Aufruf der Sozialdemokratie des Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland Karl Liebknecht zu wählen

(Januar 1912)


Die Fussnoten und Wiedergabe folgen der Ausgabe vom Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, IV, 1898-1914, Dietz 1967, S. 395ff.
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Auf zum Entscheidungskampf!

Unser Mühen war nicht umsonst. Einen gewaltigen Sieg hat die deutsche Sozialdemokratie am 12. Januar in ganz Deutschland errungen. Eine Million Stimmen hat sie gegen 1907 zugenommen. 4 ¼ Millionen tapferer Wähler bilden ihre Riesengefolgschaft, die größte Partei, die die Welt je gesehen hat. 64 Mandate sind ihr auf den ersten Streich zugefallen. An nicht weniger als 122 Stichwahlen ist sie beteiligt. Das von der Sozialdemokratie und auch dem Liberalismus sehnsüchtig erstrebte Ziel, die Verdrängung des schwarzblauen Blocks dieser Volksverräter, nicht Volksvertreter, kann erreicht werden, wenn die Front allenthalben klar nach rechts gerichtet bleibt, wenn die Stichwahlen vollenden, was die Hauptwahlen so glänzend begonnen haben.[1*]

In unserem Kreise, in Potsdam-Spandau-Osthavelland, ist am 12. Januar die Hoffnung auf den Sieg der Volkssache zur Gewissheit des Sieges der Sozialdemokratie geworden. Vernichtend ist die Niederlage der Konservativen und ihres Kandidaten Vosberg: Auf ihn sind nur 12 055 Stimmen entfallen, gegen 13 566 im Jahre 1907; über 1500 Wähler haben ihm voll Empörung über das Treiben der Schwarzblauen den Rücken gekehrt.

Die Stimmen des liberalen Kandidaten stiegen gegen 1907 von 8193 auf 11 056, d. h. um fast 2900. Und glänzend hat die Sozialdemokratie abgeschnitten - trotz aller Nücken und Tücken, trotz aller Hetze und aller Drohungen: Sie wuchs gegen 1907 von 17 158 auf nicht weniger als 21 500, d. h. um nahezu 4450 Stimmen.

Während Liebknecht 1907 vor Pauli nur einen Vorsprung von knapp 3600 Stimmen hatte, ist am 12. Januar der Vorsprung Liebknechts vor Vosberg auf fast 9500 Stimmen gesteigert.

Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn Vosberg diesen Vorsprung in der Stichwahl einholen sollte. Die liberalen Wähler müssten von allen guten Geistern verlassen sein, sie müssten mit Mann und Maus und Sack und Pack zu dem schwarzblauen Block, zu den Konservativen übergehen; sie müssten anbeten, was sie gestern noch verbrannt haben; sie müssten ihren bisherigen Wahlkampf von Grund aus verleugnen und alles, was sie darin geredet, geschrieben und versprochen haben, in den Wind schlagen; sie müssten die Fülle der niedrigen Angriffe und Schmähungen vergessen haben, mit denen gerade sie von konservativer Seite in diesem Wahlkampf überschüttet worden sind. All das ist schlechterdings unmöglich.

Aber wie ihm auch sei: Es gilt, alle Kraft anzuspannen - und mit Zähnen und Nägeln zu kämpfen, auf dass der Stichwahltag den endgültigen Triumph der Sozialdemokratie bringe.

Wir müssen damit rechnen, dass unsere Gegner, die Volksauswucherer und Unterdrücker, alles versuchen, die verhasste Sozialdemokratie um die Frucht ihrer Arbeit zu betrügen; dass sie ihren oft erprobten Terrorismus gewissenloser und brutaler noch als zuvor gegen die abhängigen Wähler, gegen Beamte und Staatsarbeiter zu üben versuchen werden. Die Hauptwahlen gaben einen Vorgeschmack. Der Diensteid war ihnen gerade gut genug, um zu versuchen, ungesetzlich und verfassungswidrig die beamteten Wähler bei Ausübung ihres freien, geheimen Wahlrechts zu knebeln. Seit je missachten ja diese „Christen“ ganz gotteslästerlich jenes Gebot: Du sollst den Namen Gottes, Deines Herrn, nicht unnützlich führen! Der Diensteid ist nur eben Diensteid! Und wenn er den Beamten das freie Wahlrecht nähme, so hätte es ihnen gar nicht verliehen werden sollen.

Und unmittelbar vor dem Wahltag warfen sie jene skandalösen Flugblätter heraus, von denen wir nur nach dem Königswort sagen konnten: Niedriger hängen!

Ihr Wähler, die ihr bedrückt seid durch den Steuerraubzug der Reichsfinanzreform, lasst euch nicht irremachen, wenn euch euer Wohl, das Wohl eurer Familie, eurer Berufsgenossen und des ganzen deutschen Volkes am Herzen liegt. Man droht für den Fall der Wahl Liebknechts mit der Entlassung von zwei Drittel der königlichen Arbeiter! Diese Drohung ist ebenso niederträchtig wie unsinnig. Würde sie wahr gemacht, so würde sich die Regierung vor aller Welt selbst dermaßen brandmarken, dass sie sich nicht mehr ans Tageslicht wagen könnte. Diese Drohung ist aber auch unsinnig, weil sie gar nicht ausgeführt werden kann. Keine Regierung kann aber Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen, Familienväter und Mütter auf die Straße werfen, nur um der Rache der Schwarzblauen zu fröhnen, keine Regierung kann die riesigen Werte, die in den Staatswerkstätten stecken, brach und nutzlos liegenlassen, nur um ihr Mütchen zu kühlen ob einer Wahlniederlage. Die Regierung ist für ihr Tun und Lassen dem Reichstag und dem deutschen Volke verantwortlich; niemals würde die Regierung bei solcher Verschleuderung von Staatsvermögen und solcher brutaler Missachtung aller Menschlichkeit vor Reichstag und Volk bestehen können; niemals wird und kann sie einen solchen Streich wagen, wie es die Entlassung von königlichen Arbeitern im Fall der Wahl Liebknechts wäre.

