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Leipziger Volkszeitung, Nr. 167, 22. Juli 1899.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Hbd., S. 487–492.
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Börne sagt einmal, ihm sei jedesmal, wenn er die Schriften seiner offiziösen Bekämpfer lese, wie einem, der hohle Nüsse knackt. Mit einem ehrlichen Kraftaufwand mache er sich jedesmal anheischig, die offiziöse Nuß zu knacken, die Zähne führen aber unerwartet ohne Widerstand heftig aufeinander, die Nerven erzitterten, und im Munde bleibe nur der widrige Geschmack von – Würmern. Ähnliches widerfährt demjenigen, der jetzt die unzähligen Schriften, Broschüren und Artikel über die „Krisis im Marxismus“ liest, die es in den letzten Monaten geradezu regnet, wie Nüsse bei starkem Winde.
Mit ganz besonderem Aufputz tritt im neuesten Hefte der Conradschen Jahrbücher ein frischgebackener Dr. Simkowitsch auf die Bühne. Er zitiert auf den 60 Seiten seines Opus Die Krisis der Sozialdemokratie [1*] alle älteren und neueren Schriften des Marxismus, beruft sich auf die meisten Philosophen der beiden letzten Jahrhunderte, läßt für sich Gewährsleute aller lebendigen und toten Sprachen schwören, deklamiert dazwischen Gedichte, und all diese Philosophen, Gelehrten und Dichter beweisen bei ihm mit erdrückender Kraft, daß Marx’ Lehren samt und sonders vom Leben und von der Wissenschaft längst in allen Punkten zum alten Eisen geworfen worden sind.
Das eigene „wissenschaftliche“ Niveau dieses jüngsten Überwinders des Marxismus, der aus New York seine tödlichen Pfeile abschnellt, aber offenbar auf einer deutschen Universität verdummt wurde, charakterisiert wohl genügend der eine Satz: „Karl Marx’ ... großer Fehler, daß er ein System nicht zur Feststellung des sozialen Sollens, sondern zur Erklärung des gesellschaftlichen Seins aufstellte“ [1], d. h., daß er nicht soziale Rezepte zur Herstellung einer idealen Gesellschaft, sondern eine Untersuchung der bestehenden Gesellschaft schrieb, daß er nicht Utopist, sondern wissenschaftlicher Forscher war – darin bestand sein „großer Fehler“.
Käme heute, am Ausgang des Jahrhunderts, auf irgendeinem anderen Gebiete der Wissenschaft ein Simkowitsch mit einer ähnlichen Behauptung, mit der Behauptung zum Beispiel, Darwins großer Fehler sei gewesen, daß er eine Erklärung der tatsächlichen Entwicklung der Tierwelt, statt eine Anweisung für eine seinsollende Entwicklung lieferte, so würde ihm die Redaktion einer wissenschaftlichen Revue den Artikel postwendend zurückschicken. Allein auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaft und insbesondere wenn es gegen den Marxismus geht, dürfen solche Primanersentenzen in einer Professorenzeitschrift ruhig aufgetischt werden, und dies ist, weit entfernt, ein Zufall zu sein, vielmehr für die heutige offizielle Sozialwissenschaft in den bürgerlichen Revuen und auf den Universitäten kennzeichnend.
“Während der wissenschaftlich geschulte Kopf an den Sieg des formellen Gerechtigkeitsprinzips glaubt und der technischen Ausgestaltung der gesellschaftlichen Organisationen gleichgültig gegenübersteht, ist der ungebildete Verstand in seinem Glauben an eine materiell bestimmte Organisation, an ein konkretes utopisches Gesellschaftsbild, nicht an das abstrakte suum cuique gefesselt.“ [2] Dies die andere Sentenz des Simkowitsch, der, wie man sieht, alle wissenschaftlich geschulten Vorzüge der diplomierten Ignoranz, also auch den Dünkel auf seiner Seite hat. Nur der ungebildete Haufe kann sich auf den Einfall verbeißen, daß zur Verwirklichung des Gerechtigkeitsprinzips irgendeine konkrete Organisation der Gesellschaft gehört, – der durch Stammlersche Weisheit [2*] geschulte Kopf ist bloß an das „formelle Prinzip“, das heißt an seine Existenz in dem Bewegungselement der Spatzen und der deutschen Professoren – in der blauen Luft „gefesselt“.
