MIA > Deutsch > Marxisten > K. Liebknecht > Militarismus u. Antimilitarismus
Wir gehen mm zu einer speziellen Betrachtung der Mittel und der Wirkungen des Militarismus über und halten uns hierbei an das Paradigma des preußisch-deutschen bürokratisch-feudal-kapitalistischen Militarismus, dieser schlimmsten Form des kapitalistischen Militarismus, dieses Staates über dem Staate.
Wenn es auch richtig ist, daß der heutige Militarismus nichts anderes als eine Manifestation unsrer kapitalistischen Gesellschaft ist, so ist er doch eine Manifestation, die sich fast verselbständigt hat und nahezu Selbstzweck geworden ist.
Der Militarismus muß, um seinen Zweck zu erfüllen, die Armee zu einem handlichen, gefügigen, wirksamen Instrument machen. Er muß sie in militärisch-technischer Beziehung auf eine möglichst hohe Stufe heben und andrerseits, da sie aus Menschen, nicht Maschinen, besteht, also eine lebendige Maschinerie ist, mit dem richtigen „Geist“ erfüllen.
Die erste Seite der Sache löst sich schließlich in eine finanzielle Frage auf; diese wird unten näher erörtert werden. Die zweite Seite soll uns hier zunächst näher beschäftigen.
Sie hat einen dreifachen Inhalt. Der Militarismus sucht den militärischen Geist zunächst und in erster Linie im aktiven Heere selbst, sodann in denjenigen Kreisen, die für die Ergänzung des Heeres im Mobilmachungsfalle als Reserve und Landwehr in Betracht kommen, und schließlich in allen übrigen Kreisen der Bevölkerung, die als Milieu und Nährboden für die militaristisch und für die antimilitaristisch zu verwendenden Bevölkerungskreise von Bedeutung sind, zu erzeugen und zu fördern.
Jener richtige „militärische Geist“, auch „patriotischer Geist“ und in Preußen-Deutschland „Geist der Königstreue“ benannt, bedeutet kurzweg jederzeitige Bereitschaft, auf den äußeren und auf den inneren Feind nach Kommando loszuschlagen. Zu ihrer Erzeugung ist an und für sich am geeignetsten völliger Stumpfsinns wenigstens eine möglichst niedrige Intelligenz, die es ermöglicht, die Masse wie eine Herde Vieh zu treiben, wohin es das Interesse der „bestehenden Ordnung“ vorschreibt. Das Geständnis des preußischen Kriegsministers von Einem, ihm sei ein königstreuer Soldat, auch wenn er schlecht schieße, lieber als ein minder gesinnungstüchtiger, selbst wenn er noch so gut schieße, ist sicherlich dem tiefsten Herzen dieses Vertreters des deutschen Militarismus entsprungen.
Aber der Militarismus befindet sich hier in einer bösen Zwickmühle. Waffentechnik, Strategie und Taktik fordern heute von dem Soldaten ein nicht geringes Maß an Intelligenz [1] und machen den intelligenteren Soldaten ceteris paribus auch zu dem tüchtigeren. [2] Schon darum könnte der Militarismus mit einer bloß stumpfsinnigen Masse heutzutage nichts mehr anfangen. Eine solch stumpfsinnige Masse kann der Kapitalismus aber schon wegen der wirtschaftlichen Funktionen der großen Masse, insbesondere des Proletariats, nicht gebrauchen. Der Kapitalismus ist, um ausbeuten zu können, um eine möglichst hohe Profitrate herauszuschlagen – was ja seine unentrinnbare Lebensaufgabe ist – durch ein tragisches Verhängnis gezwungen, in weitem Umfange unter seinen Sklaven dieselbe Intelligenz systematisch zu erzeugen, die ihm, wie er genau weiß, Tod und Vernichtung bringen muß. Alle Versuche, durch geschicktes Lavieren, durch raffiniertes Zusammenwirken von Kirche und Schule das Schifflein des Kapitalismus zwischen der Scylla einer allzu niedrigen, die Ausbeutung allzusehr erschwerenden, den Proletarier selbst Zum Arbeitstier ungeeignet machenden Intelligenz und der Charybdis einer die Köpfe der Ausgebeuteten revolutionierenden, der überall heranströmenden Klassenerkenntnis weit öffnenden, für den Kapitalismus notwendig verderblichen Bildung hindurchzubugsieren, sind trost- und hoffnungslos. Nur die ostelbischen Landarbeiter, die nach dein berühmten Kröcherschen Wort in der Tat als dümmste Arbeiter noch die, notabene für den Junker, besten Arbeiter mein können, bieten in größerem Umfange dem Militarismus ein Material, das sich rein sklavisch-herdenmäßig ohne weiteres auf Kommando lenken, aber freilich wegen seiner selbst für den Militarismus allzu geringen Intelligenz im Heer nur mit Vorsicht und innerhalb gewisser Grenzen gut gebrauchen läßt.
Unsre besten Soldaten sind Sozialdemokraten, lautet ein viel zitiertes Wort. Man erkennt daran die Schwierigkeit der Aufgabe, die Armee der allgemeinen Wehrpflicht mit dem richtigen militärischen Geist zu. versorgen. [3] Da der bloße Sklaven- oder Kadaver- gehorsam nicht ausreicht, aber auch nicht mehr möglich ist, muß der Militarismus mich den Willen seiner Mannschaft auf einem Umwege zu eigen machen, um sich auf diese Weise „Schießautomaten“ zu schaffen. [4] Er muß ihn durch geistige und seelische Beeinflussung oder durch Gewaltmittel beugen, er muß ihn ködern oder zwingen. „Zuckerbrot und Peitsche“ heißt es auch hier. Der richtige „Geist“, den der Militarismus braucht, ist erstens mit Rücksicht auf seine Funktion gegenüber dem äußeren Feind: chauvinistische Verbohrtheit, Engherzigkeit und Selbstüberhebung, zweitens mit Rücksicht auf seine Funktion gegenüber dem inneren Feind: Unverständnis oder selbst Haß gegen jeden Fortschritt, gegen jede die Herrschaft der augenblicklich herrschenden Klasse auch nur im entferntesten bedrohende Unternehmung und Bestrebung. In diese Richtung hat der Militarismus, soweit er mit dem Zuckerbrot ködern will, das Denken und Empfinden der Soldaten zu lenken, denen ihr Klasseninteresse jeden Chauvinismus vom Leibe hält und jeden Fortschritt bis zum Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung als einzig verständiges Ziel erscheinen läßt. Dabei soll nicht verkannt werden, daß der Proletarier im militärpflichtigen Alter, wenn auch dem Bourgeois gleichen Alters an Selbständigkeit und politischer Einsicht in der Regel weit überlegen, im Klassenbewußtsein noch nicht gefestigt zu sein pflegt.