Ihr Staatsarbeiter und Beamte! In Kiel, Wilhelmshaven und anderwärts, wo kaiserliche Werften oder Staats Werkstätten sind, wurde vor Jahren versucht, die Staatsarbeiterschaft und Beamte mit ähnlichen Mitteln ins Bockshorn zu jagen. Aber die Arbeiterschaft und Beamten haben sich nicht in den April schicken lassen. Sie haben sozialdemokratisch gewählt. Sozialdemokraten vertreten diese Städte seit langem im Reichstag, und statt Arbeiterentlassungen sind gewaltige Betriebserweiterungen eingetreten. Das war das Ende vom Liede.

Hat man euch nicht bei der letzten Wahl mit gleichen Drohungen gedient? Und was geschah, als der Konservative, als Pauli gewählt wurde?

Gerade dann kamen ja jene schrecklichen Arbeiterentlassungen, an die viele von euch noch mit Grauen denken!

Arbeiterentlassungen, obwohl Pauli gewählt war. Und ist es sonst eben auf den Staatsbetrieben seitdem besser geworden? Die Löhne und Gehälter, vor allem der Arbeiter, der Vorarbeiter, sind unzureichend wie zuvor. Die böse Teuerung peinigt euch genauso wie die übrige Masse des Volkes. Das blasse Elend und die schwere Not pochen bei euch genauso an und werfen ihre düstern Schatten genauso über eure Wohnung, eure Familie, euer Leben. Die bittere Kälte dieser Wochen schneidet euch bei diesen teuren Kohlenpreisen genauso ins Gebein wie die übrige Masse des Volkes!

Lasst euch, ihr Wähler, nicht abschrecken, am Wahltage gerechte Sühne zu fordern für all die unsägliche Unbill, mit der euch der letzte Reichstag belastet hat; für all den Druck und die Not, unter der ihr alle, Arbeiter, Beamte, Mittelstand, leidet, durch die Schuld derselben Parteien, die uns Sozialdemokraten mit Feuer und Schwert austilgen möchten - und warum? Nur, weil wir Sozialdemokraten den Schutz der wirtschaftlich Schwachen, die Förderung der politisch Rechtlosen seit mehr als einem Menschenalter auf unsere Fahne geschrieben haben und seit mehr als einem Menschenalter für diesen Schutz, diese Förderung in stürmischem Siegeszug voranmarschierend kämpfen.

Wenn man auch die Sozialdemokratie als euren Feind hinstellt, so lacht darüber! Erst bei der Besoldungsreform hat sich im Reichstag und Landtag die Sozialdemokratie mit aller Wucht ins Zeug gelegt für die Besserstellung der schlecht gestellten Beamtenschaften; unsere Bemühungen sind gescheitert an der beamtenfeindlichen Haltung unserer Feinde, vor allem der Konservativen. Die Sozialdemokratie hat seit langem eine vernünftige Regelung des Beamtenrechts gefordert und angestrebt. Sie war stets der beredte Fürsprecher all der nur zu berechtigten Klagen der Staatsarbeiter.

Und wir Sozialdemokraten sollen eure Feinde sein, die Feinde der Staatsarbeiter, der kleinen Beamten, des Mittelstandes!

Ihr Wähler! Vergesst nicht die Reichsfinanzreform! Vergesst nicht die schwere Teuerung! Vergesst nicht die Sünden des schwarzblauen Blocks!

Es gilt, Vergeltung zu üben für die Wunden, die dem Volk vom letzten Reichstag geschlagen worden sind. Es gilt, Vorsorge zu treffen, um das Volk vor ähnlichen Misshandlungen künftig zu bewahren; es gilt, einen Reichstag des Volkes zu schaffen.

Nicht eine Minute die Hände in den Schoß gelegt! Nicht gezaudert! Wer siegen will, muss schlagen! Noch einmal zum Sturmangriff! Schon sind breite Breschen in die Feste des Feindes gelegt; schon sinken die Fahnen des Feindes!

Alle Sehnen angespannt! Keiner darf fehlen! Wem das deutsche Vaterland und das deutsche Volk lieb ist, der stehe zu uns.

Wem es ernst ist mit seinem Christentum, der stehe zu uns.

Wähler, auf! Marsch, marsch auf den Feind! Drauf und dran!

Wählt Dr. Karl Liebknecht![2*]

 

Anmerkungen der Herausgeber

[1*]Die Mandate der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erhöhten sich bei den Reichstagswahlen 1912 auf 110 gegenüber 43 im Jahre 1907. Damit stellte sie die stärkste Fraktion des Reichstages.

[2*]In der Stichwahl am 25. Januar 1912 siegte Karl Liebknecht mit 24 299 Stimmen über den konservativen Kandidaten Kurt Vosberg und vertrat von nun an als erster Sozialdemokrat den Wahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.11.2007