MIA > Deutsch > Marxisten > Luxemburg
Leipziger Volkszeitung, Nr. 220, 22 September 1899.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Hbd., S. 555–558.
Kopiert von der webseite Sozialistische Klassiker, die leider nicht mehr on-line ist.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der Vorwärts antwortet auf unsere Forderung, er solle als Zentralorgan im Sinne der Gesamtpartei bei allen Meinungsverschiedenheiten auftreten [1*], daß er „die Pflicht, zu jeder auftauchenden taktischen Frage Stellung zu nehmen, durchaus anerkennt“.
Im Laufe des letzten Jahres sind in unserer Partei drei Hauptfragen aufgetaucht, die zu lebhaften Meinungsdifferenzen Anlaß gegeben haben. Es sind dies:
1. Die Theorien von Bernstein. Die gesamte Parteipresse hat sich damit befaßt, die gesamte gegnerische Presse hat das Thema aufgegriffen, das kleinste Provinzblättchen der Partei hat in dieser oder jener Weise zu dem Bernsteinschen Buch [2*] Stellung genommen. Das Zentralorgan und Berliner Parteiblatt Vorwärts hat bis jetzt mit keinem Sterbenswörtchen seine Stellung zu der Frage verraten.
Oder doch? In einem Eitle Hoffnungen überschriebenen Artikel vom 28. März bezeichnet der Vorwärts das ganze Jubelgeschrei der liberalen Presse, „Bernstein hätte sich ihrem bürgerlich reformparteilichen Standpunkt genähert“, als ein „unglaublich lächerliches Schachspiel“. Hätten diese bürgerlichen Biedermänner“, die „diese Komödie“ aufführten, das Bernsteinsche Buch nur einmal gelesen, „sie würden entdeckt haben, daß das Fundament und Endziel [Hervorhebungen – R.L.] der sozialdemokratischen Partei ... von Bernstein gar nicht angetastet wird“. Letzteres ist bekanntlich gerade das, was Bernstein und seine Anhänger behaupten. Und indem der Vorwärts seinerseits den Widerspruch, in den sich Bernstein zur Partei gesetzt hat, ableugnet, nimmt er hier, wenn auch verstohlen, für die Bernsteinsche Stellung Partei.
2. Die Schippelsche Stellungnahme zum Militarismus. [3*] Auch bei dieser Gelegenheit, wo die wichtigste Frage der Taktik zur Debatte stand, wo die Neue Zeit und die Provinzblätter der Partei in ausführlichster Weise den Gegenstand behandelten, hat das Zentralorgan auch nicht eine einzige Notiz gebracht, aus der man seine Stellung zur Frage ersehen konnte. Oder doch? Es hat sie indirekt dadurch ausgedrückt, daß es 1. bei der Wiedergabe der Schippelschen Äußerungen die markanteste, entscheidendste und am meisten angefochtene Stelle: die Schippelsche „Entlastungstheorie“ gänzlich verschwiegen hat; daß es 2. bei der Wiedergabe der Auseinandersetzung Kautskys mit Schippel [4*] über die Ansichten von Engels ihr in den Augen der Leser eine praktisch-politische Tragweite zu nehmen sich bemühte, indem er ihnen bloß einen „vorwiegend bibliographischen Charakter“ zuschrieb (Vorwärts vom 8. Februar); daß er 3. die Behandlung derselben Frage in der übrigen Parteipresse, so in der Leipziger Volkszeitung, auf die Schippel zweimal reagierte [5*], seinen Lesern gänzlich verschwiegen hat. Also auch diesmal keine offene Stellungnahme, aber eine Begünstigung des gröbsten Verstoßes gegen das Programm der Partei – in verstohlener Weise.
3. Die bayrischen Landtagswahlen. [6*] Auch diese Frage hat zu lebhaften Auseinandersetzungen in der Presse geführt, zum Teil im Vorwärts selbst. Genosse Liebknecht hat auch hier – aber nur für seine Person – das Vorgehen der bayrischen Genossen gebrandmarkt. [7*] Das Zentralorgan als solches hat bis zur Stunde keine Stellung zu der Frage genommen. Oder doch? Ja, indirekt, indem es die abfälligen Äußerungen in der deutschen Parteipresse, so in der Sächsischen Arbeiterzeitung, in der Leipziger Volkszeitung, deren Redaktionen noch Mitte Juli den Kuhhandel scharf kritisierten, seinen Lesern völlig verschwieg, dafür aber aus einer österreichischen nichtsozialdemokratischen Zeitschrift, der Wage, einen Artikel Vollmars auf das ausführlichste wiedergab – ohne ein Wort seinerseits.