Daß im übrigen in der Simkowitschschen Grabrede von der Sozialdemokratie, wie die Blätter vom Baume im Herbste, nacheinander alle ihre Prinzipien: die „Revolution“, die Verelendungstheorie, das Wertgesetz, die materialistische Geschichtsauffassung – abfallen, daß dann Vollmar, Kampffmeyer, Konrad Schmidt und als Krone des Ganzen Bernstein im schönsten Glanze aufmarschieren, wird sich der Leser schon selbst sagen können. Diese seit Monaten in allen bürgerlichen Zeitungen, Zeitschriften und einer Menge dünner und dicker Bücher abgeleierte Melodie ist zu langweilig und eintönig, als daß man sie einer näheren Betrachtung zu würdigen bräuchte.
Eine Frage bietet sich immerhin bei all dem öden Geleier über die Krisis der Sozialdemokratie und die Überwindung des Marxismus. Was ist eigentlich in der letzten Zeit geschehen? Das Marx-Überwinden ist bekanntlich seit langer Zeit eine Lieblingsbeschäftigung der deutschen Professorenschaft und ein probates Bewerbungsmittel um eine Privatdozentur in Deutschland. Ja, noch mehr: wenn man die allgemeine Entwicklung der sozialen Wissenschaften in den letzten 25 Jahren in Deutschland ins Auge faßt, so war sie überhaupt nichts anderes, als eine einzige MarxÜberwindung, ihr wichtigster positiver Beweggrund das Bestreben, Marx’ Lehren zu negieren.
Nehmen wir die Nationalökonomie. Die Entwicklung der klassischen Ökonomie hat logischerweise durch Smith und Ricardo zu Marx, von der Analyse der bürgerlichen Ordnung zur Entdeckung ihrer Bewegungsgesetze und ihres Unterganges geführt. Für die geschworenen Vertreter der bürgerlichen Wissenschaft wurde es nun zur Notwendigkeit, um die sozialistischen Schlußfolgerungen von Marx zu negieren, folgerichtig auch die ganze klassische Nationalökonomie abzuschwören. Als Gegensatz zu dem großartigsten Werkzeug dieser Ökonomie – der deduktiven Methode, die zur Entdeckung der allgemeinen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft geführt hatte, wurde die sogenannte „historische Schule“ geschaffen, die zum Prinzip das ameisenartige Zusammenschleppen des „Tatsachen“-Kleinkrams und die Aufhäufung ganzer Berge „historischer“ Strohhalme und geschichtlichen Abfalls hat, unter denen die allgemeinen Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft glücklich verdeckt und versteckt bleiben. Auf diese Weise wurde der Anforderung der modernen Nationalökonomie, nämlich dem geschichtlichen Standpunkt, durch eine echt bürgerliche „Spekulation“ Genüge getan und der wirklich geschichtlichen Methode jeder revolutionäre Stachel genommen.
Das andere wesentliche Merkmal der klassischen Ökonomie einschließlich ihres letzten Vertreters, Marx, war die objektive Untersuchung der wirtschaftlichen Phänomene. Die Überwindung dieser gefährlichen Forschungsmethode führte zur „subjektiven Schule“ Böhm-Bawerks-Jevons [3*], die gesellschaftliche Erscheinungen nicht aus den äußeren Verhältnissen von Menschen untereinander, sondern aus den Tiefen der menschlichen Einzelseele erklären und auf diese Weise die gefährlichen Konsequenzen der bürgerlichen Beziehungen aufheben will. Es blieb bei alledem notwendig, angesichts des sozialdemokratischen Kampfes, auch mit den von Marx einmal aufgedeckten Wunden der bürgerlichen Ordnung in dieser oder jener Weise abzurechnen. Und dies besorgte der Brentanosche Kathedersozialismus [4*], diese „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“.
