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Die Frage der Kompromisse hat in der einen oder anderen Form unsere Partei schon seit deren Eintritt in die politische Aktion beschäftigt. Für eine umfassende geschichtliche Darlegung habe ich indes jetzt keine Zeit und ist hier nicht der Ort. Der gegenwärtige Parteirechtszustand in bezug auf die Kompromißfrage drückt sich aus in den Beschlüssen der Parteitage von Köln, Hamburg und Stuttgart. Der Beschluß des Kölner Parteitags, gefaßt am 28. Oktober 1893, lautete:
„In Erwägung, daß das Dreiklassenwahlsystem in Preußen, das nach dem eigenen Ausdruck Bismarcks das elendste aller Wahlsysteme ist, der Sozialdemokratie es unmöglich macht, sich mit Aussicht auf Erfolg an den Wahlen zum preußischen Landtag selbständig zu beteiligen; in fernerer Erwägung, daß es den bisher beobachteten Grundsätzen der Partei bei Wahlen widerspricht, sich in Kompromisse mit feindlichen Parteien einzulassen, weil diese notwendigerweise zur Demoralisation und zu Streit und Zwietracht in den eigenen Reihen führen mußte, erklärt der Parteitag: es ist Pflicht der Parteigenossen in Preußen, sich jeder Beteiligung an den Landtagswahlen zu enthalten.
Der Parteitag beschließt ferner: in Erwägung, daß die Wahlsysteme in den Einzelstaaten eine wahre Musterkarte reaktionärer Wahlgesetz bilden, daß insbesondere der plutokratische Charakter des Dreiklassenwahlsystems in Preußen es der Arbeiterklasse unmöglich macht, eigene Vertreter in den Landtag zu senden, fordert der Parteitag die Parteigenossen auf, in allen Einzelstaaten eine umfassende und energische Agitation für die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für die Landtage im Sinne unserer Programmforderung in Angriff zu nehmen.“ –
Drei Jahre später nahm der Parteitag von Hamburg – am 9. Oktober 1897 – folgende Resolution an:
„Der Beschluß des Kölner Parteitags, der den preußischen Parteigenossen die Beteiligung an den Landtagswahlen auf Grund des Dreiklassenwahlsystems untersagt, ist aufgehoben. Die Beteiligung an den nächsten preußischen Landtagswahlen ist überall geboten, wo die Verhältnisse den Parteigenossen eine solche ermöglichen. Inwieweit eine Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlkreisen möglich ist, entscheiden die Parteigenossen der einzelnen Wahlkreise nach Maßgabe der lokalen Verhältnisse.
Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien dürfen nicht abgeschlossen werden.“
Die Aufhebung des Kölner Beschlusses erfolgte mit 160 gegen 50 Stimmen; die Gesamtresolution wurde mit 145 Stimmen gegen 64 Stimmen, bei einer Stimmenthaltung, angenommen.
Um über die praktische Bedeutung des Hamburger Beschlusses Zweifel nicht aufkommen zu lassen, hatte nach den Abstimmungen über die einzelnen Teile der Resolution und nach der Gesamtabstimmung der Vorsitzende Singer, unter ausdrücklicher Zustimmung Bebels, des Antragstellers, ohne Widerspruch und mit im Protokoll verzeichneter Zustimmung erklärt:
„Ich konstatiere die Einmütigkeit des Parteitags darin, daß auf Grund des hier gefaßten Beschlusses eine Beteiligung nur durch Aufstellung sozialdemokratischer Wahlmänner geschehen kann.“ [9]
Daß Genossen von vornherein für liberale Wahlmänner stimmen sollten, war nach Bebels Bemerkung „absolut ausgeschlossen“ und gehörte unter die Kategorie der „Kompromisse und Bündnisse“ mit anderen Parteien.
Trotz des klaren Wortlauts und der ebenso klaren als autoritativen Auslegung des Beschlusses in bezug auf einen, verschiedenen Auffassungen Raum gebenden Punkt, war der Parteitag kaum auseinandergegangen, als Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck kamen. In scharfem Widerspruch mit den Tatsachen und mit dem Wortlaute des Protokolls wurde bestritten, daß das von vornherein erfolgende Eintreten unserer Partei für liberale Wahlmänner ein Kompromiß sei und sogar der Vorwurf erhoben, der Parteitag sei durch Singer „überrumpelt“ worden. –
Der vorjährige Parteitag trat in Stuttgart zusammen unmittelbar vor den preußischen Landtagswahlen. Bei dem Auseinandergehen der Meinungen war nicht an eine Erledigung der Angelegenheit zu denken, zumal die Tagesordnung des Parteitags ohnehin überladen war. So blieb nichts übrig, als die endgültige Regelung einem späteren Parteitag zu überlassen und einen Notbeschluß zu fassen. Am 5. Oktober 1898 nahm der Stuttgarter Parteitag nachstehende, von einer Kommission vereinbarte Resolution einstimmig an:
„Die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem kann nicht wie die an den Reichstagswahlen als eine Heerschau betrachtet werden, nicht als ein Mittel, durch die Zählung unserer Stimmen einen moralischen Erfolg zu erreichen, sondern nur als ein Mittel, bestimmte praktische Erfolge zu erzielen, namentlich die Abwendung der Gefahr, daß die krasseste Reaktion die Mehrheit im Landtag erlangte. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, erklärt der Parteitag, daß die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nicht in allen Wahlkreisen geboten ist, um so weniger, als bei der Kürze der Zeit, die uns von den preußischen Landtagswahlen trennt, nicht daran gedacht werden kann, die in dieser Frage jetzt weit auseinandergehenden Meinungen innerhalb der Partei einander so zu nähern, daß ein einheitliches Vorgehen der Partei möglich ist. Unter diesen Umständen überläßt es der Parteitag den Genossen der einzelnen Wahlkreise, über die Frage der Beteiligung zu entscheiden. Wird in einem Wahlkreis die Beteiligung beschlossen, so würden, falls es sich dabei um eine Unterstützung bürgerlicher Oppositionskandidaten handelt, die Kandidaten sich verpflichten müssen, für den Fall ihrer Wahl in den Landtag für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, wie solches für die Wahlen zum Reichstag besteht, auch für die Wahlen zum Landtag einzutreten und im Landtag alle Maßnahmen entschieden zu bekämpfen, die geeignet sind, die bestehenden Volksrechte im Einzelstaat weiter zu schmälern oder zu beseitigen. Die zu dem Punkte: Preußische Landtagswahlen gestellten Antrage sind durch die Annahme dieser Resolution erledigt.“ [10]
Dies der Stuttgarter Beschluß. Man sieht, er ist bloß provisorisch und läßt die Frage der Taktik genau auf dem Boden des Hamburger Beschlusses. Trotzdem haben Genossen einzelner Wahlkreise sich für berechtigt gehalten, diesem Beschluß zuwider mit anderen Parteien Abmachungen zu treffen, die entschieden Kompromisse im Sinne des Hamburger Beschlusses sind. Und die jüngsten Wahlvorkommnisse in Bayern – das von beteiligten Genossen selbst als „Kuhhandel“ bezeichnete Wahlbündnis mit dem Zentrum – hat gezeigt, daß, wenn einmal die Schneide des opportunistischen Keils in die Parteitaktik eingedrungen ist, das dicke Ende sich bald nachschiebt.