Also auch hier keine offene Stellungnahme, wohl aber ein Vorschubleisten zugunsten des Opportunismus in verstohlener Weise.
Es sind treffliche Worte, die der Vorwärts da sagt, ihm sei von der Partei die Aufgabe gestellt, das was die Partei einige, zu vertreten. Nur versteht jedermann unter dem, was die Partei einigt, eben das von der Partei offiziell angenommene Programm und ihre offiziell akzeptierte und bewährte Taktik. Daß der Vorwärts diese nicht vertritt, haben wir an der Hand der Tatsachen gezeigt. Das Zentralorgan versteht aber unter dem, was die Partei „einigt“, offenbar einen Eiertanz zwischen einander widersprechenden Gesichtspunkten, dem im besten Falle die völlige Meinungslosigkeit zugrunde liegt. Und es sieht demgemäß mit Stolz die glänzendste Bestätigung, daß es „dieser Aufgabe nicht allzu unglücklich gedient“ hat, in der Tatsache, daß es niemanden in der Partei befriedigt hat, weder diejenigen, die von ihm die Vertretung des Parteiprogramms und der Parteitaktik fordern, noch diejenigen, die das Programm und die Taktik über den Haufen werfen wollen.
Das ist allerdings eine Glanzleistung des Vorwärts, um die ihn sogar der Großmeister im Eiertanz, Herr Lieber, beneiden könnte. Der Vorwärts vergißt aber, daß, während er geradezu die Pflicht hat, die „Unzufriedenheit“ derjenigen, die das Parteiprogramm und die Parteitaktik angreifen, zu erregen, es eine große Pflichtverletzung von ihm ist, wenn er den entgegengesetzten Wunsch, die Grundsätze der Gesamtpartei zu vertreten, nicht befriedigt.
Da das Zentralorgan auf diese Weise die Grundsätze der Partei von ihrem Gegenteil nicht zu unterscheiden vermag, so ist es nicht einmal imstande, die verschiedenen in der Partei auftauchenden Streitfragen auch nur auf ihren wirklichen Charakter zu schätzen. So kommt es dazu, die Agrarfrage, in der drei verschiedene Gesichtspunkte zum Ausdruck gekommen sind [8*] und die vor allem ein völlig neues, weder theoretisch noch praktisch erprobtes Gebiet der Parteitätigkeit behandelte, ferner die preußische Wahlbeteiligungsfrage [9*], die nach wiederholten Erklärungen aller Beteiligten keine prinzipielle, sondern bloß eine Zweckmäßigkeitsfrage war, diese beiden Fragen mit der Schippelschen Milizverhöhnung, mit der Bernsteinschen Verwerfung des Endzieles [10*], mit der bayrischen Abstimmung für das Zentrum auf eine Linie zu stellen.
Der Vorwärts bemerkt eben in jedem in der Partei auftauchenden Meinungsstreit nicht die Meinungen, sondern bloß den Streit. Die letzten Jahre des Parteilebens sind ihm bloß eine unterschiedslose Reihe von „Streitigkeiten“, wobei er als „leitendes Zentralorgan“ seine Mission in dem eifrigsten Einigungs- und Versöhnungsbemühen erblickt. Diese glaubt er aber in der Weise am wirksamsten zu erfüllen, daß er seinerseits zu all den Streitigkeiten – schweigt, wie wenn er tot und begraben wäre.
Aber es ist nur die bekannte Selbsttäuschung aller Ohnmacht, zu glauben, daß die unliebsame Erscheinung verschwindet, wenn man sich über sie ausschweigt. Tatsächlich verkehrt sich die Einigungspolitik des Vorwärts in ihr Gegenteil, in die Verschärfung der vorhandenen Gegensätze, und dies ist es, was uns verbietet, die Beschwichtigungsaktion unseres Zentralorgans nur von der komischen Seite zu nehmen.
Durch Vertuschung der Gegensätze, durch künstliche „Vereinigung“ unvereinbarer Ansichten, läßt man die Gegensätze nur zur vollen Reife gedeihen, bis sie früher oder später in einer Spaltung sich gewaltsam Luft verschaffen. Nicht wir verlangen, wie der Vorwärts sich ausdrückt, die „Abstoßung“ (wohl ein schüchterner Ausdruck für Ausstoßung) der opportunistischen Elemente, wir haben in der Leipziger Volkszeitung die nach unserer Meinung notwendigen Maßregeln deutlich genug dargelegt. [11*] Es ist umgekehrt die Versöhnungspolitik des Vorwärts, die in hohem Maße die Gefahren einer Spaltung heraufbeschwört. Wer die Spaltung in den Ansichten hervorkehrt und bekämpft, arbeitet für die Einigkeit der Partei. Wer die Spaltung der Ansichten vertuscht, arbeitet auf eine Spaltung der Partei hin.