Das System der geistigen und psychischen Beeinflussung der Soldaten, das an Stelle der Klassenscheidung nach sozialen Klassen eine solche Scheidung nach Jahresklassen zu setzen, eine besondere Klasse von 20- bis 22jährigen Proletariern mit einem dem Denken und Fühlen des Proletariats der andern Altersklassen geradezu konträren Denken und Fühlen zu schaffen sucht, ist ein höchst kühnes und raffiniertes.
In erster Linie gilt es, den Proletarier im bunten Rock scharf und rücksichtslos örtlich abzusondern von seinen Klassengenossen und von seiner Familie. Dies wird durch die Dislozierung aus der Heimat, die besonders in Deutschland systematisch durchgeführt ist, und vor allen Dingen durch die Kasernierung [5] erreicht. Man kann hier geradezu von einer Wiederholung der jesuitischen Erziehungsmethode reden, von einem Gegenstück zu dem Klosterwesen.
Sodann gilt es, diese Absonderung möglichst lange durchzuführen, eine Tendenz, die, nachdem militärisch-technisch die Notwendigkeit der langen Dienstzeit längst geschwunden ist, nur noch durch ihre finanzielle Verderblichkeit durchkreuzt wird, ein Umstand, dem zum Beispiel die 1893 erfolgte Einführung der zweijährigen Dienstzeit in Deutschland wesentlich zu verdanken ist. [6]
Und schließlich gilt es, die so gewonnene Zeit möglichst geschickt zur Seelenfängerei auszunutzen. Dazu dienen verschiedene Mittel. Ganz, wie dies von der Kirche geschieht, sucht man alle menschlichen Schwächen und alle Sinne in den Dienst dieser militaristischen Pädagogik zu spannen. Ehrgeiz und Eitelkeit werden aufgestachelt, der Soldatenrock wird als vornehmster Rock proklamiert, die Soldatenehre als eine besonders ausgezeichnete verherrlicht und der Soldatenstand als der wichtigste und angesehenste. ausposaunt und auch tatsächlich mit vielen Vorrechten ausgestattet. [7] Auf die Putzsucht wird spekuliert, indem die Uniformen, entgegen ihrem rein militärischen Zweck, zu buntem Flitter und nach Art der Fastnachtskostüme auf den plumpen Geschmack derjenigen niederen Volksklassen, die man durch sie zu kaptivieren versucht, zugeschnitten werden. Allerhand kleine glitzernde Auszeichnungen, Ehrenzeichen, Schießschnüre usw. dienen dem gleichen niedrigen Instinkt, der Putz- und Großmannssucht. Und wieviel Soldatenleid hat schon die Militärmusik gelinden, der neben dem schimmernden Uniformenkrimskrams und dem pompösen Militärgepränge der größte Teil jener vorbehaltslosen Popularität zu verdanken ist, deren sich unser „herrliches Kriegsheer“ bei Kindern, Narren, Dienstmädchen und Lumpenproletariern reichlich nähmen darf. Wer das berüchtigte Paradepublikum und das dem Aufzuge der Berliner Schloßwache folgende Gewimmel auch nur ein einziges Mal gesehen hat, ist sich darüber klar. Daß die so tatsächlich in gewissen Zivilkreisen geschaffene Beliebtheit des Soldatenrocks für die ungebildeten Elemente der Armee ein beträchtliches Moment der Verlockung bedeutet, ist bekannt genug.
Alle diese Mittel wirken um so besser, je tiefer das geistige Niveau der Soldaten, je tiefer ihre soziale Lage ist; denn solche Elemente sind, nicht nur vermöge ihrer geringen Urteilsfähigkeit durch Flitter und Tand leichter zu betrügen, für sie ist auch – man stelle sich nur einen amerikanischen Neger [8] oder ostpreußischen Gesindesklaven vor, dem plötzlich der „vornehmste“ Rock angezogen wird! – der Unterschied zwischen dem Niveau ihrer früheren bürgerlichen und dem ihrer militärischen Stellung besonders groß und aufdringlich. So ergibt sich der tragische Konflikt, daß diese Mittel inniger bei dem intelligenten Industrieproletarier, auf den sie gerade in erster Linie zu wirken bestimmt sind, als auf diejenigen Elemente wirken, auf die ein Einfluß in dieser Richtung wenigsten vorläufig noch kaum notwendig scheint, da sie ohne weiteres ein hinreichend gefügiges Material für den Militarismus bilden. Immerhin mögen jene Mittel auch hier zur Konservierung des dem Militarismus genehmen „Geistes“ beitragen. – Demselben Zweck dienen auch die Regimentsfeste Kaisergeburtstagsfeiern und dergleichen.
Wenn alles getan ist, um den Soldaten gewissermaßen in eine Besoffenheitsstimmung tu versetzen, seine Seele zu narkotisieren, sein Gefühls- und Phantasieleben zu exaltieren, gilt es seine Verstandeskräfte systematisch zu bearbeiten. Die Instruktionsstunde setzt ein und sucht dem Soldaten ein kindisches, schiefes, für die Zwecke des Militarismus zurechtgestutztes Weltbild einzupauken. Natürlich wirkt auch dieser, meist von pädagogisch ganz unfähigen und ungebildeten Leuten erteilte Unterricht gerade auf die intelligenteren Industrieproletarier, die oft genug viel klüger sind als ihre Instrukteure, ganz und gar nicht. Er ist ein Versuch am untauglichen Objekt oder gar ein auf den Schützen zurückprallender Pfeil: Das hat in bezug auf die antisozialdemokratischen „Belehrung“ der Soldaten gegenüber dem General Lieben erst jüngst selbst Die Post und ein Max Lorenz, beflügelt vom Scharfsinn der Profitkonkurrenz nachgewiesen.
Und zur Erzeugung der nötigen Biegsamkeit und Folgsamkeit des Willens dient der Gamaschendrill, die Kasernenzucht, die Heiligsprechung des Offiziers- [9] und Unteroffiziersrocks [10], der auf vielen Gebieten wahrhaft legibus solutus und sakrosankt scheint, kurzum die Disziplin und Kontrolle, die den Soldaten bei allem, was er tut und denkt, dienstlich und außerdienstlich, eisern umklammert. Da wird jeder einzelne so rücksichtslos nach allen Richtungen gebogen, gezerrt und verrenkt, daß das stärkste Rückgrat in Gefahr ist, kurz und Mein zu brechen, und entweder biegt oder bricht. [11]
Die eifrige Pflege des „kirchlichen“ Geistes, dessen Förderung im Februar 1892 ein – übrigens ohne Präjudiz abgelehnter – Antrag der Budgetkommission des Reichstags als besonderes Ziel der militärischen Erziehung ausdrücklich bezeichnete, ist auch hier bestimmt, das Werk der militärischen Unterdrückung und Versklavung zu vollenden.
Instruktion und kirchliche Bearbeitung sind zugleich Zuckerbrot und Peitsche, das letztere nur in meist vorsichtig verschleierter Anwendung.