Für unsere Partei und für unsere Parteitaktik gibt es nur einen Rechtsboden: den Boden des Klassenkampfes, aus dem die Sozialdemokratische Partei hervorgewachsen ist und aus dem allein sie die nötige Kraft schöpfen kann, um jeden Sturm und all ihren Feinden trotzen zu können. Die Gründer unserer Partei, Marx, Engels, Lassalle, haben die Notwendigkeit des Klassencharakters unserer Bewegung den Arbeitern so unverlöschlich eingeprägt, daß bis in die neueste Zeit Abweichungen und Entgleisungen irgend erheblicher Art nicht vorgekommen sind. Der Kölner Beschluß wurde durch einen Vorschlag des in London lebenden und als Redakteur des Sozialdemokrat von den Genossen verehrten Eduard Bernstein hervorgerufen. [11]
Bis zum Jahr 1893 war in der Öffentlichkeit von der Möglichkeit oder Ratsamkeit einer Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen überhaupt nicht die Rede gewesen. Unterderhand war anfangs der achtziger Jahre von Frankfurter Demokraten ein Zusammengehen der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Demokraten zur Erlangung eines sozialistischen und eines demokratischen Landtagsmandats für Frankfurt gemacht, aber auch unterderhand, ohne in weitere Kreise gedrungen zu sein, abgelehnt worden. Ausschlaggebend war der Grund, daß der Klassencharakter der Partei durch ein derartiges Bündnis geschwächt würde und daß der Vorteil eines Mandats durch den Nachteil eines Landtagswahlbündnisses mit einer Partei, die wir bei der Reichstagswahl bekämpfen müssen, weit überwogen werde.
Die Wichtigkeit eines preußischen Landtagsmandats wurde von niemand verkannt. Als von größerer Wichtigkeit wurde es aber erkannt, daß die Mandate der Partei ausschließlich der Kraft der Partei zu verdanken sein müssen; nicht einem Bündnis mit Parteien, die augenblicklich ein gemeinsames Interesse mit uns haben können, allein ihrem bürgerlichen Wesen nach uns feindlich sind und dauernd feindlich sein werden.
Der Bernsteinsche Vorschlag, welcher auf Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen hinauslief, fand wenig Anklang und keine Verteidiger, so daß die von Bebel eingebrachte und begründete Resolution gegen die Beteiligung einstimmig angenommen wurde.
Daß die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nach einigen Jahren abermals auftauchen und sogar zu ziemlich lebhaften Debatten führen könnte, erscheint auf dem ersten Blick nicht recht verständlich, erklärt sich aber durch zwei Umstände. In bezug auf das preußische Dreiklassenwahlsystem hatten im Laufe der Zeiten die Ansichten mancher Genossen eine Veränderung erfahren. Einesteils war es hier und da dem Gedächtnis entschwunden, daß der konsequent und raffiniert verwirklichte Zweck des Dreiklassenwahlsystems die hermetische Ausschließung des demokratischen Denkens und Fühlens war und daß die kapitalistische Ära, welche ziemlich gleichzeitig mit Einführung des „elendesten aller Wahlsysteme“ begann, durch die Erzeugung eines klassenbewußten Proletariats das Votum der sozialistischen Massen noch bedeutungsloser gemacht hatte, als ursprünglich das Votum der demokratischen Massen gewesen war. Wie arg sich viele der Redner und Rednerinnen auf dem Hamburger Parteitag über das Wesen des Dreiklassensystems täuschten, erhellt unter Umständen daraus, daß mehrere sich in dem Wahn wiegten, die preußische Landtagswahlagitation könne zu einer großartigen Massenagitation benutzt werden. In dem Jubel über die Erfolge, welche mit anderen, auch nicht demokratischen Landtagswahlgesetzen, namentlich dem sächsischen, erzielt worden waren, hatten manche vergessen, daß das preußische Dreiklassensystem durch die obligatorische Öffentlichkeit der Stimmabgabe alle wirtschaftlich, sozial und politisch Abhängigen, das heißt die große Mehrheit der Bevölkerung, von vornherein von der Wahl tatsächlich ausgeschlossen und dadurch allein schon eine Massenbeteiligung und Massenagitation unmöglich gemacht hat.
Die optimistische Selbsttäuschung in bezug auf das preußische Dreiklassenwahlgesetz ging so weit, daß nicht wenige der Genossen sich allen Ernstes einbildeten, wir Sozialdemokraten seien imstande, aus eigener Kraft ohne Zusammengehen oder gar Paktieren mit anderen Parteien eine, wenn auch kleine Zahl von Mandaten zu erringen. In diesem Wahn wiegt heute sich niemand mehr. Heute weiß jeder, daß wir ohne Kompromiß oder Wahlbündnis kein einziges Mandat für den preußischen Landtag erringen können. Anders vor zwei Jahren, wo der Parteitag in seiner Mehrheit unter dem Bann optimistischer Selbsttäuschung sich für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen aussprach. Zum Glück erinnerte sich aber die oberste Parteivertretung und Parteiinstanz des Ursprungs und Wesens der Partei und suchte durch ein rückhaltloses Verbot alter Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien zu verhindern, daß die Selbsttäuschung Schritte veranlassen könnte, geeignet, die Partei zu schädigen und in falsche Bahnen zu leiten.
Man hat den Hamburger Beschluß widerspruchsvoll und unlogisch genannt. Richtig ist, wenn die Partei nach wie vor alle Kompromisse und Wahlbündnisse mit anderen Parteien verwirft, dann hatte es keinen Sinn, daß sie den Kölner Beschluß aufhob. Der Widerspruch, wie schon angedeutet, erklärt sich daraus, daß ein Teil der Partei über die Natur des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes sich täuschte oder getäuscht war.
Aus diesem Widerspruch aber zu folgern, wie es tatsächlich geschehen ist, daß es der Partei mit ihrem Wunsch der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen mehr ernst gewesen sei als mit ihrer Abneigung gegen Kompromisse und daß demgemäß, da ein Widerspruch vorbanden, der Widerspruch durch rückhaltloses Eintreten für die Wahlbeteiligung und durch Streichung des Verbots der Kompromisse und Wahlbündnisse aufzuheben sei, zeugt von ebensowenig Logik wie Achtung für die Prinzipien und die Geschichte der Partei.
Freilich, in gewissen Parteikreisen – und das bringt mich zu dem zweiten Moment, dem wir es verdanken, daß die Frage der Beteiligung an den Landtagswahlen zu einer ernsthaften Parteistreitfrage hat werden können –, in gewissen Kreisen ist die Neigung oder sagen wir das Bestreben vorhanden, den Boden des Klassenkampfes zu verlassen und auf den gemeinsamen Kampfboden der übrigen Parteien zu treten. Da nun die übrigen Parteien insgesamt auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen, so ist dieser gemeinsame Boden mit Notwendigkeit der Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Ich sage nicht, daß die Vertreter der neuen Taktik allesamt dies wollen; ich bin von vielen derselben sogar überzeugt, daß sie es nicht wollen. Aber andere wollen es; und es ist kein bloßer Zufall, daß gerade Bernstein es ist, welcher die Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen zuerst vorgeschlagen hat. Dem auf Verbürgerlichung der Sozialdemokratie hinzielenden Programm Bernsteins entspricht diese Taktik durchaus, wohingegen sie vom Standpunkte derer, die den Klassenkampfcharakter unserer Partei nicht verleugnen oder zerstören wollen, entschieden unlogisch ist. Und ich stehe nicht an, meine frühere Erklärung zu wiederholen, daß ein praktisches Preisgeben unserer Partei-Grundanschauungen mir weit gefährlicher scheint als alle theoretischen Irrlichtereien Bernsteins zusammengenommen. Man hat behauptet, daß bei den bürgerlichen Parteien der politische Nerv abgestorben sei – daß sie den Sinn für Freiheit und Recht verloren hätten. Die Behauptung entbehrt sicherlich nicht des Grundes. Indes nicht erst seit neuerer Zeit. Wenn wir von kurzen Perioden absehen, hat das deutsche Bürgerturn niemals das gehabt, was man unter „politischem Nerv“ versteht. Wie dem aber sei, es kann im allgemeinen nicht geleugnet werden, daß wir unter dem Einflusse von politisch-ökonomischen Verhältnissen leben, die einesteils auf die äußerste Zuspitzung der ökonomischen und politischen Gegensätze, andererseits jedoch auch auf eine opportunistische Verflachung der Prinzipien hinwirken. Dazu kommt in Deutschtand die politische Rückständigkeit unseres Bürgertums, die zur Folge hat, daß eine wirklich liberale Partei gar nicht vorhanden ist, ganz zu schweigen von einer demokratischen. Diese Tatsache hat nun zur natürlichen Folge, daß die ehrlich liberalen und demokratischen Elemente des Bürgertums mehr und mehr nach der Seite der Sozialdemokratie hin gravitieren, als der einzigen Partei, die in Deutschland demokratische Grundsätze verficht. Damit sind diese demokratischen Elemente aber noch keine Sozialisten, obgleich viele es zu sein glauben. Kurz, wir haben jetzt in Deutschland eine Erscheinung, die in Frankreich schon seit einem halben Jahrhundert und langer zu beobachten ist und die viel zur Verwirrung der französischen Parteiverhältnisse beigetragen hat, nämlich, daß ein Teil des radikalen Bürgertums sich unter die sozialistische Fahne schart, ohne das Wesen des Sozialismus begriffen zu haben. Dieser bürgerliche Sozialismus, der in Wirklichkeit nur philanthropisch-humanitärer Radikalismus ist, hat der Entwicklung des Sozialismus in Frankreich außerordentlich geschadet. Er hat die Prinzipien verwässert und verwischt und die sozialistische Partei geschwächt, weil er ihr Truppen zuführte, auf die im Moment der Entscheidung kein Verlaß war.
