakensäbel und Kosakenpeitschen. Der Redner erinnerte hierbei an die Auspeitschung der letzten Maidemonstranten durch den Gehilfen Plehwes, den Gouverneur Wahl. Ist es nicht natürlich, meinte er weiter, daß unter solchen Umständen der Gewalt ebenfalls Gewalt entgegengesetzt wird? Dort, wo man kein Recht kennt, kein legitimes Vorgehen? ... Die gegenwärtige Revolution in Rußland ist kein Strohfeuer, das mit einigen Gewaltstreichen zu vernichten wäre. Sie wird sich über das ganze Reich ausdehnen, bald hier verlöschen, bald dort wieder emporlodern, bis in ganz Rußland der Brand allgemein ist. Und wem habe man das zu danken?

Noch vor einigen Jahren erklärten selbst diejenigen russischen Revolutionäre, die zu den kühnen Vorwärtsstürmern gehörten, daß es noch jahrzehntelanger Arbeit bedürfe, ehe das russische Volk zur Revolution vorbereitet sei. Aber es ist anders gekommen: Die Kanonenschüsse vor Port Arthur [3] im Februar vorigen Jahres haben die Wendung gebracht. Sie haben die Geburt der Revolution verkündet, wie etwa in Preußen Kanonenschüsse die Geburt eines Prinzen verkünden. Japan hat daher der Zivilisation einen gewaltigen Dienst geleistet. Jetzt wird die Bewegung in Rußland nicht mehr mit Kartätschen zu vernichten sein. Mögen auch Bülow und seine Helfershelfer emsig bemüht sein, Steine herbeizuschleppen, um den schwankenden Bau des Zarismus wieder zu festigen, es wird ihnen nichts nützen. Wir haben alle Veranlassung zu wünschen, daß Japan der russischen Armee weitere und gründliche Niederlagen in Ostasien bereitet; denn je schmählicher, empfindlicher das Fiasko in Ostasien, desto größer die Erfolge der Revolution in Rußland. Glaube man ja nicht, daß das gesamte Militär dem Zarismus sicher sei. Eine Menge Anzeichen beweisen das Gegenteil. Redner erinnert hierbei an die meuternden Matrosen und an die bis jetzt wohl noch nicht bekannte Tatsache, daß an dem blutigen 22. Januar in Petersburg Offiziere vor der Front liegend, mit dem Revolver in der Hand, alle Soldaten daraufhin beobachteten, ob sie etwa falsche Schüsse abgeben würden.

Der 22. Januar wird in der Geschichte Rußlands einen Wendepunkt bedeuten. An dem Blute, das an jenem Tage vergossen wurde, wird auch der Zarismus verbluten. Nicht einzelne sind es, die etwa künstlich die Bewegung entfacht, sondern das ganze russische Volk hat sich erhoben, um sein Menschenrecht zu fordern, und es ist kein Zweifel, daß mit der Vernichtung der Landarmee Kuropatkins auch die Bastille des Zarismus zusammen- stürzt. Die Freiheit, die für Rußland anbricht, ist aber auch die Freiheit für Preußen, für Sachsen, für Deutschland... Wir haben, so schloß der Redner, alle Ursache, zur Fahne der russischen Revolution zu halten. Die russische Revolution ist unsere Sache, die Reaktion die Sache des Zaren und der preußischen Regierung. Die deutsche Sozialdemokratie weiß sich eins mit dem russischen Proletariat, seine Freiheit ist auch unsere Freiheit. Darum nieder mit dem blutbefleckten Zarismus! Es lebe die russische Revolution!

 

 

Anmerkungen

1. Gegen die Schichtverlängerung um eine Stunde begannen vom 7. Januar 1905 an die Bergarbeiter einzelner Zechen des Ruhrbezirks in den Streik zu treten. Durch den Beschluß der Vertrauensleute der Bergarbeiter wurde der allgemeine Streik beschlossen, der vom 17. Januar bis zum 10. Februar dauerte. Es streikten 260.000 Bergarbeiter. Der Streik wurde gegen den Willen der Mehrheit der Bergarbeiter durch die reformistischen Gewerkschaftsführer abgebrochen. Der Vorwärts vom 14. Februar 1905 schrieb: #9222;Trotz aller Erbitterung und alles anfänglichen Widerstrebens haben die Bergarbeiter schließlich doch der Parole ihrer Führer Folge geleistet.“

2. Im zaristischen Rußland entwickelte sich der Kapitalismus später als in anderen europäischen Ländern. Bis in die 1860er Jahre gab es wenige Fabriken und Werke. Vorherrschend war die auf Leibeigneschaft beruhende Wirtschaft der adligen Gutsbesitzer. Unter dem System der Leibeigenschaft konnte sich die Industrie nicht richtig entfalten. Die unfreie Arbeit der Leibeigenen ergab eine niedrige Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft und die Tatsache, daß die Leibeigenen persönlich am Grund und Boden gebunden waren, verhinderte die industrielle Entwicklung. Die Niederlage im Krimkrieg zeigte deutlich die Rückständigkeit des Landes und die Notwendigkeit des radikalen ökonomischen Bruchs. Deswegen, und auch angesichts einer Reihe von Bauernrebellionen gegen die Gutsbesitzer, sah sich die zaristische Regierung dazu gezwungen, die Leibeigenschaft im Jahre 1861 aufzuheben. Da aber diese Reform halbherzig war, konnten die Gutsbesitzer ihre schreckliche Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern weiter fortsetzen.

3. Karl Liebknecht meint den Überfall der japanischen Flotte auf das bei Port Arthur liegende russiche Geschwader, mit dem der Russisch-Japanische Krieg (8. Februar 1904 bis 5. September 1905) begann.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003