Süßestes Zuckerbrot, als Lockmittel zur Bildung und Füllung der wichtigen ständigen Kader der Armee erfolgreich verwendet, ist das Kapitulantentum mit der Aussicht auf Unteroffiziersprämie [12] und Zivilversorgungsschein [13] eine sehr durchtriebene und gefährliche Einrichtung, die auch, wie später zu zeigen, unser ganzes öffentliches Leben militaristisch verseucht.
Die pfeifende Peitsche des Militarismus aber – das ist vor allen Dingen das Disziplinarwesen [14], das Militärstrafrecht mit seiner rigorosen Bedrohung jeder geringsten Auflehnung gegen den sogenannten militärischen Geist und die Militärjustiz mit ihrem halb mittelalterlichen Verfahren, mit ihrer unmenschlichen, barbarischen Bestrafung auch der geringsten Insubordination und ihrer gelinden Beurteilung der Ausschreitungen Vorgesetzter gegen Untergebene, mit ihrer fast grundsätzlichen Eskamotierung des Notwehrrechts. Nichts kann aufreizender gegen dort Militarismus und zugleich lehrreicher wirken als eine einfache Lektüre der Kriegsartikel und Militärstrafprozesse.
Hierher gehören aber auch die Soldatenmißhandlungen, von denen unten besonders zu sprechen sein wird. Sie bilden zwar kein gesetzliche, aber tatsächlich vielleicht das wirksamste aller Gewaltdisziplinarmittel des Militarismus.
So sucht man Menschen zu zähmen, wie man Tiere zähmt. So werden die Rekruten narkotisiert, verwirrt, geschmeichelt, gekauft, gedrückt, eingesperrt, geschliffen und geprügelt; so wird Körnlein um Körnlein zum Mörtel für den gewaltigen Bau der Armee zusammengemischt und geknetet, so wird Stein für Stein wohlberechnet zum Bollwerk gegen den Umsturz gefügt. [15]
Der Klassenkampfcharakter all dieser Lock-, Zucht- und Zwangsmittel wird offenbar im Einjährig-Freiwilligen-Institut. Däs zinn Reserveoffizier prädestinierte einjährig-freiwillige Bourgeoissöhnchen ist über den Verdacht antikapitalistischer und antimilitaristischer, überhaupt umstürzlerischer Anwandlungen im allgemeinen erhaben; folgerichtig bleibt es von Dislozierung, Kasernierung, Instruktion, Kirchenbesuchszwang und selbst einem großen Teil des Gamaschendrills verschont; natürlich verfällt es auch den Fängen der Disziplinierung und des Militärstrafrechts nur ausnahmsweise und meist harmlos, und die Soldatenschinder wagen sich, trotz ihres häufigen triebhaften Hasses gegen alles „Gebildete“, nur selten an sie. – Die Offiziersausbildung liefen einen zweiten schlagenden Beweis derselben These.
Von hervorragendem Wert für die Heeresdisziplin ist das Zusammenwirken von Menschenmassen, innerhalb deren die Selbständigkeit des Individuums in weitem Umfang aufgehoben wird. Jeder einzelne ist im Heere, gleich dem Galeerensträfling, an alle andern angekettet, zu freier Aktion nahezu unfähig. Die hunderttausendfache Kraft aller übrigen hält ihn mit überwältigender Macht von jeder selbständigen Eigenbewegung zurück. Alle Glieder dieses gewaltigen Organismus oder besser dieser gewaltigen Maschinerie sind – außer der Kommandosuggestion – noch einer besonderen Hypnose, einer Massensuggestion unterworfen, deren Einfluß freilich an einer aus aufgeklärten und entschlossenen Gegnern des Militarismus bestehenden Armee machtlos abprallen muß.
Auf dem Gebiete der Soldatenerziehung vertragen sich, wie ersichtlich, die beiden Aufgaben des Militarismus keineswegs überall, sondern geraten sich gar oft in die Haare. Das gilt von der Ausbildung sowohl wie von der Ausrüstung. Die kriegsmäßige Ausbildung verlangt immer gebieterischer ein stets höheres Maß von Selbständigkeit des Soldaten. Als „Hofhund des Kapitals“ braucht der Soldat keine Selbständigkeit, ja er darf sie nicht einmal haben, soll seine Selbstmörderqualifikation nicht vernichtet werden. Kurzum, der Krieg gegen den äußeren Feind erfordert Männer, der Krieg gegen den inneren Feind Sklaven, Maschinen. Und was die Ausrüstung und Ausstattung anbelangt, so kann man zur Erzeugung des zum Kampfe gegen den inneren Feind erforderlichen Geistes der bunten Uniformen, der glitzernden Knöpfe und Helme, der Fahnen, des Paradedrills, der Kavallerieattacken und all des Krimskrams nicht entraten, die im Krieg gegen den äußeren Feind geradezu verhängnisvoll werden müssen, ja einfach unmöglich sind. [16] Diesen tragischen Konflikt, dessen mannigfaltige Seiten hier nicht eingehend dargestellt werden können, haben all die gutgesinnten Kritiker unseres Militarismus [17], die in ihrer Harmlosigkeit nur den Maßstab der kriegsmäßigen Ausbildung anlegen, nicht kapiert. Sie bleiben Prediger in der Wüste.
Und diese Interessenkollision innerhalb des Militarismus selbst, dieser Widerspruch in sich selbst, an dem er krankt, besitzt die Neigung, sich fortgesetzt zu verschärfen. Es hängt jeweils von dem Verhältnis der außer- und der innerpolitischen Spannung zueinander ab, welches der beiden widerstreitenden Interessen die Oberhand gewinnt. Daß hier ein Keim der Selbstvernichtung im Militarismus liegt, ist nicht zu verkennen.
Wenn aber der Krieg gegen den inneren Feind im Falle einer bewaffneten Revolution militärisch-technisch so hohe Anforderungen stellt, daß aufgeputzte Sklaven und Maschinen zu ihrer Bekämpfung nicht mehr ausreichen, dann hat gleichfalls das letzte Stündlein der gewaltsamen Minderheitsherrschaft, der kapitalistischen Oligarchie, geschlagen.
Wichtig genug ist, daß jener militärische Geist Verwirrung und Irreführung des proletarischen Klassenbewußtseins überhaupt bedeutet und daß der Militarismus durch Verseuchung unseres gesamten öffentlichen Lebens mit ihm gleichzeitig nach allen andern Richtungen hin, abgesehen von der rein militaristischen, dem Kapitalismus dient, zum Beispiel durch Erzeugung und Förderung proletarischer Gefügigkeit gegenüber der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ausbeutung und möglichste Hintanhaltung des proletarischen Befreiungskampfes. Wir haben darauf noch zurückzukommen.