In den Aufsätzen, welche Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich schrieb [12], hat er diesen bürgerlichen Sozialismus auch für uns gekennzeichnet. Und es wäre eine Abirrung und Entgleisung ohnegleichen, wollte die deutsche Sozialdemokratie, die bisher, gerade weil sie unentwegt auf dem Boden des Klassenkampfs voranschritt, so wunderbare Erfolge und ein so wunderbares Wachstum gehabt hat, plötzlich kehrtmachen und in die Fehler hineinstürzen, deren Vermeidung die Größe und der Stolz unserer Partei gewesen ist und die deutsche Sozialdemokratie an die Spitze der internationalen Sozialdemokratie alter Länder gebracht hat.
Das Schwinden der Furcht und Abneigung vor uns in bürgerlichen Kreisen führt selbstverständlich bürgerliche Elemente in unsere Reihen. Solange das in geringem Maße der Fall ist, hat es nichts Bedenkliches, weil die bürgerlichen Elemente von den proletarischen majorisiert und allmählich aufgesogen werden. Ein andres ist es, wenn die bürgerlichen Elemente in der Partei so zahl- und einflußreich werden, daß die Aufsaugung erschwert wird und sogar die Gefahr entstehen kann, daß das proletarische Element zurückgedrängt wird. Für die deutsche Sozialdemokratie besteht, infolge der Rückständigkeit unseres Bürgertums, diese Gefahr der Verbürgerlichung nach zwei Richtungen bin. Wahrend einerseits die demokratischen Elemente des Bürgertums, die in der eigenen Klasse keine politische Befriedigung finden, uns in größerer Menge zufließen als in Ländern mit normal entwickeltem Bürgertum, hat sich anderseits der unbürgerliche, wenn auch kapitalistische Geist unserer Regierungen einem Staatssozialismus [13] zugewandt, der in Wirklichkeit allerdings nur Staatskapitalismus ist, für solche, die durch äußere Ähnlichkeiten und Schlagwörter sich bestechen lassen, jedoch etwas Blendendes und Verführerisches bat. Der deutsche – oder genauer: preußische Staatssozialismus, dessen Ideal der Kasernen-, Junker- und Polizeistaat ist, haßt vor allem die Demokratie. Die Kanitze und Konsorten beteuern, aufrichtige und radikale Sozialisten zu sein – nur von der Demokratie wollen sie nichts wissen. Die Demokratie ist der Feind. Und sie ist ihnen etwas spezifisch Bürgerliches. Alles, was bürgerlich, ist aber dem Sozialistischen diametral entgegengesetzt. So gelangen wir zu dem Trugschluß, der auch in sozialdemokratischen Kreisen sich hier und da eingenistet hat, daß die Demokratie als etwas Bürgerliches mit dem Sozialismus nichts gemein habe, im Gegenteil ihm feindlich sei. Gewisse Verirrungen, zum Beispiel die Polemik gegen das Milizheer, lassen sich, wie früher die Schweitzerschen Irrleitungen [14], auf diesen Trugschluß zurückführen. Die Demokratie ist eben nichts spezifisch Bürgerliches, und wir dürfen niemals vergessen, daß wir nicht bloß eine sozialistisch Partei sind, sondern eine sozialdemokratische, weil wir begriffen haben, daß Sozialismus und Demokratie untrennbar sind.
Als Fürst Bismarck in den sechziger Jahren den „Acheron“ des Sozialismus bewegen wollte und mir durch Braß die Redaktion der Norddeutschen, später dann Marx durch Bucher gar die Redaktion des Staatsanzeigers anbieten ließ [15] – beides mit Vollmacht, den Sozialismus bis in seine letzten Konsequenzen und rücksichtslos im Ausdruck zu vertreten –, da war es natürlich nicht Liebe zum Sozialismus oder Verständnis des Sozialismus, was den Fürsten Bismarck leitete. Vom Sozialismus verstand er damals nichts und hat er niemals etwas verstanden bis zu seinem Tod – wie er überhaupt von den treibenden Kräften des politischen und gesellschaftlichen Lebens nie einen Begriff gehabt hat. Ein weniger wissenschaftlicher und weniger wissender und so rein auf Erfahrung und halb Spieler-, halb Bauernschlauheit fußender „Staatsmann“ hat wohl in keinem Lande und zu keiner Zeit gelebt. Durch jene Angebote an Sozialisten wird beiläufig die Verlogenheit der Versicherung des Fürsten Bismarck, er habe die Sozialdemokratie allezeit mit dem Bestande des Staats für unvereinbar gehalten, ins hellste Licht gestellt. Bismarck wollte den Sozialismus zur Sprengung und Auflösung des bürgerlich-oppositionellen Liberalismus, insbesondere der Fortschrittspartei gebrauchen. Beiläufig für sich allein schon der schlußkräftigste Beweis dafür, daß er vom Wesen des Sozialismus keine Ahnung gehabt. Natürlich wiederholte sich das Schicksal des Zauberlehrlings. Die angerufene Elementarkraft wuchs dem Pfuscher über den Kopf, und nicht er hatte den Sozialismus, der Sozialismus hatte ihn. Die Frage der Taktik tauchte damals für unsere Partei zum erstenmal auf. Sollten wir Bismarck um den Preis gewisser Zugeständnisse an die Arbeiter Beistand gegen die Fortschrittspartei und die sonstigen Gegner seiner Politik leisten, in der Erwartung, dann schließlich stark genug für den erfolgreichen Kampf gegen ihn und den in seiner Person verkörperten Junker-, Polizei- und Militärstaat zu sein. Oder erheischte es die Klugheit und das Interesse der Partei, daß wir, den Kampf Bismarcks mit dem fortschrittlichen Bürgertum und den übrigen Gegnern seiner Politik für uns ausnutzend, die Bismarcksche Politik bekämpften und das Proletariat zu einer selbständigen politischen Partei organisierten, zu dem Zweck, es für die Eroberung der politischen Macht vorzubereiten.
Eine Zeitlang schwankte das Proletariat, aber nach wenigen Jahren war die vornehmlich durch Herrn von Schweitzer befürwortete Taktik der Annäherung an die Bismarcksche Politik von der Gesamtheit der deutschen Arbeiterschaft aufgegeben und die Taktik allgemein angenommen, welche bis auf den heutigen Tag für die Partei in Geltung gewesen ist. Diese Taktik besteht darin, den Klassencharakter der sozialistischen Partei, als einer proletarischen, rein zu erhalten, sie durch Agitation, Erziehung und Organisation zur siegreichen Durchführung des Emanzipationskampfes zu befähigen, den Klassenstaat, in dessen Händen die politische und ökonomische Macht des Kapitalismus konzentriert ist, methodisch zu bekämpfen. und in diesem Kampf aus allen Streitigkeiten und Konflikten der verschiedenen bürgerlichen Parteien unter sich nach Möglichkeit Vorteil zu ziehen.