Die nämliche Entwicklung wie die Nationalökonomie macht auch die Philosophie, namentlich ihr soziologischer Teil, durch. Wie die klassische Ökonomie durch Smith und Ricardo, so hatte die klassische Philosophie durch Hegel und Feuerbach konsequenterweise zu Marx, die Dialektik und der Materialismus zur materialistischen Geschichtsauffassung geführt. Es galt also ganz analog zur Überwindung der Forschungsmethoden der ökonomischen Klassiker auch die Hauptergebnisse der klassischen Philosophie: die Dialektik und den Materialismus, zu überwinden. Da aus Hegel die philosophischen Wege nun einmal unvermeidlich in die gefährlichsten Räuberhöhlen von Feuerbach und Marx führten, so blieb den bürgerlichen Philosophen nichts anderes übrig, als einfach durch einen Ukas Hegel in der Entwicklung der Philosophie zu annullieren und die Wissenschaft „auf Kant“ zurückrufen zu lassen.
Am schwierigsten war aber die „Überwindung“ des historischen Materialismus. Nach langem Drehen und Wenden erfand die bürgerliche Soziologie endlich mit Hilfe Stammlers, um der Anforderung aller modernen Geschichtsauffassung, dem Monismus, das heißt der Einheitlichkeit, Genüge zu tun, zugleich aber den gefährlichen Konsequenzen der materialistischen Lehre aus dem Wege zu gehen, einen neuen, der ganzen klassischen Philosophie unbekannten „Monismus“, der darin besteht, daß er alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in dem Professorenhirn zu einem unterschiedslosen Brei verreibt, also weder materialistisch, noch idealistisch, sondern einfach Nonsens ist, und der als Schätzungsmaßstab der sozialen Bestrebungen nach ihrer Berechtigung nur ein „formales soziales Ideal“ aufzustellen weiß, an dem das schönste ist, daß es nie verwirklicht werden kann.
So stellt sich bereits die ganze offizielle gesellschaftliche Wissenschaft in Deutschland in dem letzten Viertel des Jahrhunderts als eine große „Überwindung von Marx“ dar, Marx als die geheime Ursache ihrer ganzen Existenz. Allein es tragen alle diese ökonomischen, soziologischen und philosophischen „Schulen“ der Überwinder ein ausgeprägtes Merkzeichen an sich: sie sind alle nicht zur Überzeugung der natürlichen Marx-Anhänger, der Volksklassen, sondern bloß zur Selbstberuhigung, oder wenigstens Selbstbetäubung der natürlichen Marx-Gegner, der Bourgeoisie, bestimmt. Eine gewisse öde Langeweile einer Gesellschaft, die sich nur unter sich und für sich unterhält und von vornherein bereit ist, an alles ohne Unterschied, was nur gegen den verhaßten Marx gerichtet ist, zu glauben, lastete auf all dem hochtrabenden und dunklen Professorengerede, eines Roscher wie eines Böhm-Bawerk, eines Schmoller [5*] wie eines Stammler. Durch all den Dünkel der „Wissenschaftlichkeit“, der Selbstzufriedenheit, der gegenseitigen Bewunderung der kleinen Clique auf dem Katheder, schimmerte ein unbehagliches Bewußtsein von der tiefen, stummen Verachtung seitens der großen Marxgemeinde in der Arbeitswerkstatt durch. Hinter dem orakelhaftesten Gerede der „historischen Schule“ kicherte boshaft der unbarmherzige Marxsche Spott, und die eifrigsten sozialreformerischen Wortergüsse des Kathedersozialismus überdröhnte höhnisch der feste Schritt der Sozialdemokratie.
Es war eben einfach eine „Verdauungswissenschaft“, eine Wissenschaft zur Beförderung der Verdauung des Mehrwerts, ohne die geringsten Ansprüche oder Hoffnungen, jemals von den Produzenten des Mehrwerts beachtet zu werden.
Plötzlich geschah aber etwas Unerwartetes. Das gewaltige Wachstum der Sozialdemokratie in die Breite führte unter anderen Ergebnissen zum Aufkommen der opportunistischen Strömung in den letzten Jahren.