Der Militarismus sucht aber auch die noch nicht oder nicht mehr der aktiven Armee angehörigen Personen in möglichstem Umfange möglichst dauernd und möglichst nachdrücklich zu beeinflussen. Zunächst durch Anmaßung möglichst großer Machtvollkommenheiten über diese Personen, zum Beispiel durch das Kontrollwesen, durch weitgreifende Ausdehnung der Militärgerichtsbarkeit, des militärischen Ehrengerichtsverfahrens, das selbst gegen Offiziere a.D. angewandt wird [18], ja selbst der Kommandogewalt. Hier ist besonders kennzeichnend die Unterstellung der zur Kontrollversammlung einberufenen Mannschaften unter die Militärgerichtsbarkeit, die von den Militärbehörden für den ganzen Tag der Kontrollversammlung in Anspruch genommen wird, und zwar ganz offenbar gesetzwidrig. Nicht der geringste Anhalt besteht für die Etablierung eines solchen Rechts, es ist eine einfache Usurpation. Hierher gehören weiter die Jugendwehren und Kriegervereine mit ihrer offiziös- oder halbmilitärischen Leitung, mit ihrer Nachäffung des militärischen Aufputzes, Firlefanzes und Festifizierens. Eine Hauptrolle spielt auf diesem Gebiete militaristischer Betätigung der Reserveoffizierunfug, der den militärischen Kastengeist in das bürgerliche Leben hineinträgt und verewigt und, was noch wichtiger ist, die höheren Beamten der staatlichen und kommunalen Zivilverwaltung, auch der Justiz und des Unterrichtswesens [19] fast ausnahmslos der militärischen Disziplin unterstellt, dem militaristischen Geiste, der gesamten militaristischen Lebensauffassung unterwirft und damit jeder doch nicht ganz unmöglichen unbequemen oppositionellen Regung von vornherein entzieht. So ist – im Verein mit dem Militäranwärtertum, das für die Subalternen und Unterbeamten dieselbe Rolle spielt – die Gefügigkeit der zivilen Exekutive verankert; so ist dafür gesorgt, daß die Bäume der Klassenjustiz und des Klassenschulwesens in den Himmel des Militarismus wachsen, zugleich aber die Bäume der Selbstverwaltung [20] tüchtig beschnitten werden. Nicht unerwähnt sei ferner das gegenüber den aktiven und inaktiven Offizieren ausgesprochene Schriftstellereiverbot, neben dem höchst lehrreichen Fall Gädke das beweiskräftigste Symptom für das rücksichtslose Streben des Militarismus nach geistiger Unterjochung und zentralistischer Überwachung alles dessen, was sich irgend in seinem Bereiche befindet, zugleich aber auch für seine Tendenz nach fortwährender gesetzlicher oder auch ungesetzlicher Ausdehnung seiner Einflußsphäre, für seine Uferlosigkeit, seine Machtunersättlichkeit.
Eine noch wichtigere Frucht der militaristischen Expansionssucht als selbst der Reserveoffizierunfug ist das Militäranwärterunwesen, das außer dem geschilderten rein militärischen Zweck nicht minder dem Zweck dient, eine Gefolgschaft allzeit getreuer und begeisterter Vertreter und Agitatoren des militaristischen Geistes in alle Zweige der staatlichen und kommunalen Verwaltung zu entsenden. Damit soll gleichzeitig die Zuverlässigkeit und Schlagfertigkeit [21] des dem Kapitalismus dienenden bürokratischen Apparats gesichert und die „richtige“, „staatserhaltende“ Gesinnung in die besonders „erziehungsbedürftigen“ breiten Massen des Volkes hinausgetragen werden, Dieser „erziehliche“ Zweck des Zivilversorgungsscheines ist bei den im Februar 1891 gepflogenen Verhandlungen des Deutschen Reichstags über die Unteroffiziersprämie vom Reichskanzler Caprivi wie von den Vertretern der herrschenden Klassen in schöner Einmütigkeit und Offenheit gestanden worden. So ist das staatserhaltende Ideal unsrer Volkserziehung, nachdem der Korporal vom Katheder hat herabsteigen müssen, glücklich auf Umwegen wieder auf den Unteroffizier gekommen.
Die Erziehungsresultate sind allerdings recht mäßige. Man bezahlt die armen Teufel von Militäranwärtern in Unterbeamtenstellen auch gar zu schlecht. Und pour le roi de Prusse ist schließlich auf die Dauer selbst ein deutscher Unteroffizier nicht pour le roi de Prusse zu haben. [22] Das ewige Problem des Auskaufs der Revolutionen!
Auch in diesem Zusammenhang ist weiter zu erwähnen, daß dieselben Mittel, mit denen die militärische Begeisterung der Soldaten selbst erzeugt und wachgehalten wird, zum Beispiel all der Flitter und Klimbim, gleichzeitig die außermilitärische Bevölkerung und damit die Kreise, aus denen sich die Armee rekrutiert, die ihr die Folie abgeben, ihre Kosten zu tragen haben und sich in „Gefahr“ befinden, dem inneren Feinde zu verfallen, zugunsten des Militarismus beeinflussen. Gelehrig hat das der englische Kriegsminister Haldane bei seinem preußischen Besuch vom Herbst 1906 herausgefunden. Er äußerte sich dahin: Eine wertvolle Begleiterscheinung des Militarismus sei auch die, daß durch die nähere Berührung mit der Armee und mit den Kriegsvorbereitungen das Volk zur Besonnenheit und Pflichttreue erzogen werde.“ [23]
Ein ganz andersgeartetes Mittel zur Verbreitung seines Geistes besitzt der Militarismus noch in seiner Eigenschaft als Konsument und als Produzent sowie in der Beeinflussung großer staatlicher Wirtschaftsbetriebe von strategischer Bedeutung. Von der Armee lebt eine ganze Armee von Fabrikanten, Handwerkern und Kaufleuten mit ihren Angestellten, die an der Erzeugung und dem Transport der für ihre Ausrüstung, ihre Unterkunft und ihren Unterhalt notwendigen Gegenstände und aller sonstigen Verbrauchsartikel für die Soldaten beteiligt sind. Diese Kostgänger der Armee drücken besonders in kleineren Garnisonsstädten dem öffentlichen Leben zuweilen geradezu den Stempel auf; ja, die mächtigsten von ihnen herrschen wie Fürsten über große Gemeinwesen und spielen im Staate, im Reiche mit die erste Geige. Sie verdanken ihren Einfluß dem Militarismus, der sich von ihnen in erstaunlicher Geduld ausbeuten und übers Ohr hauen läßt, und zahlen ihm den Dank dafür heim – eine Hand wäscht die andre -,indem sie seine eifrigsten Agitatoren werden, wozu sie freilich schon durch ihr kapitalistisches Interesse angespornt werden. Wer kennt die Namen nicht: Krupp, Stumm, Ehrhardt, Loewe, Woermann, Tippelskirch, Nobel, den Pulverring usw.? Wer kennt nicht den Panzerplattenwucher Krupps, die Tippelkirchs-Profite mit den dazugehörigen Bestechungs-(Schmier-)Geldern, die gepfefferten Woermann-Frachten und Oberliegegelder, die 100- und 150prozentigen Reingewinne des Pulverrings, der den deutschen Reichssäckel um manche Million erleichterte. [24] in Österreich haben besonders die Schwindeleien der Proviantlieferanten viel Aufsehen erregt. [25] Und jeder Feldzug bedeutet für das Schmarotzerpack – nicht nur in Rußland [26] – eine goldene Schwindelernte. Diese großen Herren lohnen’s, wie gesagt, dem Militarismus aufs christlichste, daß er sich oder vielmehr das Volk von ihnen bestehlen läßt. Sie gießen den heiligen Geist des Militarismus über „ihre“ Arbeiter und alles, was von ihnen abhängt, und führen einen rücksichtslosen Krieg gegen den Umsturz. Natürlich haben weder diese Arbeiter noch die große Masse der kleinen Armeelieferanten ein wirkliches materielles Interesse an der Armee. In den Ländern ohne stehendes Heer sind der Wohlstand, die Blüte von Handel und Industrie gewiß nicht geringer als in den Staaten mit stehendem Heer, und jene in der militärischen Produktion beschäftigten Personen würden wirtschaftlich sicher nicht schlechter stehen, wenn keine Armee existierte. Indessen, sie sehen zumeist über ihre Nase nicht hinaus und beugen sich nur allzu willfährig dem energischen militaristischen Einfluß, so daß eine Gegenagitation auf große Schwierigkeiten stößt.