In Deutschland ist das Bürgertum nicht zur politischen Herrschaft gelangt wie in Frankreich und England. Wahrend das englische Bürgertum schon vor dritthalb Jahrhunderten, das französische Bürgertum vor mehr als einem Jahrhundert mit allem mittelalterlichen Plunder aufgeräumt hat, ist das deutsche Bürgertum überhaupt nicht in der Lage gewesen, eine bürgerliche Revolution zu machen und das, was man unter dem Namen „bürgerliche Freiheiten“ begreift, im Staat zu verwirklichen. Der Verlust des Welthandels infolge der Entdeckung von Amerika und die damit in Verbindung stehende Verkümmerung des wirtschaftlichen Lebens, die politische Zersplitterung und Verkommenheit Deutschlands, die fast an Abtötung grenzende Lähmung des nationalen Geistes, das Emporwuchern dynastischer volks- und kulturfeindlicher Interessen – das alles verhinderte das Aufblühen eines kräftigen Bürgertums. Als 1848 eine verspätete Gelegenheit sich bot, hatte das deutsche Bürgertum auch damals noch nicht die Kraft zu einer bürgerlichen Revolution. Nach kurzem Freiheitsrausch duckte es sich wieder unter das alte Joch. Aus Angst vor den Arbeitern, in denen es eine neue gefährliche Macht witterte, wurde es reaktionär, ohne je revolutionär gewesen zu sein, tat Buße für seine Freiheitsideale, die ihm als „Jugendeseleien“ erschienen, und warf sich der politischen Reaktion in die Arme, bloß noch von dem einen Ideal erfüllt: sich zu bereichern. Das Bürgertum verschwand vom politischen Schauplatz und wurde entweder politisch gleichgültig oder kapitalistisch. Und kapitalistisch, das heißt unbedingtes Anerkennen und Unterstützen der Regierung, vorausgesetzt, daß sie eine Klassenstaatsregierung ist und rücksichtslos die Interessen des Kapitalismus vertritt und zur Geltung bringt. Um Mißverständnissen vorzubeugen und falsche Auffassungen abzuwehren, müssen wir uns des Unterschieds zwischen den Begriffen „bürgerlich“ und „kapitalistisch“ voll bewußt sein. Beide Begriffe, die infolge der Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes „Bürger“ für uns sehr leicht zusammenfallen und sich miteinander vermischen, sind scharf voneinander zu trennen. In Frankreich hat das Wort Bourgeois, das im Mittelalter dieselbe Bedeutung hatte wie unser „Bürger“, im Laufe der Zeiten und der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die Bedeutung des Großbürgertums angenommen, wohingegen wir Deutschen für den letzteren Begriff das französische Wort „Bourgeois“ entlehnen, nebenher aber auch das deutsche „Bürger“ und „bürgerlich“ gebrauchen, ohne die Verschiedenheit hervorzuheben. So entspringt eine Sprachverwirrung, die der Begriffserklärung nichts weniger als förderlich ist. Wir reden von bürgerlicher Gesellschaft und meinen die moderne kapitalistische Bourgeoisgesellschaft. Wir reden von bürgerlichem Geist, bürgerlicher Freiheit und meinen einen demokratischen Geist der Freiheit, wie er dem Bürgertum in früheren Zeiten, als es die Pfaffen und Junker noch bekämpfte, zu eigen war, der aber dem Geist des kapitalistischen und damit reaktionär, junker- und pfaffenfreundlich gewordenen Bürgertums, richtiger der Bourgeoisie, diametral entgegengesetzt ist. Die Richtigkeit der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung, welche die politische Entwicklung von der ökonomischen abhängig sein läßt, kann nicht anschaulicher und überzeugender zum Bewußtsein gebracht werden als durch die Umwandlung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des Bürgertums vollzogen hat. Es ist aufs genaueste nachzuweisen, wie mit der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse auch die Umgestaltung der politischen Anschauung und Stellungnahme des Bürgertums vor sich gegangen ist. Jeder Schritt vorwärts in der ökonomischen Entwicklung war ein Schritt vorwärts in der Entwicklung der Klassengegensätze und ein Schritt der Annäherung des Bürgertums an seine alten Feinde: die Junker und Pfaffen und der Entfernung von dem sich neubildenden Proletariat, das, um seine Emanzipation zu erwirken, für die Gleichberechtigung aller Menschen und für die einst vom Bürgerturn verfochtenen demokratischen Forderungen eintreten muß. Von dem Augenblicke an, wo das Proletariat als vom Bürgerturn losgelöste und ihm interessenfeindliche Klasse auftritt, hört das Bürgerturn auf, demokratisch zu sein. In den Staaten des europäischen Festlands fällt diese Reaktion charakteristischerweise gerade in einen Zeitraum, der als revolutionärer par excellence bezeichnet zu werden pflegt – in die Zeit der Februar- [16] und Märzrevolution [17]. Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Die Februarrevolution war ein verspäteter Sieg des bürgerlichen Idealismus, der den bürgerlichen Realismus zum Widerspruch, zur Opposition und zur Reaktion reizte. Der verfrühte Ausbruch der proletarischen Revolution (in der Pariser Junischlacht [18]), der dem verspäteten Ausbruch der bürgerlichen Revolution auf dem Fuß folgte, trieb das Bürgertum, das in dem Sieg des Proletariats den Untergang des Kapitalismus erkannte, auf die Seite seiner Erbfeinde. In Frankreich wurde Napoleon zum Präsidenten gewählt, und in Deutschland sehnte schon in den Flitterwochen der Märzrevolution das Bürgertum sich nach einem Retter, der das rote Gespenst bannen sollte. So war die „schwarze Reaktion“, die bei uns 1849 die „Revolution“ ablöste, im Grunde genommen nur das eigentliche Wesen dieser „Revolution“, ihre Entkleidung von phantastisch-trügerischem Phrasenschaumgold. Unter der Herrschaft des Kapitalismus mußte das Bürgertum, soweit es kapitalistisch war oder unter kapitalistischem Einfluß stand, politisch reaktionär werden. Und die „schwarze Reaktion“, die vor einem halben Jahrhundert sich über das europäische Festland verbreitete, war ebensogut eine geschichtliche Notwendigkeit wie die „schwärzere Reaktion“ des gegenwärtigen Zickzack- und Zuchthauskurses, dem der an sich selbst verzweifelnde Kapitalismus uns aufgezwungen hat.
In Deutschland, wo der Kapitalismus später als in England und Frankreich zur Entfaltung gelangt ist und wo ihm nicht, wie in jenen zwei Ländern, eine Ära der wirtschaftlichen Blüte wie der politischen Herrschaft des Bürgertums vorausgegangen ist, mußte die ganze politische Entwicklung einen anderen Charakter annehmen. Dort ein von mittelalterlichem Moder und Gestrüpp befreiter Boden – hier die neuste Neuzeit, so neu wie in Frankreich und England, zwischen mittelalterlichem Moder und Gestrupp – der gesunde Wuchs von Ruinenefeu umklammert, das allem, was es mit seinen Saugfasern gepackt hat, das Leben aussaugt – das nur lebt vom Tode und von Fäulnis und das abgerissen und ausgemottetet werden muß, wenn das Gesunde und Wachsende nicht dem Tode verfallen soll. Und das deutsche Bürgertum, das zur Zeit, wo das Bürgertum in anderen Ländern dem Staat seinen bürgerlichen Stempel aufdrückte, den Schlaf der Schwäche geschlafen hatte, besitzt jetzt nicht die Kraft, den romantisch-tötenden Schmarotzerefeu des Junkertums und mittelalterlicher Halbbarbarei abzureißen und auszurotten.
