Rosa Luxemburg

 

Reden auf dem Parteitag der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
in Hannover

(Oktober 1899)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hannover, 9. bis 14. Oktober 1899, S. 171–175 u. 265–267.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Hbd., S. 567–573 u. 574–576.
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I.

Rede in der Diskussion über Bernstein [1*]

11. Oktober 1899

Parteigenossen, es hieße Wasser ins Meer tragen, wollte ich nach dem vortrefflichen Vortrage des Genossen Bebel [2*] mich noch über die theoretische Seite der Frage verbreiten. Bebel hat diese Fragen so gründlich behandelt und soviel neues Tatsachenmaterial gegen Bernstein angeführt, daß es sich erübrigt, darüber mehr zu sagen. Einige Bemerkungen Davids, die zum Teil gegen mich gerichtet waren, veranlassen mich aber doch zur Antwort. Mit seinen Ausführungen, die die Landwirtschaft betrafen [3*], werde ich mich nicht befassen. Die Frage des Düngers spielte darin eine so große Rolle, daß ich unwillkürlich an jene Rede eines pommerschen Ökonomierates im landwirtschaftlichen Verein dachte, die da lautete: „Ich glaube, Sie werden mir alle zustimmen, wenn ich meine Ausführungen mit den Worten schließe: Mist ist die Seele der Landwirtschaft!“ (Große Heiterkeit und „Oho!“)

Die schwächste Seite in der theoretischen Auffassung Bernsteins und seiner Anhänger ist ihre Theorie von der sogenannten wirtschaflichen Macht, die sich die Arbeiterklasse erst im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung erwerben muß, bevor sie eine politische Revolution glücklich durchführen könne. Von seiten Davids und anderer Anhänger Bernsteins ist uns öfter Phrase und Vorliebe für die Schablone vorgeworfen worden. Gerade in der Frage der Eroberung der ökonomischen Macht ist auf jener Seite die Schablone und die Phrase, wie ich nachweisen werde.

Marx hat bekanntlich bewiesen, daß jeder politischen Klassenbewegung bestimmte wirtschaftliche Verhältnisse zugrunde gelegen haben. Marx hat dargelegt, daß alle bisherigen geschichtlichen Klassen, bevor sie zur politischen Macht gelangten, sich zur ökonomischen Macht aufgeschwungen haben. Diese Schablone wenden nun die David, Woltmann und Bernstein in sklavischer Weise auf die heutigen Verhältnisse an. Das beweist, daß sie weder das Wesen der früheren Kämpfe, noch das Wesen der heutigen Kämpfe verstehen.

Was heißt das: Die früheren Klassen, namentlich der dritte Stand, haben sich vor der politischen Emanzipation die wirtschaftliche Macht erobert? Nichts anderes, als die historische Tatsache, daß alle bisherigen Klassenkämpfe auf die wirtschaftliche Tatsache zurückzuführen waren, daß eine neu aufstrebende Klasse zugleich eine neue Form des Eigentums geschaffen hatte, auf der sie schließlich ihre Klassenherrschaft begründete. Der Kampf des Handwerkers gegen den städtischen Adel im ersten Teil des Mittelalters beruhte darauf, daß er gegenüber dem im Grund und Boden bestehenden Eigentum des Adels eine neue Form des Eigentums geschaffen hatte, das auf der Arbeit beruhte. Das war eine neue wirtschaftliche Schöpfung, die schließlich die politischen Fesseln sprengte und die Überreste des bedeutungslos gewordenen feudalen Eigentums nach seinem Urbild umbildete. Dasselbe wiederholte sich am Ende des Mittelalters, als der Mittelstand seinen Kampf gegen den Feudalismus führte, als das neue kapitalistische Eigentum geschaffen wurde, das auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruhte und schließlich den dritten Stand auch politisch zur Herrschaft brachte.