Als Arbeitgeber in großen Wirtschaftsbetrieben (Proviantämtern, Konservenfabriken, Bekleidungsämtern, Remontedepots, Waffen- und Munitionsfabriken, Werften usw.) liefert der Militarismus nicht nur seine Angestellten (am 51. Oktober 1904 in den Regiebetrieben der deutschen Armee- und Marineverwaltung insgesamt 54.723 Personen [27]) bereitwilligst und ausschließlich jeder reaktionärpatriotischen Demagogie, zum Beispiel dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, aus, er sucht sie auch selbst in der rücksichtslosesten Weise durch die Lockspeise von Titeln, Ehrenzeichen, kriegervereinsartigen Festveranstaltungen und unmöglichen Pensionen, durch Verfehmung selbst der Gewerkschafteu und wahre Kasernendisziplin [28] mit patriotisch-militaristischem Geiste planmäßig zu durchsetzen. Die Militärwerkstätten bilden, selbst vor allen übrigen Staatswerkstätten, das schwierigste Feld für die Aufklärung des Proletariats.
Natürlich hat der arbeiterfeindliche Einfluß eine Grenze; und die Heeresverwaltung gibt sich angesichts der sozialdemokratischen Erfolge besonders unter den „kaiserlichen“ Werftarbeitern schwerlich mehr irgendwelchen Illusionen hin. Alle Drohungen, auch jene höchst kindische, die Militärwerkstätten bei Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen unter den Arbeitern zu schließen, womit man zum Beispiel bei der Wahl von 1905 in Spandau operierte, vermögen den Fortschritt des Klassenbewußtseins nicht zu hindern, solange der Militarismus seine Arbeiter als Proletarier knauserig bezahlt und damit der Sozialdemokratie verschreibt. Man braucht nur an die häufigen Lobnbewegungen der „königlichen“ Fabriker zu erinnern, an die zahlreichen Konflikte, die sie mit der Militärverw altung haben und die oft lebhafte Formen annehmen [29], uni den Pessimismus zu verlernen.
Eisenbahn, Post und Telegraphie sind Einrichtungen von ausschlaggebender strategischer Bedeutung, und zwar nicht minder für den Krieg gegen den inneren, wie für den gegen den äußeren Feind. Diese unentbehrlichen strategischen Faktoren können dem Militarismus durch Streik unbrauchbar gemacht werden, na zu einer völligen Lahmlegung des militärischen Organismus führen würde. Es ist daher erklärlich, daß der Militarismus nachdrücklich bestrebt ist, seinen Geist in den Beamten- und Arbeiterkörper dieser Verkehrsbetriebe und der damit zusammenhängenden Produktionsbetriebe (Eisenbahnwerkstätten, Waggonfabriken usw.) einzufüllen. Und wie skrupellos dieses Bestreben, auch abgesehen von dem Militäranwärterwesen, verfolgt wird, zeigt die in mehreren Staaten vollzogene Unterwerfung jener Angwtellten unter die Militärgesetze und ein flüchtiger Blick auf die politische Lage dieser Angestellten in den militaristischen. Staaten, wo ihnen ihr Koalitionsrecht im Verwaltungswege (so in Deutschland und Frankreich [30]) oder durch besondere Gesetze (zum Beispiel Italien, Holland, auch Rußland [31]) entzogen ist. Natürlich soll hierbei nicht verkannt werden, daß der kapitalistische Staat auch, abgesehen von diesen militaristischen Interessen, ein ganz allgemeines Interesse daran hat zu verhindern, daß die Angestellten jener Verkehrsorganisationen „staatsfeindlichen“ Bestrebungen verfallen. Auch dieses Bemühen bleibt auf die Dauer notwendig erfolglos, soviel Schwierigkeiten es der Arbeiterbewegung immerhin bereitet. Es scheitert an der schlechten Bezahlung, an der tatsächlichen proletarischen Lage der Verkehrsangestellten.
Der Militarismus tritt danach auf: erstens als Armee selbst, sodann als ein über die Armee hinausgehendes System der Umklammerung der ganzen Gesellschaft durch ein Netz militaristischer und halbmilitaristischer Einrichtungen (Kontrollwesen, Ehrengerichte, Schriftstellereiverbot, Reserveoffiziertum, Zivilversorgungsschein, Vermilitarisierung des ganzen Beamtenapparats, die in erster Linie dem Reserveoffizierunfug und dem Militäranwärterunwesen zu danken ist, Jugendwehren, Kriegervereine und dergleichen), ferner als ein System der Durchtränkung unsres ganzen öffentlichen und privaten Volkslebens mit militaristischem Geiste, wobei auch Kirche, Schule und eine gewisse feile Tendenzkunst, ferner die Presse, ein erbärmliches, käufliches Literatengesindel und der gesellschaftliche Nimbus, mit dem „unser herrliches Kriegsheer“ wie nur einer Gloriole geschäftig umgeben wird, zäh und raffiniert zusamnmenwirken: Der Militarismus ist neben der katholischen Kirche der höchste Machiavellismus der Weltgeschichte und der machiavellistischste unter allen Machiavellismen des Kapitalismus.