Das politische Unvermögen des deutschen Bürgertums in Vergangenheit und Gegenwart ist, was das politische Leben Deutschlands von dem der übrigen Kulturländer unterscheidet und dem deutschen Proletariat die Mission zugewiesen bat, neben seiner eigenen proletarischen Aufgabe auch noch die von unserem Bürgertum versäumte Aufgabe zu erledigen. Durch die Natur der Verhältnisse wird die Taktik bedingt. Soweit das Bürgertum kapitalistisch ist, haben wir es zu bekämpfen, soweit das Bürgertum sich gegen den Kapitalismus und die von ihm geschützte und geförderte Reaktion wendet, haben wir es entweder positiv zu unterstützen oder doch wenigstens ihm nicht feindlich entgegenzutreten – es sei denn, daß es uns in die Schußlinie gerät, wie zum Beispiel bei Reichstagswahlen, wo ein bürgerlicher und ein sozialdemokratischer Kandidat einander das Mandat streitig machen.
Wenn wir von der Episode Schweitzer absehen, hat die deutsche Sozialdemokratie die schon von dem Kommunistischen Manifest vorgeschriebene Taktik – den Hauptkampf gegen die politische Reaktion zu führen und dem Bürgertum, soweit es noch liberal oder demokratisch ist, in seinem Kampf gegen die politische Reaktion Vorschub zu leisten und in keinem Fall sich auf seiten der politischen Reaktion in ihrem Kampf gegen das oppositionelle Bürgerturn zu werfen – konsequent und bewußt durchgeführt. Es ist notwendig, dies hervorzuheben, weil Bernstein in seinem, von den bürgerlichen Parteien so verdächtig gespriesenen und empfohlenen Streitschrift gegen die sozialdemokratische Partei Deutschlands uns den Vorwurf gemacht hat, wir hatten, was bekanntlich eine alte Lieblingslegende des Herrn Eugen Richter ist, das deutsche Bürgertum einseitig zum Vorteil der politischen Reaktion bekämpft und es dermaßen abgestoßen und erschreckt, daß es sich in seiner Angst unter die Fittiche der politischen Reaktion des Junker-, Polizei- und Militärstaats geflüchtet habe. Es ist nicht möglich, der Wahrheit heftiger ins Gesicht zu schlagen. Zur Zeit des famosen „Verfassungskonflikts“ [19] der sechziger Jahre gab es noch keine, irgend ins Gesicht fallende sozialistische Partei. Als Lassalle 1864 von der Kugel des wallachischen Bojaren Racowitza fiel, zählte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in ganz Deutschland auf dem Papier fünf- bis sechstausend Mitglieder, in Wirklichkeit noch weniger. Von diesem winzigen Häuflein kann die deutsche Fortschrittspartei, auch wenn wir ihren Mannesmut mit deutsch-bürgerlichem Zwerg- oder Hasenmaß messen, nicht ins Bockshorn gejagt worden sein. Und doch kapitulierte sie vor Bismarck und erteilte ihm, nach dem Gelingen des Bruderkrieges von 1866 [20], die Indemnität und beugte sich unter das von ihm errichtete kaudinische Joch. Zu behaupten, daß die Sozialdemokratie hieran schuld sei, ist einfach lächerlich. Es ist wahr, Lassalle hatte das Bürgertum sehr scharf angegriffen, allein damit bei den deutschen Arbeitern auch sehr wenig Anklang gefunden. Und obgleich Lassalle in seinem Kampf gegen die Fortschrittspartei sich verschiedentlich der Bismarckschen Reaktionspolitik vielleicht etwas zu sehr näherte, so darf doch nicht vergessen werden, daß er zu Anfang des Verfassungskonflikts auf seiten der Fortschrittspartei gestanden und sich von ihr erst getrennt hatte, als sie sich trotz seiner wiederholten Aufforderungen hartnäckig weigerte, den Kampf ernsthaft zu führen.
Das deutsche Bürgertum – und das ist der Schlüssel zu seinem sonst unbegreiflichen Verhalten – hatte 1862 so wenig wie 1848 und früher das Zeug zu einer bürgerlichen Revolution. Es fürchtete – wie ich anfangs des Jahres 1863 einem der fortschrittlichen Führer ins Gesicht sagte –, es fürchtete die Revolution mehr als die Reaktion. Und Bismarck mit seiner zynischen Menschenverachtung und seiner Roßtäuschergeriebenheit hatte das bald herausgebracht. Die Herren Fortschrittler „imponierten ihm nicht“ – und je frecher er im Verkehr mit ihnen war, desto leichter wickelte er sie um den Finger. Für den Freiheitsverrat der preußischen Fortschrittspartei die deutsche Sozialdemokratie verantwortlich machen, ist nicht bloß ein Attentat auf die historische Wahrheit, es zeugt auch von völligem Unverständnis der Rolle, welche das deutsche Bürgertum seit dem Mittelalter gespielt hat.
Ich stelle einfach die zwei Tatsachen nebeneinander: In der Ära des Verfassungskonflikts, wo die Fortschrittspartei auf der Höhe ihrer Macht stand und das Volk hinter sich hatte, wurde sie von Bismarck, der einst seine Laufbahn begonnen, spielend überwunden. In der Ära des Sozialistengesetzes, wo Fürst Bismarck auf der Höhe seiner Macht stand und mit allen Hilfsmitteln des Kapitalismus die Diktatur der Bourgeoisie ausübte, wurde ein von der Sozialdemokratie, die alle bürgerlichen Parteien gegen sich hatte, spielend überwunden. Das zeigt, wer in Deutschland die Reaktion bekämpfen kann und wer nicht.
Die Jämmerlichkeit des deutschen Bürgertums hebt jedoch für uns nicht die Pflicht auf, ihm, wo immer es der Reaktion kräftig entgegentritt, Beistand zu gewahren, insoweit unsere eigenen Interessen nicht darunter zu leiden haben. Es ist das auch, seit die deutsche Sozialdemokratie als politische Partei auf dem Kampfplatz sich bewegt, ausnahmslos geschehen. Für meine Person brauche ich bloß an die Tatsache zu erinnern, daß ich 1865 aus Preußen ausgewiesen worden bin, weil ich den Versuch Bismarcks, mit Hilfe der Sozialisten die Fortschrittspartei wie zwischen zwei Mahlsteinen zu zerreiben, durchkreuzt habe. Ich kann mit gutem Gewissen sagen: in all meinen Kämpfen gegen die Bismarcksche Reaktion habe ich für die bürgerlichen Freiheiten gekämpft. Und in meiner vielberufenen Schrift über die politische Stellung der Sozialdemokratie habe ich den demokratischen Charakter unserer Bewegung doch wohl nicht mit minderem Nachdruck dargelegt, als dies in jüngster Zeit von Bernstein geschehen ist, der uns als nagelneue Weisheit empfiehlt, was wir etliche dreißig Jahre lang bereits üben.
Über meine obenerwähnte Broschüre über Taktik muß ich hier einiges sagen. Die Rede, aus der dieselbe hervorgegangen ist, wurde im Jahre 1869 gehalten – zur Zeit des Norddeutschen Bundes, eines Provisoriums, das unmöglich von Bestand sein konnte und entweder mit dem Zusammenbruch der großpreußischen Politik Bismarcks oder mit deren „Krönung“ durch Eintritt der süddeutschen Staaten mit Ausschluß Österreichs endigen mußte. In diesem Provisorium oder Interim war die durch die Logik der Tatsachen uns auferlegte Taktik die der Bekämpfung um jeden Preis. Bismarck hatte nach napoleonischem Muster das allgemeine Wahlrecht eingeführt – nicht um die Volkssouveränität zu begründen, sondern um seine despotische Diktatur zu verdecken. Wie Napoleon durch seine Präfekten, so glaubte er durch seine Landräte das allgemeine Stimmrecht nach Belieben leiten zu können. Es dünkte ihm ein Werkzeug, das bequemer zu handhaben als das Dreiklassenwahlsystem, dessen das Bürgertum sich bemächtigt und in dessen zwei ersten Klassen es sich eine uneinnehmbare Verschanzung geschaffen hatte.