Daß der Vorwärts übrigens, ohne zu den Fragen je klar und offen Stellung zu nehmen, doch im opportunistischen Fahrwasser schwimmt, beweisen wieder gerade seine eigenen Ausführungen. Denn indem er uns der Bestrebungen beschuldigt, die Partei durch Prinzipienstrenge auf eine „Sekte“ reduzieren zu wollen und an „scheinradikalem Gebahren“ Gefallen zu finden, wiederholt er ja Wort für Wort dieselben Vorwürfe, die Bernstein unserer Partei macht.
Aussöhnung aller Meinungsdifferenzen durch eigene Meinungslosigkeit und Verteidigung der Parteiprinzipien durch Verwischung der Prinzipienverstöße – diese seine Tätigkeit glaubt das Zentralorgan in den Worten formulieren zu können: „Der Vorwärts hat in allen Fragen treu zum Parteiprogramm gestanden!“
Vielleicht wollte der Vorwärts sagen: „treu zum Programm gelegen“? Die Partei braucht aber weder ein stehendes, noch ein liegendes, sondern ein vorwärts marschierendes Zentralorgan, und es ist zu hoffen, daß ihm der Parteitag in Hannover Beine machen wird.
1*. Im Vorfeld des Parteitags der SPD, der vom 9. bis 14. Oktober 1899 in Hannover stattfinden sollte, hatte Luxembuzrg und andere aus dem linken Flügel der Partei gefordert, dass Vorwärts, das Zentralorgan der Partei, aufhören sollte, eine neutrale Position in der Frage des Revisionismus und des Opportunismus zu nehmen.
2*. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.
3*. In seinem unter dem Namen Isegrim veröffentlichten Artikel War Friedrich Engels milizgläubisch? in den Sozialistischen Monatsheften, dem theoretischen Organ der Opportunisten, vom November 1898, versuchte Max Schippel, die revolutionäre antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie zu revidieren. Er vertrat die Schutzzollpolitik, die die großen Land- und Industriemonopolisten stärkte und die Interessengegensätze zwischen den Nationen vertiefte.
4*. Karl Kautsky antwortete auf dem obengenannten Artikel von Isegrim im Artikel Friedrich Engels und das Milizsystem, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 17. Jg. 1898/99, 1. Bd., S. 335–342; Max Schippel hat darauf geantwortet in einem mit dem eigenen Namen gezeichneten Aufsatz Friedrich Engels und das Milizsystem, in Die Nue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Nr. 19 u. 20, S. 580–588 u. 613–617.
5*. Ebenda – Zuschrift Schippels in der Leipziger Volkszeitung, Nr. 47 vom 25. Februar 1899.
6*. In de Wahlkreisen München I und Rheinpfalz hatten die Sozialdemokraten und das Zentrum eine gemeinsame Liste ihrer Wahlmänner für die Wahlen zum bayrischen Landtag am 17. Juli 1899 aufgestellt. Zwar konnte die Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate von 5 auf 11 erhöhen, dem Zentrum jedoch brachte dieses Bündnis die absolute Mehrheit im Landtag.
7*. Wilhelm Liebknecht: Kein Kompromiß. Kein Wahlbündnis, Berlin 1899.
8*. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1895 in Breslau hatten sich in der Diskussion über das Agrarprogramm verschiedene Auffassungen gegenübergestanden. Die Opportunisten, vertreten vor allem durch Max Quarck und Eduard David, leugneten die Tendenz zum Großbetrieb und damit die Möglichkeit und Notwendigeit sozialistischer Vergesellschaftung auf dem Lande. Dieser Auffassung trat besonders Karl Kautsky entgegen, der aber andererseits erklärte, daß als Bundesgenossen nur die proletarisierten Zwergbauern in Frage kommen würden. August Bebel wiederum erklärte, daß der Bauer für demokratische Ziele gewonnen werden kann. Die Mehrheit des Parteitages lehnte die Auffassung der Opportunisten in der Agrarfrage ab.
9*. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 9. Oktober 1897 in Hamburg hatten sich in der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen im wesentlichen zwei Auffassungen gegenübergestanden: Befürwortung und Ablehnung der Beteiligung. Die Mehrheit des Parteitages entschied sich für die Beteiligung an den Landtagswahlen mit der Maßgabe, keine Kompromisse oder Wahlbündnisse mit anderen Parteien einzugehen.
10*. „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialiasmus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, is mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein, Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in Die Neue Zeit, 16. Jg. 1987/98, 1. Bd., S. 556.
11*. Rosa Luxemburg, Mittel der Abhilfe, Leipziger Volkszeitung, Nr. 215, 16. September 1899.
Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019