Nun frage ich: kann man diese Schablone auf unsere Verhältnisse übertragen? Nein. Gerade die, die von der wirtschaftlichen Macht des Proletariats faseln, übersehen die große Verschiedenheit zwischen unseren und allen früheren Klassenkämpfen. Die Behauptung, das Proletariat führt im Gegensatz zu den früheren Klassenkämpfen seinen Klassenkampf nicht, um eine Klassenherrschaft zu begründen, sondern alle Klassenherrschaft abzuschaffen, ist keine Phrase. Das hat seinen Untergrund darin, daß es keine neue Form des Eigentums schafft, sondern nur das von der kapitalistischen Wirtschaft geschaffene kapitalistische Eigentum ausbildet, indem dieses in den Besitz der Gesellschaft übergeführt wird. Es ist also eine Illusion zu glauben, das Proletariat könne schon innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die wirtschaftliche Macht sich verschaffen; es kann nur die politische Macht sich verschaffen und dann das kapitalistische Eigentum aufheben. Bernstein beschuldigt Marx und Engels, das politische Schema der großen französischen Revolution auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Er und die anderen Anhänger der „wirtschaftlichen Macht“ übertragen aber das ökonomische Schema der Großen Französischen Revolution auf den proletarischen Kampf.

David hat eine ganze Theorie der Aushöhlung des kapitalistischen Eigentums dargelegt. Ich weiß nicht, ob seine Auffassung des sozialistischen Kampfes tatsächlich zu einer Aushöhlung führt; ich zweifle stark daran. Aber es ist zweifellos, daß eine solche Auffassung eine Aushöhlung unserer Köpfe voraussetzt. (Heiterkeit, Unruhe)

Ganz vom Standpunkt dieser wirtschaftlichen Macht betrachten David und die Anhänger Bernsteins unsere Stellung zu den Gewerkschaften und Genossenschaften. Man wirft uns vor, daß wir sie als ein notwendiges Übel betrachten. Nun, ich bin überzeugt, daß unter uns, auch unter den sogenannten Politikern, wie sich diejenigen ausdrücken, die künstlich eine Scheidung in Politiker und Gewerkschaftler herbeiführen wollen, sich nicht ein einziger Genosse findet, der sich nicht darüber klar wäre, daß auf dem Gebiete der Gewerkschaften in Deutschland das meiste erst zu geschehen hat, und daß wir alle unsere Kräflce in den Dienst dieser Aufgabe stellen müssen. Jeder von uns ist klar darüber, daß, wenn man uns den gewerkschaftlichen Kampf nehmen oder sich nicht weiter entwickeln würde, auch der politische darunter aufs schwerste leiden müßte; denn die erste Voraussetzung ist die Erziehung der breiten Masse zum Klassenkampf und der gewerkschaftliche Kampf ist das vorzüglichste Mittel dazu. Aber in gewisser Beziehung haben diejenigen, die uns einer halben Freundschaft zu den Gewerkschaften beschuldigen, vielleicht recht, namentlich wenn sie darunter die Förderung von Illusionen in bezug auf die Gewerkschaften verstehen. Ja, wenn Sie die Sache so darstellen wollen, als wären die Gewerkschaften nicht nur ein Mittel, die Arbeiter in den Klassenkampf zu ziehen, sie aufzuklären und ihre heutige Lage zu bessern, wenn Sie es so verstehen, daß die Gewerkschaften auch unmittelbar dazu dienen, das kapitalistische Eigentum in sozialistisches zu verwandeln, es auszuhöhlen, dann dürfen wir nicht nur, sondern wir müssen einer solchen Auffassung unsere Unterstützung versagen. („Sehr richtig!“) Es gibt keinen größeren Feind der Arbeiterklasse in ihrem Kampf, als ihre eigenen Illusionen. Im Grunde genommen sind die, die eine solche Auffassung vertreten, gar nicht Freunde der Gewerkschaften, denn sie arbeiten notwendig auf eine spätere Enttäuschung hin.