Die Geschichte des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes [21] ist interessant, weil sie so recht deutlich zeigt, wie die bestausgetiftelten politischen Einrichtungen der Reaktion durch die ökonomische Entwicklung umgestaltet und zeitweilig in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Mit raffinierter Schlauheit darauf berechnet, jedes demokratische oder oppositionelle Element auszuschließen, erfüllte es ein Jahrzehnt lang diesen Zweck tadellos, bis eines schönen Tages das wirtschaftlich gekräftigte Bürgerturn, empört über die widerlichen Orgien der Junker- und Polizeiwirtschaft, sich politisch zu fühlen begann und auf den Gedanken kam, daß es nur zu wollen brauche, um in den zwei ersten Wählerklassen die Mehrheit und damit den Sieg bei der Abgeordnetenwahl zu erlangen. Der Gedanke ward zur Tat, und Fürst Bismarck verwünschte das Werkzeug, das so schmählich versagte. Das Dreiklassenwahlrecht wurde das „elendste aller Wahlsysteme“, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht dagegen, dieser Gottseibeiuns des „tollen Jahres“ 1848, das sich im Napoleonischen Frankreich so trefflich bewährt, erstrahlte im Glanz cäsaristischer Staats- und Gesellschaftsrettung.
So erhielten wir das allgemeine Wahlrecht. Und noch aus einem anderen Grund. Die dynastisch-junkerliche Revolution von oben, in der die „nationale“ Politik Bismarcks gipfelte, hätte in der Luft gestanden, wenn ihm nicht wenigstens der Schein einer Revolution von unten verliehen ward. Man brauchte das Volk, sei es auch nur als Statist. Und einen besseren Köder gab es nicht als das allgemeine Wahlrecht von 1848. Es knüpfte die Bismarcksche Revolution von oben an die 1848er Revolution von unten und versetzte die unkritischen Massen in den Wahn, das auf Kosten Deutschlands vergrößerte Junker-, Polizei- und Soldaten-Preußen sei das verwirklichte Deutschland der Demokratie. Wir wissen heute, wie tief der Wahn sich einwurzelte; Jahrzehnte brutalem Mißwirtschaft waren notwendig, um ihn wieder auszurotten.
In einem aber verrechnete sich Bismarck: in der Stärke des revolutionären Gedankens. Was in Frankreich nach der Junischlacht möglich war, die das ganze Bürgertum sich in die wildeste Reaktion stürzen ließ, war in Deutschland nicht möglich, wo die Staatsmacht nicht so straff zentralisiert war und wo, genährt durch die kapitalistische Entwicklung, eine gesunde Arbeiterbewegung heranwuchs, welche entschlossen war, die nationalen und dynastischen Krisen und Kämpfe im Interesse des Proletariats auszubeuten und den Sozialismus in Deutschland zur ausschlaggebenden Macht zu erheben, ihm zum Sieg und zur Herrschaft zu verhelfen. Und das deutsche Proletariat hatte neben dem Vorteil, aus der Arbeiterbewegung der anderen Länder, die Deutschtand in politischer und. ökonomischer Entwicklung voraus waren (und sind), die praktische Nutzanwendung ziehen zu können, das außerordentliche Glück, daß es durch seine großen Lehrer, Marx, Engels, Lassalle, gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn auf den Boden der politischen Aktion gedrängt und dadurch vor den Irrwegen der ausschließlich korporativen Organisationen einerseits und der ziel- und planlosen grundbürgerlich-„anarchistischen“ Revolutionsmacherei und Revolutionsschreierei andererseits bewahrt wurde. Obgleich die deutsche Arbeiterklasse im Jahre 1867, wo das allgemeine Wahlrecht in Funktion trat, nur erst zum kleinsten Teile von Klassenbewußtsein erfüllt war, so war sie doch die einzige Klasse und die sozialistische die einzige Partei, welche die Bedeutung des Wählens und den Wert des Wahlrechts klar erkannte. Es war sogar ein wenig Überschätzung dabei, aber sie erwies sich nützlich, weil sie den Eifer vermehrte.
Wenn Fürst Bismarck sich der Hoffnung hingeben konnte, das allgemeine Wahlrecht werde sich im napoleonisch-plebiszitären Sinn ausbeuten lassen und der Reichstag werde, wie ich ihn 1867 nannte, das „Feigenblatt des Absolutismus“ bleiben, so wurde die politische Grundlage für diese Hoffnung durch die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reich umgestürzt. Der höchste Triumph der Bismarckschen Politik schloß ihr Fiasko, ihren Bankrott in sich. Was der stramme preußische Kasernen- und Polizeigeist vielleicht für das Gebiet des Norddeutschen Bundes auf absehbare Zeit hätte verhindern können: das Entstehen und Heranwachsen einer selbständigen Volksbewegung, das war auf dem erweiterten Gebiet des deutschen Reichs nicht mehr zu verhindern. Die Volkskraft ließ sich nicht ersticken, und die Eifersucht der „Bundesfürsten“ auf die preußische Vormacht wirkten mit, daß die Bäume des Bismarckschen Junker-Cäsarismus nicht so hoch emporschießen konnten wie die Bäume des Napoleonischen Präfekten-Cäsarismus. Den Arbeitern war durch keine Lockungen die Erkenntnis der Untrennbarkeit des Sozialismus von der Demokratie und der Demokratie von dem Sozialismus zu rauben.
„Die Frage“, so begann ich meine Rede von 1869, „welche Stellung hat die Sozialdemokratie im politischen Kampfe einzunehmen?, beantwortet sich leicht und sicher, wenn wir uns über die Untrennbarkeit des Sozialismus und der Demokratie klargeworden sind. Sozialismus und Demokratie sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiedener Ausdruck desselben Grundgedankens; sie gehören zueinander, ergänzen einander, können nie miteinander im Widerspruch stehen. Der Sozialismus ohne Demokratie ist Aftersozialismus, wie die Demokratie ohne Sozialismus Afterdemokratie. Der demokratische Staat ist die einzig mögliche Form der sozialistisch organisierten Gesellschaft.“
Diese Wahrheit von der Untrennbarkeit der Demokratie und des, Sozialismus hat der deutschen Arbeiterklasse in den schwierigsten Wirrnissen der Politik als sicherer Wegweiser gedient, so daß die gefährliche Klippe des Staatssozialismus vermieden ward, auf den die preußische Reaktion schon in den vierziger Jahren lossteuerte – war doch das Ideal des Kasernen- und Polizeistaats der Kasernen- und Polizeisozialismus, der sich schönrednerisch Staatssozialismus nennt! Die Wagener-Schweitzerischen Sophismen, daß die Demokratie etwas „Bürgerliches“ sei und daß der Sozialismus, weil direkt gegen die „bürgerliche“ Gesellschaft sich richtend, folgerichtig undemokratisch sein müsse, hat zwar zu Schweitzers Zeiten manchen Kopf verwirrt, in der Arbeitermasse jedoch nie Eingang gefunden. Heute ist dieser Trugschluß noch rudimentär in der bekannten Milizdebatte zutage getreten, hat aber nichts mehr zu bedeuten.