Geradezu einen Katechismus all jener militaristischen Erziehungskünste und ihrer Ergebnisse, deren sublimstes die wahrhaftige Heiligsprechung des Offiziersrocks durch die ganze bürgerliche Gesellschaft ist, bildet der mehrerwähnte Handstreich des Köpenicker Schusterhauptmanns. In dem sechsstündigen Examen, das dieser Zuchthäusler an einer Stichprobe über unsre Armee, unsern bürokratischen Apparat und die preußische Untertanenschaft abhielt, haben all diese Prüflinge so glänzend bestanden, daß selbst den Lehrmeistern ob dieser Quintessenz ihrer Pädagogik die Haare zu Berge stiegen. Kein Geßlerhut hat je so viel willfährige Unterwürfigkeit und Selbstdemütigung gefunden wie die Mütze des unsterblichen Hauptmanns von Köpenick, kein heiliger Rock von Trier je so viel gläubige Verehrung wie seine Uniform. Diese klassische Satire, deren riesige Wirksamkeit darin beruht, daß sie die eigenen Grundsätze der militaristischen Pädagogik zu Tode gehetzt hat, müßte den Militarismus unter dem Höllengelächter der Welt zu Tode hetzen, wenn, ja, wenn der Militarismus derselben bürgerlichen Gesellschaft, die sich ihm gegenüber jetzt einen Augenblick in der Rolle des Zauberlehrlings fühlt, nicht ebenso notwendig wäre wie das tägliche Brot oder die Luft zum Atmen. Der alte tragische Konflikt! Der Kapitalismus und sein mächtiger Hausmeier Militarismus lieben sich keineswegs, eher fürchten und hassen sie einander, und sie haben wahrlich manchen Grund dazu; sie betrachten sich gegenseitig – denn so verselbständigt hat sich dieser Hausmeier – nur als notwendiges Übel und haben dazu wiederum alle Ursache. Und so wird die Lehre von Köpenick, die von der bürgerlichen Gesellschaft nicht befolgt werden kann, nichts andres bleiben als ein schlagkräftiges Agitationsmittel des Antimilitarismus, der Sozialdemokratie [32], deren Weizen um so besser gedeiht, je mehr sich der Militarismus selbst auf die Spitze treibt.
Was der Hauptmann von Köpenick für den Militarismus auf dem Gebiet der praktischen Gaunerei war, das war Ende der achtziger Jahre der unbezahlbare Gustav Tuch für ihn auf dem Gebiet der theoretischen Ehrlichkeit. In seinem dickleibigen Schmöker „Der erweiterte deutsche Militärstaat in seiner sozialen Bedeutung“ entwarf er eine Zukunftsgesellschaft, deren alles beleuchtende, erwärmende, lenkende Zentralsonne, deren Herz und Seele der Militarismus ist, der einzig wahre „nationale und zivilisierte Sozialismus“, wo der ganze Staat in eine einzige Kaserne verwandelt, die Kaserne Volksschule, Hochschule und patriotische Gesinnungsfabrik, die Armee eine allumfassende Streikbrecherorganisation ist. Diese verzückte Halluzination vom tausendjährigen Reich des Militarismus war in der Tat nur methodischer Wahnsinn, aber eben daß sie methodischer Wahnsinn war, der die militaristischen Ziele und Mittel losgelöst von allen Hemmungsvorstellungen bis zum letzten Ende durchdachte, gibt ihr symptomatische Bedeutung. [33]
In. einem beherrschenden Punkte wenigstens ist der Militarismus, wie an späterer Stelle näher zu zeigen, übrigens schon heute tatsächlich die Zentralsonne, um die die Sonnensysteme der Klassengesetzgebung, des Bürokratismus, der Polizeiwirtschaft, der Klassenjustiz, des Klerikalismus aller Konfessionen kreisen. Er ist der letzte, bald geheime, bald offenbare Regulator aller Klassenpolitik, aller Klassenkampftaktik, nicht nur der kapitalistischen Klassen, sondern auch des Proletariats, und zwar in seiner gewerkschaftlichen Organisation nicht minder wie in seiner politischen Organisation.
1. Vgl. Caprivi im Reichstag mm 27. Februar 1891; desgleichen Kriegsminister von Kaltenborn-Stachau ebendort: „Die Anforderungen, welche an die Unteroffiziere gestellt werden müssen, sind infolge der neuen Bewaffnung, der neuen reglementarischen Ausbildung usw. größer geworden.“
2. Vgl. die Bemerkungen des bayerischen Generals von Sauer Ende Oktober 1898 in der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft zu München (bei Bebel, Nicht stehendes Heer sondern Volkswehr, Stuttgart 1898, S.77).
3. Vgl. dazu die bewegliche Klage Caprivis in der Reichstagssitzung vom 27. Februar 1891.
4. Diese „Schießautomaten“ (vgl. auch den Gefreiten Lück!) können aber höchst gefährlich werden, weil der Mechanismus natürlich auch einmal von einem Unbefugten in Bewegung gesetzt werden kann. Dann schreit das Bürgertum, dem dann nicht nur vor seiner kapitalistischen Gottähnlichkeit, sondern auch vor seiner feudalen Sippe bange wird, gleich dem gejagten Struwwelpeterjäger sein engstschwitzendes „zu Hilf ihr Leut“ und schwätzt von der „bis zur Kritiklosigkeit gesteigerten Disziplin des deutschen Heeres“, wie das Leipziger Tageblatt und dergleichen Gelichter im Köpenicker Fall, was natürlich nicht hindert, daß es in der Ratlosigkeit seiner Position jeden Augenblick bereit ist, dem Moloch dieses militaristischen Wahnsinns mit vollen Händen, mit „bis zur Kritiklosigkeit gesteigerter Disziplin“, zu opfern. Wieder ein tragischer Konflikt!
5. Die in gesundheitlicher Beziehung sehr bedenklich ist und zum Beispiel in Frankreich zu einer hochgradigen Verseuchung des Volks mit Tuberkulose und Syphilis führt. Das französische Heer hat fünf- bis siebenmal soviel Fälle als das deutsche zu verzeichnen. In einigen Jahrzehnten, so ruft ein französischer Mahner aus, wird Frankreich dezimiert sein, wenn die Kasernierung nicht beseitigt wird.
6. Vgl. Schippel, Sozialdemokratisches Reichstags-Handbuch. Ein Führer durch die Zeit- und Streitfragen der Reichsgesetzgebung, Berlin 1902, S.929.
7. Siehe die bestimmungsgemäße Hilflosigkeit der Polizei gegenüber exzedierenden Militärs, besonders Offizieren. Man denke weiter an das Vorrecht, in geschlossenen Zügen, oft von unendlicher Länge, durch die Städte zu ziehen und so den Straßenverkehr fortgesetzt und ohne Sinn und Verstand aufs empfindlichste zu stören: aus Gründen natürlich der militärischen Ästhetik! Das höchste Maß gemeingefährlicher und lächerlicher Aufgeblasenheit des so gepäppelten Kollers zeigte sich vor mehreren Jahren, als in Berlin ein Löschzug der Feuerwehr bei Gefahr im Verzuge von einer ihm durch den Weg marschierenden militärischen Kolonne, die sich ihre schöne und majestätische Ordnung nicht stören lassen wollte, einfach aufgehalten wurde. Das wurde freilich später gemißbilligt.