Noch falscher ist die Auffassung jener Richtung in bezug auf die Genossenschaften. Ich will hier nur einige Bernerkungen äußern. Es ist Mode geworden, die Genossenschaften auf eine Linie mit den Gewerkschaflcen, ja mit dem politischen Kampf zu stellen. Nein, die Genossenschaften stehen auf einem ganz anderen Blatt. Wenn wir auch gänzlich von ihrer positiven Bedeutung, ihrer Tragweite für die Arbeiterklasse absehen, eins steht fest: die Genossenschaften sind kein Klassenkampf. („Sehr richtig!“)

Zweitens: Diejenigen, die sich einbilden, die Gnossenschaften seien heute schon ein Keim der sozialistischen Ordnung, vergessen noch einen wichtigen Faktor in den heutigen Verhältnissen, die Reservearmee. Selbst, wenn wir voraussetzen, daß die Genossenschaften allmählich alle kapitalistischen Unternehmen verdrängen und sich an ihre Stelle setzen, so können wir unmöglich die phantastische Annahme haben, daß bei Beibehaltung der heutigen Marktverhältnisse ohne einen allgemeinen Plan die Produktionsverhältnisse der Nachfrage auf dem Markte angepaßt werden könnten; die Frage der Reservearmee würde nach wie vor offen bleiben.

Und noch eins. Ich weiß nicht, welche Genossenschaften man sich als Ideal vorstellte, als abstraktes Schema. Ich weiß nur, daß die englischen Genossenschaften, die bis jetzt als Muster der genossenschaftlichen Bewegung aufmarschieren, in ihrem produktiven Teil durchaus nicht das sozialistische Ideal darstellen (Zuruf: „Unser Muster sind die belgischen!“) Auf dem Trade Unions-Kongreß [4*] beantragte eine Schneidergewerkschaft, das parlamentarische Komitee der Gewerkschaften möchte sich ins Einvernehmen mit den Korporationen setzen, um die Genossenschaften zur Beobachtung der vom parlamentarischen Komitee aufgestellten Lohn- und Arbeitsbedingungen anzuhalten – also die kapitalistische Ausbeutung ist durchaus nicht beseitigt.

Im Zusammenhang mit dieser wirtschaficlichen Auffassung steht die Theorie der Bernsteinschen Richtung über die allgemeine Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft. Es erübrigt sich tatsächlich nach der Rede Davids jede ausführliche Widerlegung dieses Gedankens. Denn er hat ja unter anderem auch die Tarifgemeinschaft als eine teilweise Sozialisierung des Kapitalismus angeführt. Jene Genossen stellen sich offenbar die Sache so dar: Die ganze praktische Politik bleibt so wie bis jetzt, nur vielleicht unter größerer Berücksichtigung der Genossenschaften, und dann macht man es sich sehr bequem: man klebt darauf das Etikett Sozialismus und dieser ist fertig! Man vergißt nur, daß, wie Engels gesagt hat, wenn man auch die Kleiderbürste unter die Säugetiere klassifiziert, sie noch lange keine Milchdrüsen bekommt. (Heiterkeit. Zuruf: „Das ist aber sehr wahr!“)