Ehe wir weitergehen, müssen wir uns über die Bedeutung des Wortes Kompromiß klarwerden, sonst ist jede Debatte vollkommen gegenstands- und erfolglos, weil jeder etwas anderes meint und folglich keiner die Argumente des anderen trifft. Wenn Kompromiß als Zugeständnis der Theorie an die Praxis aufgefaßt wird, so ist unser ganzes Leben und Handeln ein Kompromiß und ist, vom Leben des einzelnen zu dem der Völker und der Menschheit emporsteigend, die ganze Menschen- und Menschheitsgeschichte eine fortwährende, ununterbrochene Kette von Kompromissen. Die Geschichtsauffassung, daß zeitweilig tabula rasa, das heißt, reinem Tisch gemacht worden sei und werden müsse, um unbelastet von dem Alten neue Wirtschaft und Ordnung zu beginnen, ist höchst unwissenschaftlich und steht mit der Erfahrung im schroffsten Widerspruch. Die Tabula-rasa-Theorie spukt heute nur noch in den Köpfen der Polizeipolitiker, die von uns behaupten, wir hatten die Absicht, „alles zu verunjenieren“, was uns nicht in den Kram paßt. Die Herren urteilen dabei nach sich selbst, denn sie wähnen sich im Besitz der Wunderkraft: alles „verunjenieren“ zu können, was der ewige Webstuhl der Zeit gewoben hat und webt, ohne daß vorher die polizeiliche Erlaubnis eingeholt worden ist. Die Männer des Sozialisten- und Zuchthausgesetzes bekunden durch ihm törichtes Treiben nur ihre bodenlose Ignoranz. Die organischen Gesetze, nach welchen die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung sich vollzieht, lassen sich nicht willkürlich ändern oder außer Kraft setzen – sowenig dies mit den Gesetzen geht, nach welchen ein Tier, eine Pflanze wächst und sich entwickelt. Wer da gewaltsam eingreift, kann nur stören und zerstören – wie das von jeher das Schicksal der Polizeipolitiker gewesen ist. Was diese, sich „Staatsmänner“ nennenden Pfuscher uns Sozialdemokraten nachsagen: wir könnten nichts schaffen, nur zerstören, ist bloß die Abspiegelung ihres eigenen Tons und Treibens. Gibt es doch unter den unzähligen Sünden und Schlechtigkeiten, deren wir von ihnen angeklagt werden, nicht eine einzige, die sie nicht sich selber entnommen hatten. Ich denke da nur noch – um den alten Beispielen ein neues hinzuzufügen – an den Vorwurf, der seit zwei Jahrzehnten stereotyp geworden ist: die Sozialdemokratie habe zum Ziel die Diktatur des Proletariats. [22] Die Wahrheit ist: seit der Pariser Junischlacht, also seit einundfünfzig Jahren, haben wir auf dem Festlande von Europa tatsächlich die Diktatur der Bourgeoisie. Eine Diktatur, die gegen die Arbeiterklasse mit Feuer und Schwert ausgeübt wird – die uns nach der Junischlacht die grauenhaften Metzeleien der Kommune gebracht hat und Hunderte von kleineren Arbeitermetzeleien – eine Diktatur, die auf die Entrechtung der Arbeiterklasse hinausläuft und das Proletariat von dem Genuß nicht bloß der politischen Rechte, sondern auch des einfachen juristischen Rechts ausschließt – eine Diktatur, die sich in Dutzenden von Ausnahme- und Knebelgesetzen geäußert hat und der wir Deutschen das Sozialistengesetz, den Zuchthauskurs und Klassenjustizurteile wie das Löbtauer Urteil [23] und den Essener Meineidsprozeß [24] verdanken. Und wenn „König Stumm“, der jetzt „König“ ist im Reich der „Sozialreform“, sein Ziel der Vernichtung jeder Arbeiterorganisation erreichen würde – was war im Vergleich mit solchem Diktatur die Diktatur eines Marius und Sulla oder des französischen „Konvents“ von 1792 bis 1794? Die politische Macht, welche die Sozialdemokratie erstrebt und welche sie erkämpfen wird, was immer die Feinde tun mögen, hat nicht die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Zweck, sondern die Vernichtung der Diktatur der Bourgeoisie. Ähnlich wie der Klassenkampf, den das Proletariat führt, nur eine Abwehr ist des von der Bourgeoisie gegen das Proletariat geführten Klassenkampfes, dessen siegreiche Beendigung durch das Proletariat die Abschaffung des Klassenkampfes in jeder Form ist.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß die Gesetze, nach denen sich die politische und soziale Entwicklung vollzieht, von uns ebensowenig gebeugt oder außer Kraft gesetzt werden können wie von den Gewalthabern der kapitalistischen Gesellschaft. Wir wissen, daß wir die sozialistisch Produktion und Gesellschaftsform ebensowenig willkürlich einführen können, wie der deutsche Kaiser vor neun Jahren seine Februarerlasse [25] gegen die Vertreter des kapitalistischen Klassenkampfes durchführen konnte. Wir haben deshalb den Versuchen unserer Gegner, die Arbeiterbewegung gewaltsam zu ersticken, mit lächelndem Gleichmut zuschauen können – wir waren und sind unseres Erfolges sicher, wie der Losung einer mathematischen Aufgabe. Wir wissen aber auch, daß die Umgestaltung der Verhältnisse, weil sie organisch ist, sich, wenn auch unaufhaltsam, doch allmählich vollzieht und ohne Zerstörung. Die Zerstörung des Bestehenden, des Lebenskräftigen ist sogar im allgemeinen unmöglich. Wir haben das recht deutlich in der Französischen Revolution gesehen, die von allen politischen Umwälzungen wohl die planvollste und mit größter Tatkraft durchgeführte ist und doch nach der „goldenen Zeit“ ideologischen Herumtappens und phantastisch-utopischen Illusionen dem Bestehenden Rechnung tragen und das Neue an das Alte anknüpfen mußte. In ersten Anlauf gelingt es mitunter, Lebenskräftiges zu beseitigen, allein die Geschichte lehrt uns, daß auch die revolutionärsten und despotischsten Regierungen durch die Logik der Tatsachen schließlich zum Einlenken und zur Anerkennung – wenn auch in anderem Form – des zu Unrecht mechanisch Beseitigten gezwungen wurden. Kurz, die geschichtliche Gegenwart ist in der Regel ein Kompromiß zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Also, den Kompromiß in diesem Sinne zu verwerfen, wäre unwissenschaftliche Torheit. Und praktische Torheit wäre es, wenn eine politische Partei darauf verzichten wollte, aus den Konjunkturen – man verzeihe den geschäftsmäßigen Ausdruck – des politischen Lebens Vorteile zu ziehen und die Kämpfe der verschiedenen Parteien für sich auszunutzen. Das gebietet die Klugheit – dabei kommen Prinzipien nicht in Frage –, es werden keine Verpflichtungen eingegangen, und das, was die Klugheit zu tun gebietet, nicht zu tun, wäre eine Dummheit. Daß wir Sozialdemokraten im Reichstag in einer sozialpolitischen Frage gelegentlich mit den Konservativen für die Regierung stimmen, in politischen und in Handelsfragen gelegentlich mit den Freisinnigen gegen die Regierung, das ist ein selbstverständliches Erfordernis des politischen Kampfes und hat, wenn auch unzweifelhaft ein Kompromiß zwischen Theorie und Praxis vorliegt, mit den Kompromissen, gegen welche die Partei sich wiederholt scharf und ausdrücklich erklärt hat, nicht das mindeste gemein. Was die Partei in Auge hatte und was sie durch formelle Beschlüsse den Genossen zur Pflicht machte, das war die Vermeidung von Bündnissen, Verabredungen, Kartellen, Verträgen oder wie sonst es genannt werden mag, durch welche ein Prinzipienopfer bedingt oder überhaupt das Verhältnis unserer Partei zu den bürgerlichen Parteien in einer für uns nachteiligen Weise geändert wird. Letzterer Punkt muß besonders hervorgehoben werden, weil es auf diesen hauptsächlich ankommt. Bei der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen handelte es sich zum Beispiel ausschließlich um letzteren Punkt, da es keinem der für die Beteiligung eintretenden Genossen eingefallen ist, Parteiprinzipien bei einem Bündnis mit der Fortschrittspartei zum Opfer bringen zu wollen – obgleich nicht übersehen werden darf, daß taktische Fragen sehr leicht in prinzipielle umschlagen können. Wenn die Verhältnisse und die Notwendigkeiten der Lage ein Zusammengehen mit anderen Parteien erheischen, läßt sich dies stets auch ohne Kompromiß bewerkstelligen. Ich nehme das Beispiel Belgiens. Die liberale Partei hatte dort mit der sozialistischen das gleiche Interesse, die klerikale Partei zu bekämpfen. Beide Parteien fanden sich zusammen, und sie gingen zusammen bis zu einem gewissen Punkt. Das wäre auch ohne Abmachungen geschehen. Es geschah aber mit Abmachungen. Und der Erfolg? Zank und Streit. Die Abmachungen haben sich als ganz überflüssig erwiesen. ist der Punkt überschritten, bis zu welchem Gemeinsamkeit der Interessen bestand und bis zu welchem die Gemeinsamkeit dem Interessen auch ohne Abmachungen gemeinsames Handeln bewirkt hätte, so hört auch die Gemeinsamkeit des Handelns auf. ist in den Arbeitern das Klassenbewußtsein nicht rege genug, so doch sicherlich bei den Herren Bourgeois, bei denen der Klasseninstinkt viel reger ist als bei den Arbeitern. Und zwar auch in den Ländern mit demokratischen Gesetzen und Einrichtungen. Ich verweise auf die Scheidung zwischen bürgerlichen Demokraten und Sozialisten in der Schweiz, dem Eldorado Bernsteins, wo nach Bernsteinscher Lehre der Klassengegensatz eigentlich ganz verschwunden sein sollte, jedoch, wie wir wissen, sich ebenso kräftig regt wie in weniger demokratischen Ländern. Damit soll indes nicht geleugnet sein, daß durch demokratische Einrichtungen die Schärfe der Klassenkämpfe gemildert wird.