Der Opportunismus seinerseits mußte in seiner Opposition gegen den revolutionären Charakter der proletarischen Bewegung natürlicherweise alle dieselben Schritte, richtiger Rückschritte durchmachen, die Jahrzehnte vor ihm bereits die bürgerliche Wissenschaft durchgemacht hatte. Und auf einmal erblickten sich all die guten Leute, die die theoretische Bekämpfung der Sozialdemokratie auf dem Katheder als besoldeten Beruf innehaben, zu ihrem eigenen Staunen mitten ins Lager der Sozialdemokratie übertragen. In den Theorien Bernsteins und seiner Anhänger lebten plötzlich die durch langes und zweckloses Reden bereits längst verstorbenen und vermoderten, von sich selbst begrabenen und vergessenen Kathedersozialisten, lebten die „Subjektivisten“, lebte das Stammlersche flatterhafte „soziale Ideal“, das sich, wie ein neckischer Schmetterling, nie fangen läßt („das Endziel ist mir nichts, die Bewegung“ – das Fangen – „alles“ [6*]), wieder auf. Selbstverständlich verändert sich der innere Charakter der bürgerlichen Verdauungswissenschaft dadurch, daß sie einige verirrte und konfus gewordene Sozialdemokraten nachbeten, nicht im mindesten. Und selbstverständlich fallen die Mauern des Marxismus ebensowenig, weil nun die bürgerliche Trompete von sozialdemokratischen Freiwilligen geblasen wird.
Allein, so lange die Partei diesen Tatsachen keinen offiziellen und unzweideutigen Ausdruck gegeben hat, wiegt sich der ganze Schwarm der bürgerlichen Marx-Überwinder in der süßesten Täuschung: sie scheinen, was ihnen nie im Traum eingefallen ist, in der Sozialdemokratie selbst Schule zu machen, ja sie fangen am Ende selbst an, an ihre Marx-Überwindung, an sich selbst zu glauben! ...
Das opportunistische Lüftchen in unserer Partei ist es, das in den letzten Monaten die hohlen Nüsse der bürgerlichen Betrachtungen über die „Krisis im Marxismus“ mit solcher Intensität regnen läßt. Das Lied ist alt, neu daran ist aber der Glaube und die Hoffnung. Und auch die Liebe. Denn sogar der junge Simkowitsch verspricht uns, falls wir den überwundenen Marxismus gänzlich abschwören, uns nicht ganz zu vergessen, sondern mit den Hungrigen das Brot „teilen“ zu wollen ...
Die eintönigen und langweiligen „Betrachtungen“ der Professoren und ihrer Schüler über die häuslichen Dinge in der Sozialdemokratie einer ernsten Antwort zu würdigen, wäre der Gipfel der Abgeschmacktheit. Aber ihnen wieder den alten Respekt, die alte gehörige Selbstverachtung beizubringen, und zwar durch eine gründliche Abfuhr – das ist die Sozialdemokratie dem Andenken von Marx schuldig. Daß hierbei Sozialdemokraten selbst in Frage kommen, ist eine traurige Notwendigkeit ...
1. Conrads Jahrbücher, III. Folge, XVII. Bd., Heft 6, 1899, S. 736.
2. a.a.O., S. 780.
1*. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Hrsg. von J. Conrad, III. Folge, 17. Band, 6. Heft, S. 721–781.
2*. Rudolf Stammler, ein rechtsphilosoph, bekämpfte von der Position des Neukantianismus aus den historischen materialismus.
3*. Eugen Böhm-Bawerk, ein österreichischer bürgerlicher Ökonom, war Hauptvertreter der sogenannten Grenznutzenschule. Er vdeertrat eine vulgäre Kapital- und Zinstheorie. William Stanley Jevons, ein englischer bürgerlicher Ökonom und Philosoph, war einer der Begründer der sogenannten Grenznutzenschule. er versuchte, mit Hilfe subjektiv-psychologischer Faktoren und mathematischer Methoden die Grundzüge eines geschloissenen, gegen den Marxismus gerichteten ökonomischen Systems zu formulieren.
4*. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand an den deutschen Universitäten eine bürgerlich-liberale Richtung in der Sozialpolitik, die versuchte, die Arbeiterklasse durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom revolutionären Klassenkampf abzuhalten. Der Kathedersozialismus bildete mit seiner sozialreformerischen und staatskapitalistischen Forderungen eine theoretische Grundlage des Revisionismus.
5*. Gemeint ist Gustav Schmoller als einer der führenden Vertreter des Kathedersozialismus, die bürgerlich-liberale Reformvorschläge als sozialistisch propagierten, mit dem Ziel, dem Einfluß der Sozialdemokratie entgegenzuwirken und den Marxismus ideologisch zu bekämpfen.
6*. „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer er sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, 1. Bd., S. 556.
Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019