Noch eine Bemerkung über die sogenannte Zusammenbruchstheorie. Natürlich, wenn wir alles, was wir heute schon machen, Sozialismus nennen, wäre es ja völlig überflüssig, noch einen Zusammenbruch herbeizuführen. Aber die Genossen, die eine so verrückte Auffassung (Fendrich ruft: „Würde!“ – Glocke des Präsidenten) – verzeihen Sie, ich habe es nicht beleidigend gemeint, „verkehrte“ wollte ich sagen. Die Genossen, die eine so verkehrte Auffassung vom Sozialismus haben, fassen die Evolutionstheorie nur so auf, daß sie eine kleine Korrektur an der dialektischen Geschichtsauffassung vornehmen und die Geschichte ist wieder sehr glatt und hübsch gelöst. Aus der Evolutionstheorie wie sie Marx und Engels auffassen, scheiden sie den Begriff der Zusammenbrüche, der sozialen Katastrophen und bekommen auf diese Weise einen sehr angenehmen Begriff von der Evolution, wie sie ein Herr Brentano auffaßt. Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, so sehen wir, daß alle bisherigen Klassenkämpfe nur in der Weise verlaufen sind, daß die aufstrebende Klasse im Schoße der alten Gesellschaft durch kleine Fortschritte, gesetzliche Reformen, allmählich immer mehr erstarkte und wuchs, bis sie sich stark genug fühlte, die alten Fesseln abzustreifen, durch eine soziale und politische Katastrophe. Dazu waren sie genötigt, trotzdem sie bereits im Schoße der alten herrschenden Klasse bis zur höchsten Potenz ihre wirtschaftliche Macht entwickeln konnten. Das wird aber zehnmal mehr für uns zur Notwendigkeit. Die Genossen, die glauben, in Ruhe, ohne Kataklysmus, die Gesellschaft in den Sozialismus hinüberleiten zu können, stehen durchaus nicht auf historischem Boden. Wir brauchen durchaus nicht in der Revolution Heugabeln und Blutvergießen zu verstehen. Eine Revolution kann auch in kulturellen Formen verlaufen, und wenn je eine dazu Aussicht hatte, so ist es gerade die proletarische; denn wir sind die Letzten, die zu Gewaltmitteln greifen, die eine brutale Revolution herbeiwünschen könnten. Aber solche Dinge hängen nicht von uns ab, sondern von unseren Gegnern („Sehr richtig!“), und die Frage der Form, in der wir zur Herrschaft gelangen, müssen wir vollkommen ausscheiden; daß sind Fragen der Umstände, über die wir heute nicht prophezeien können. Es kommt uns nur auf das Wesen der Sache an, und das besteht darin, daß wir eine gänzliche Umbildung der herrschenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung erstreben, die nur durch Ergreifung der Staatsgewund niemals auf dem Wege der sozialen Reform im Schoße der heutigen Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Diejenigen, die sich dieser Hoffnung hingeben, stellen sich auf den Standpunkt, auf den sich nur Ignoranten in bezug auf die Vergangenheit und Optimisten in bezug auf die Zukunft stellen können.