In Belgien, mit seinen freien Institutionen einerseits und seiner Pfaffenregierung anderseits, hatten bisher die Wahlbündnisse der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien einen guten Nährboden gehabt. Jedenfalls hatte unsere Partei bei allen Bündnissen, die sie einging, den Vorteil der Leitung. Sie konnte nicht ausgebeutet und nicht betrogen werden. Trotzdem haben die belgischen Genossen ein Haar in den Kompromissen gefunden, und unser belgischer Genosse Vandervelde begrüßt in der Wiener Arbeiterzeitung [26] die Einführung des Proportionalsystems in Belgien als „das Ende der Wahlbündnisse“. „In den Klassenkampf“, so schreibt ein, „werden hinfür keine sekundären Faktoren mehr hineinspielen, es werden die verwirrenden Nebenumstände verschwinden, die es den Massen so sehr erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen.“ Freund Vandervelde hat also gefunden, daß die Kompromisse auch da, wo sie unter den für die Arbeiter günstigsten Bedingungen und Verhältnissen stattfinden, die nachteilige Wirkung haben, daß sie es „den Massen erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen“ – mit anderen Worten, daß sie durch Entfernung der Arbeiter vom Boden des Klassenkampfes den Arbeitern die Möglichkeit entziehen, ihre volle Kraft zu entfalten und zur Geltung zu bringen, was sie bloß auf dem Boden des Klassenkampfes vermögen.
Das Gefährliche und Schädliche des Kompromisses besteht nicht in dem formellen Verschachern oder Beiseiteschieben von Parteiprinzipien. Das ist in unserer Partei wohl kaum jemals gewollt worden. Selbst als unsere Genossen in Essen bei der vorletzten Wahl „aus Bosheit“ in der Stichwahl für den „Kanonenkönig“ stimmten, dachten sie nicht daran, auch nur ein Jota unseres Programms zu opfern. Nicht hier liegt die Gefahr und des Übels Kern, sondern in dem Aufgeben, Zurücksetzen oder Vergessen des Klassenkampfstandpunktes, denn dieser ist der Ausgangspunkt der ganzen modernen Arbeiterbewegung. Es gilt da scharf zu unterscheiden, sich durch Schlagwörter nicht blenden zu lassen, kurz, wie ich es schon vor Jahrzehnten gegenüber der revolutionär tuenden, in Wirklichkeit philisterhaften und reaktionären Phraseologie des „Anarchismus“, dieser verspäteten Karikatur des bürgerlichen Freiheitsideals und theatralischen Maskerade der krämerhaften Freien Konkurrenz, gesagt habe: es gilt die Emanzipation von der Phrase.
Mitleid mit der Armut, Schwärmerei für Gleichheit und Freiheit, das Erkennen der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und der Wunsch, sie zu beseitigen, ist kein Sozialismus. Die Verurteilung des Reichtums, die Schätzung der Armut, wie wir sie in Christentum und in anderen Religionen finden, ist kein Sozialismus. Der Kommunismus der Urzeiten, wie ein vor der Entstehung des Privateigentums herrschte und wie ein zu allen Zeiten und bei allen Völkern schwärmerisch angelegten Menschen als Endziel vorschwebte, ist kein Sozialismus. Die gewaltsame Gleichmacherei der Babouvisten [27] (der Schüler Babeufs, der sogenannten Egalitaires – Gleichmacher) ist kein Sozialismus.
Bei all diesen Erscheinungen fehlt die reale. Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Klassengegensätzen. Der moderne Sozialismus ist das Kind der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Klassengegensätze. Ohne sie würde ein nicht sein. Sozialismus und Ethik ist zweierlei. Das muß festgehalten werden.
Wer den Sozialismus in den sentimentalen Sinn menschenfreundlicher Gleichheitsbestrebungen auffaßt, ohne von dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft einen Begriff zu haben, der ist kein Sozialist in dem Sinne des Klassenkampfes, ohne welchen der moderne Sozialismus nicht denkbar. Bernstein ist freilich in Worten auch für den Klassenkampf – wie der hessische Bauer für „die Republik und den Großherzog“. Wem das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft und die Grundlage des modernen Sozialismus zu vollen Bewußtsein gekommen ist, der weiß auch, daß eine sozialistische Bewegung, die den Boden des Klassenkampfes verläßt, alles andere sein kann, nur keine sozialistisch.
Diese Grundlage des Klassenkampfes, welche Marx – und das ist sein unsterbliches Verdienst – der modernen Arbeiterbewegung gegeben hat, ist der Hauptangriffspunkt in dem Kampf, den die bürgerliche Nationalökonomie gegen den Sozialismus führt. Sie leugnet den Klassenkampf und will die Arbeiterbewegung zu einem Teil der bürgerlichen Parteibewegung machen, die Sozialdemokratie zu einer Schattierung der bürgerlichen Demokratie. Gegen den Klassencharakter der modernen Arbeiterbewegung richten sich alle Anstrengungen der bürgerlichen Nationalökonomie und Politik. Gelingt es, Bresche zu schießen in dieses Bollwerk, in diese Zitadelle der Sozialdemokratie, so ist die Sozialdemokratie überwunden und das Proletariat unter die Botmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeworfen. ist die Bresche anfangs auch noch so klein, der Feind hat die Möglichkeit, sie zu erweitern, und die Sicherheit des endgültigen Sieges. Und der Feind ist am gefährlichsten, wenn ein als Freund sich der Festung naht, als Freund sich in sie einschleicht. Als Freund und Bundesgenosse.
Dem Feind, der uns als Feind mit offenen Visier entgegentritt, bieten wir lächelnd die Stirn, setzen wir spielend den Fuß auf den Nacken. Die dumm-brutalen Gewaltstreiche der Polizeipolitiker, die Attentate des Sozialistengesetzes, des Umsturzgesetzes [28], des Zuchthausgesetzes [29] konnten uns nur Gefühle mitleidigen Verachtung entlocken – der Feind aber, der uns die Hand zum Wahlbündnis hinstreckt und sich als Freund und Bruder uns aufdrängt – ihn und ihn allein haben wir zu fürchten.
Unsere Festung trotzt jedem Angriff – sie kann nicht erstürmt, auch nicht durch Belagerung uns entrissen werden –, sie kann nur fallen, wenn wir selber den Feind die Tore öffnen und ihn als Bundesgenossen in unsere Reihen aufnehmen. Aus dem Klassenkampf hervorgewachsen, hat unsere Partei den Klassenkampf zur Lebensbedingung. Durch und mit ihm unbesiegbar, ist sie verloren ohne ihn, weil sie dann die Wurzeln ihrer Kraft verloren hat. Wer das verkennt und wer da gar meint, der Klassenkampf sei ein überwundener Standpunkt, die Klassengegensätze verwischten sich allmählich, der steht auf dem Boden der bürgerlichen Weltanschauung.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003