8. Vgl. den Aufsatz Der amerikanische Neger als Soldat, in Nr.638 des Berliner Lokal-Anzeigers, 1906.
9. Freilich sonderbare Heilige! Man gedenke des Bilse-Prozesses vom November 1903 und der vielen „kleinen Garnisonen“ à la Forbach, der Jeu- und Sekterlasse, der Offiziersduellwirtschaft – jener fine fleur der Offiziersehre – der Brüsewitz-Stechereien (Oktober 1896) und Hüssener-Schießereien (Prinz Arenberg und die Arenberge, Berlin 1904, S.13ff.), der Harmlosen- und Ruhstrataffären, der Photographieromane Bilses und Beyerleins, Schlichts (Graf Baudissin) „Erstklassige Menschen“, Jesko von Puttkamer und last not least des auch hierhergehörigen Prinz-Arenberg-Skandals. Die französische „kleine Garnison“ Verdun wirbelte im Herbst 1906 viel Staub auf. Natürlich gilt all das den Anbetern der Uniform meist nur als „liebenswürdige, pikante Schwäche“ der Angebeteten, die aber sehr streng auf christliches Bekenntnis hält. Natürlich auch hier internationale Solidarität der Edelsten und Besten! Interessant ist die Anfang 1903 erfolgte Enthüllung über die gegenseitigen Stockprügeleien der Offizuere in den englischen Gardegrenadierregimentern (La Jeunesse Socialist, März 1903).
10. Unteroffizier – „Stellvertreter Gottes auf Erden!“
11. Die Statistik der Soldatenselbstmorde liefert hier den erschütterndsten Beleg. Auch das ist international. In Deutschland kam 1901 nach amtlicher „Statistik“ 1 Selbstmord auf 3.700 Mann; in Österreich auf etwa 920 Mann. Bei dem X. österreichischen Armeekorps verübten 1901 80 Soldaten und 12 Offiziere Selbstmord, 127 weitere verfielen in Geisteskrankheit und schieden infolge von Selbstverstümmelung und Mißhandlungen als invalide aus. Ferner desertierte, im gleichen Zeitraume ebenda 400 Mann, 725 wurden zu schwerem Kerker oder strengem Arrest verurteilt! Hier spielt freilich der Nationalitätenkampf sehr gravierend hinein.
12. In Deutschland – nachdem sie in Sachsen und Württemberg schon vorher bestand und in der „einmaligen Zulage“ auch im Reich einen Vorläufer gehabt hatte – 1891 eingeführt (Höchstbetrag 1000 Mark); sie findet sich auch anderweit und in Frankreich z.B. – freilich wenig erfolgreich – mit viel höheren Beträgen (bis 4000 Franc). Auch die Unteroffizierschulen gehören hierher, siehe die Rede Vogel von Falckensteins im Reichstag vom 2. März 1891.
13. Die Reichstagsrede Caprivis vom 27. Februar 1891 ist das klassische Bekenntnis einer schönen kapitalistisch-militaristischen Seele in ihren Ängsten und Nöten, in ihren Hoffnungen und Zielen, in den Methoden zur Verfolgung ihrer Zwecke; sie öffnet weitauf ein Fenster, das uns einen tiefen Blick in das Allergeheimste dieser Seele vergönnt. Sie beginnt mit der Feststellung, daß „nur unter der Voraussetzung auf die Wiedereinbringung des Sozialistengesetzes verzichtet sei, daß alle Maßregeln ergriffen würden, um der Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen wegzuziehen oder den Kampf mit ihr aufzunehmen“; eine dieser Maßregeln (also ein Surrogat des Sozialistengesetzes) seien die Unteroffiziersprämien in Verbindung mit dem Zivilversorgungsschein. Caprivi fuhr fort: „Die Ansprüche an die Unteroffiziere steigern sich, das liegt in der zunehmenden Bildung der Nation. Der Vorgesetzte kann seine Stellung nur dann ausfüllen, wenn er sich seinen Untergebenen gegenüber überlegen fühlt ...
Wenn die Disziplin schon an sich erschwert ist, so wird sie noch schwerer, wenn wir den Kampf mit der Sozialdemokratie aufnehmen müssen; ich meine hier mit dem Kampf nicht das Schießen und Stechen. Meine Erinnerungen reichen bis in das Jahr 1848 zurück. Die Verhältnisse waren damals sehr viel besser, denn die Ideen waren damals nicht durch langjährige Schulung entstanden, sie traten plötzlich hervor, und die alten Unteroffiziere hatten den Mannschaften gegenüber deshalb eine sehr viel leichtere Stellung als jetzt der Sozialdemokratie gegenüber. („Sehr richtig!“ rechts.) Und wenn ich den äußersten Fall berühre, für den Straßenkampf mit der Sozialdemokratie brauchen wir weit bessere Unteroffiziere als vor dem Feinde. Vor dem Feinde lassen sich die Truppen durch Patriotismus und durch andre erhebende Gefühle begeistern und zur Opferfähigkeit bringen. Der Straßenkampf und was damit zusammenhängt ist kein Faktor, der geeignet wäre, das Selbstgefühl der Truppen zu erhöhen; sie fühlen immer, daß sie Landsleuten gegenüberstehen ... Die Unteroffiziere können ihre Überlegenheit nur dann bewahren, wenn wir sie höher zu stellen suchen. Die verbündeten Regierungen wollen das Niveau des Unteroffizierstandes erhöhen.“ Es sei nötig, in den Unteroffizieren eine „Menschenklasse“ zu schaffen, die mit ihrem ganzen Dasein an den Staat gebunden“ ist.
Das ist gleichzeitig eine feine Psychologie der Elitetruppen.
14. Arrest mit Entziehung von Nahrung, Lager und Licht, Nachexerzieren und dergleichen; im Felde auch das barbarische „Anbinden“. Das österreichische Krummschließen“ und „Anbinden“, die belgischen Cachots und die internationale marinistische „neunschwänzige Katze“ und dergleichen sind bekannt. Weniger dürften in der Erinnerung sein die entsetzlichen Foltermittel, die in den französischen Disziplinarabteilungen auch gegen „Politische“ angewandt werden: die Poucettes, die Menottes und die Crapaudine (vgl. die von der Fédhration socialiste autonome du Cher 1902 veröffentlichte Broschüre Les Bagnes Militaires – Kammerrede von Breton – mit Abbildungen; Georges Darien Biribi [d.i. die Sammelbezeichnung für sämtliche militärische Disziplinareinrichtungen in Nordafrika], Dubois-Desaulle, Sons la Casaque, Paris 1899). Über die compagnies de discipline, die pénitenciers und die travaux forcés (Strafabteilungen, Zuchthäuser, Zwangsarbeit) in der französischen Fremdenlegion und ihre Opfer vgl. Däumig, Schlachtopfer des Militarismus. Gerade eben wird energisch an die Unterdrückung des „Biribi“ gegangen (Kammerverhandlungen vom 8. und 10. Dezember 1906). Die disziplinaren Stockprügel, mit denen sich die Offiziere englischer Gardegrenadierregimenter gegenseitig in löblich-demokratischem Eifer zu traktieren pflegen (La Jeunesse Socialiste, März 1905), verdienen als Kuriosum auch hier Erwähnung.