Jetzt eine andere, mehr praktische Frage. Bebel hat sechs Stunden in glänzender Weise gegen Bernstein polemisiert. Ich frage: Wäre das geschehen, wenn wir voraussetzen könnten, daß Bernstein der einzige in unseren Reihen ist, der diese Theorien vertritt, wenn die Meinungsverschiedenheiten nicht aus dem Bereich der abstrakten Theorien herausgekommen wären? Wir sind eine praktische, politische Kampfpartei und wäre nichts weiter vorgekommen als eine theoretische Abweichung von der übrigen Parteiauffassung bei einem Manne, mag er noch so verdient und bedeutend sein, eine solche Bebelsche Rede wäre nicht gehalten worden. Aber wir haben in unserer Partei eine Anzahl Genossen, die auf demselben Standpunkte stehen, und die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich nicht nur auf die Theorie, auf Abstraktion, sondern auch auf die Praxis. Es ist eine altbekannte Tatsache, daß wir seit etwa einem Jahrzehnt in unseren Reihen eine ziemlich starke Strömung haben, die im Geiste der Bernsteinschen Auffassung dahin streben, unsere jetzige Praxis bereits als Sozialismus hinzustellen und so – natürlich unbewußt! – den Sozialismus, den wir erstreben, den einzigen Sozialismus, der keine Phrase und Einbildung ist, zur revolutionären Phrase zu machen – Bebel hat mit Recht wegwerfend gesagt, daß die Auffassungen Bernsteins so verschwommen, deutungsvoll sind, daß man sie nicht in einen festen Rahmen fassen kann, ohne daß er sagen kann, ihr habt mich mißverstanden. Früher schrieb Bernstein nicht so. Diese Unklarheit, diese Widersprüche hängen nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Richtung, mit dem Inhseiner Ausführungen zusammen. Wenn Sie die Parteigeschichte seit zehn Jahren verfolgen, namentlich die Parteitagsprotokolle studieren, so sehen Sie, daß die Bernsteinsche Richtung allmählich erstarkt ist, aber noch durchaus nicht zur Reife gelangt ist; ich hoffe, daß sie es nie wird. In ihrem jetzigen Stadium kann sie gar nicht über ihr eigenes Wesen klar sein, gar nicht die richtige Sprache für ihre Tendenz finden. So ist die Bernsteinsche Unklarheit zu erklären. Wie diese Bernsteinsche Richtung dazu führt, daß unser Sozialismus ein Mumpitz wird, dafür nehmen Sie ein kleines Beispiel aus den allerletzten Tagen. In einer Versammlung in München, die Stellung zu dem heutigen Parteitag nehmen sollte, hat ein Redner [5*], indem er auf den Fall Schippel einging, folgendes gesagt: Schippel sprach über die Miliz, während unser Programm über die Volkswehr spricht – eine Unterscheidung, für die mir jeder Sinn fehlt; doch das ist nebensächlich. Dann sagt er: Zugunsten Schippels läßt sich das sagen, daß der eigentliche Sinn dieses Passus unseres Programms nur besagt, daß wir für die Gegenwart auf eine Verkürzung der Dienstzeit hinarbeiten müssen! Ich will in die Milizdebatte der nächsten Tage nicht vorgreifen sondern führe das nur an zur Charakteristik der Methode. Unser Minimalprogramm hat einen ganz bestimmten Sinn. Da wir wissen, daß der Sozialismus sich ohne weiteres, wie aus der Pistole geschossen, nicht durchführen läßt, sondern nur dadurch, daß wir in einem hartnäckigen Klassenkampfe auf wirtschaftlichem und politischem Boden von der bestehenden Ordnung kleine Reformen erreichen, um uns wirtschaftlich und politisch immer besser zu stellen und die Macht zu erhalten, endlich der heutigen Gesellschaft das Genick zu brechen, sind unsere Minimalforderungen nur auf die Gegenwart zugeschnitten. Wir akzeptierten alles, was man uns gibt, aber fordern müssen wir das ganze politische Programm. („Sehr richtig!“) Der Genosse in München aber hat an Stelle des Punktes 3, welcher ausdrücklich die Forderung der Miliz enthält, die Forderung der Verkürzung der Dienstzeit als die praktische Forderung der Partei hingestellt. Wenn wir auf diese Weise einen geringen Teil aus unserem Minimalprogramm zu unserem eigentlichen wirklichen Minimalprogramm machen, dann wird das, was wir jetzt als Minimalprogramm betrachten, zum Endziel, und unser wirkliches Endziel scheidet gänzlich aus dem Bereich der Wirklichkeit und wird tatsächlich zur „revolutionären Phrase“. (Lebhafter Beifall)

II.

Rede in der Diskussion über den Militarismus [6*]

13. Oktober 1899

Die Rede Schippels, besonders im ersten Teil, war eine Verteidigung des Militarismus, wie sie ein Kriegsminister ganz gut einer Militärvorlage beilegen könnte. [7*] (Heiterkeit) Mir wurde hier mehrfach vorgeworfen, ich wäre in einer so unerwartet milden Weise aufgetreten, ich hätte mit einer so herzgewinnenden Milde gesprochen. Das kommt daher, weil ich allgemeinen theoretischen Debatten in bezug auf den Opportunismus nicht allzuviel praktische Bedeutung beimesse. Wichtig ist für mich die Bekämpfung der konkreten Erscheinungen des Opportunismus, und als solchen betrachte ich vor allem die Stellung Schippels zum Militarismus. Für mich und auch für die Partei heißt es: Hic Rhodus, hic salta! Hier soll Schippel Rede und Antwort stehen.