15. Das Ergebnis all dieser Erziehungsmittel in militärischer Beziehung ist anderweit erörtert. Hier sei noch auf das sittliche Ergebnis hingewiesen, das die bürgerlichen sowie die ganz- und halbanarchistischen Gegner der Armee zu besonders leidenschaftlichem und breit vorgetragenem Pathos der Entrüstung hinreißt. „Die Armee ist die Schule des Verbrechens“ (Anatole France); „Suff, Unzucht und Heuchelei, das ist es, was das Kasernenleben lehrt“ (Professor Richet). Nach dem Manuel du soldat ist die Dienstzeit „eine Lehre der Roheit und Gemeinheit“; „eine Schule der Ausschweifungen“; sie führt zu „moralischer Feigheit, Unterwürfigkeit und Sklavenängstlichkeit“. Gewisse militärische Feste kann man sich ohne den, natürlich staatserhaltenden, patriotischen Suff in der Tat beinahe nicht vorstellen. Von den „Sauf- und Rauffesten“ der Kriegervereine (Worte des Pfarrers César) Leipziger Volkszeitung vom 1. Dezember 1906. – Auch da. gesundheitliche Resultat ist nichts weniger als erfreulich; über die französische Armee: Fußnote 5. Der sanitäre Zustand der stehenden Heere Englands und Amerikas, dieser demokratischen Länder, setzt geradezu in Schrecken: Der Promillesatz der Todesfälle ist hier weit größer als in Deutschland, 1906/1907: 7, 15 und 6, 18; nach dem 1906er Bericht des General-Armeearztes H.M. O’Reilly passieren Dysenterie und Alkoholismus in der amerikanischen Armee schlimmer als irgendwo in der Welt.
16. Zum Kampf gegen den inneren Feind ist hier natürlich auch gerechnet die Bekämpfung des dem „Militarismus nach außen“ abholden Geistes der internationalen proletarischen Solidarität.
17. Vgl. Die Sozialdemokratie im Heere, Reform dem deutschen Heeresdienstes zur Abwehr des Sozialismus. Von einem Offizier, Verlag Costenoble, Jena 1901; ferner das Material in Bebel, Nicht stehendes Heer sondern Volkswehr, S.46ff. und Handbuch für sozialdemokratische Wähler. Der Reichstag 1848-1903, Berlin 1903, S.23ff.
18. Vgl. hierzu den bekannten Fall Gädke, wo das Preußische Kammergericht die unerhörten Aspirationen des Militarismus rechtskräftig gebilligt hat.
19. Auch zahlreiche Angehörige des Arztestandes; über die Folgen vgl. z.B. die Notiz im Vorwärts vom 17. Januar 1894. Nicht nur die Militärärzte der Reserve selbst unterliegen dem militärischen Druck, sie pflanzen in den und durch die ärztlichen Standesorganisationen diesen Druck auch auf die Nicht-Militärärzte fort.
20. Das kühne Abenteuer des Köpenicker „Hauptmanns“ Voigt, dieses genialen Schusters und Zuchtshäuslers, ist auch von liberaler Seite gerade in dieser Beziehung als ein Menetekel bezeichnet worden.
21. Im übertragenen, aber auch im buchstäblichen Sinne des Wortes! Vgl. Kapitel 1-4.4 Vorbemerkung.
22. In Deutschland besteht eine Art Gewerkschaft dieser Beamte; der Bund deutscher Militäranwärter.
23. Vgl. Lokal-Anzeiger, Nr.496 von 1906.
24. Vgl. G. Feuchter, Der Deutsche Pulver-Ring und das Militär-Pulvergeschäft, Göppingen 1896, S.25 u. 50.
25. Die Einzelheiten in Lustig ist’s Soldatenleben, Wien 1896, S.51.
26. Wo die letzten Nachzügler aus dem Schwarm der Beutegeier des ostasiatischen Krieges, die Gurko-Lidvall, um die Wende des Jahres 1906 viel Aufsehen erregten.
27. Marineverwaltung; 18.939; preußische Heeresverwaltung ausschließlich Feldzeugmeisterei: 11.199; preußische Feldzeugmeisterei: 16.825; bayerische Heeresverwaltung: 4.632; sächsische: 2.754; württembergische: 374 (vgl. Drucksachen des Reichstages 1905/1906, Nr.144).
28. In dem Posener Waffendiebstahlsprozeß vom Winter 1906 versicherte der angeklagte Spandauer „Fabriker“ immer wieder, er hätte dem diebischen Oberleutnant Poppe doch gehorchen müssen, der „als Offizier“ an und für sich „gewissermaßen sein Vorgesetzter“ gewesen sei; so seien sie instruiert. Poppe wer nicht etwa in dem Betrieb, dem diese Angeklagten angehörten, beschäftigt. Sein echter Offiziersrock erleichterte ihm überhaupt bei der Zivilbevölkerung seine Manipulationen ebenso wie dem Köpenicker Hauptmann sein falscher.
29. Die Kämpfe in den Spandauer Werkstätten, die auch im Reichstag alljährlich eine Rolle spielen, sind bekannt; über das Korpsbekleidungsamt Berlim siehe Fachzeitung der Schneider vom 25. August 1906. Einiges von den französischen Marinearsenalen Brest, Lorient, Cherbourg, Rochefort und Toulon vgl. Les Temps Nouveaux vom 11. November 1905. Gerade gegenwärtig (Dezember 1906) ist eine lebhafte Bewegung unter den Arsenalarbeitern von Toulon im Gange, deren Ende noch nicht abzusehen ist.
30. Die französische Regierung hat diese Maßregel ausdrücklich mit dem Hinweis auf die antimilitaristische Propaganda tu rechtfertigen gesucht. Vgl. Les Temps Nouveaux vom 11. November 1905.
31. Gesetz vom 2. Dezember 1905 (betreffend die Unterdrückung von Ausständigen in Berufen von öffentlicher Bedeutung in Rußland. – Die Red.), vgl. dazu Leipziger Volkszeitung vom 14. Dezember 1906.
32. Köstlich windet sich in dieser peinlichen Zwickmühle die Kreuz-Zeitung. Sie sucht in ihrer grenzenlosen Verlegenheit den Spieß umzukehren und der Sozialdemokratie tödliche Verlegenheit aufzuschwindeln. Der Köpenicker Streich habe ihre Pläne für den Fall einer Revolution vorzeitig vor aller Welt enthüllt und damit vereitelt. Besonders toll ist an diesem drolligen Angstgeschwätz die Vorspiegelung, als könnten derartige Pläne jemals in der kapitalistischen Ordnung vereitelt werden und als würden die Ritter der Kreuz-Zeitung auch nur einen Finger zu einem hoffnungslosen Versuch der Art rühren. „Gott sei Dank, wir können uns auf unser Militär noch verlassen!“ das war schließlich doch der aufrichtigste Stoßseufzer, den der Handstreich von Köpenick aus dem Herzen unsrer Bourgeoisphilister lockte.
33. Vgl. K. Kautsky in Die Neue Zeit, V. Jahrgang (1887), S.551.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003