Genosse Geyer hat gesagt, wenn wir auf unsere bisherige prinzipielle Gegnerschaft gegen den Militarismus verzichten, so würde das unseren Kampf sehr in die Länge ziehen. Nein, ich glaube, wenn wir auf den Kampf gegen den Militarismus in der bisherigen Form verzichten, dann können wir überhaupt einpacken, dann hören wir überhaupt auf, eine sozialdemokratische Partei zu sein. („Sehr wahr!“) Der Militarismus ist der konkreteste und wichtigste Ausdruck des kapitalistischen Klassenstaates; und wenn wir den Militarismus nicht bekämpfen, dann ist unser Kampf gegen den kapitalistischen Staat nichts als eine leere Phrase. (Beifall) Ich will hier nicht auf den Ton der Schippelschen Artikel [8*] und auch nicht auf das Pseudonym eingehen. Ich glaube, er ist dafür schon genügend durch den maliziösen Druckfehlerteufel getroffen, denn, wie Sie bereits bemerkt haben werden, heißt es in dem Antrag Mergner, der seinen Ausschluß verlangt, Schippel habe sich gegen die Erziehung zur allgemeinen Wahrhaftigkeit schwer vergangen. (Heiterkeit) Es soll natürlich „Wehrhaftigkeit“ heißen. Ich will auch nicht auf die technische Seite der Milizfrage eingehen. Schippel sagt, Kautsky verstehe in diesen Dingen nicht einmal das Abc. Als ich das hörte, erschrak ich furchtbar, denn wie muß es um eine Partei bestellt sein, deren theoretischer Vertreter von einer der wichtigsten praktischen und theoretischen Fragen nicht einmal das Abc versteht! („Sehr gut!“) Wenn eine so hohe Bildung nötig ist, um die Milizforderung zu begreifen, daß nicht einmal ein Kautsky sich dazu emporschwingen kann, wie soll dann die Masse der Proletarier dies Postulat verteidigen! Ich betrachte eben die ganzen breiten Erörterungen Schippels über die technischen Fragen als ein Ablenkungsmittel, um unsere Aufmerksamkeit von der wichtigsten – der politischen Seite abzuwenden. Wir brauchen uns auf technische Einzelheiten schon deshalb nicht einzulassen, weil uns keine konkrete Vorlage zur Einführung der Miliz beschäftigt. Wenn wir eine solche Vorlage haben, würden wir einc Neunerkommission wählen, die darüber zu beraten hätte. (Heiterkeit) Heute gilt es für uns, das Postulat in seiner allgemeinen Form aufzustellen und besonders auf seine politische Seite Nachdruck zu legen. Mit dem Argument, daß der Verteidigungskrieg sich notwendig in einen Angriffskrieg verwandelt und wir dazu stehendes Heer brauchen, hat sich Schippel wieder auf den Boden der üblichen Argumentation der deutschen Regierung gestellt, die den Angriff bloß als eine Form der Verteidigung hinstellt. Es würde Schippel schwerfallen zu beweisen, daß das Milizsystem zur wirklichen Verteidigung in allen Formen nicht noch besser zu brauchen ist als die stehenden Heere.

Schippel hat in seinen Artikeln ausdrücklich hervorgehoben, daß der Militarismus eine wirtschaftliche Entlastung für uns sei, und heute hat er nachzuweisen gesucht, daß die Miliz jedenfalls keine wirtschaftlidte Entlastung wäre. Die Zahlennachweise Schippels erscheinen mehr als zweifelhaft, aber selbst wenn die Miliz uns ebensoviel kosten würde wie der Militarismus, so könnten wir doch ruhig mit den beiden Händen für die Miliz stimmen, denn dann geben wir wenigstens unser Geld aus, um dafür ein Mittel der Verteidigung nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern auch gegen die inländischen Unterdrücker zu haben, dem Militarismus bringen wir aber die Geldopfer zu dem Zwecke, damit man uns erwürgt und unterdrückt. („Sehr gut!“)

Schippel ist ja nicht der einzige; ich verweise nur auf die Auersche Äußerung in Hamburg [9*], auf Heine [10*] und auf Vollmars letzte Rede in München. [11*] Ich begreife nicht, wie jemand, der den Militarismus technisch für unentbehrlich und wirtschaftlich für eine Entlastung hält, so unlogisch ist, gegen die Militärausgaben zu stimmen. Da bleibt doch nur übrig, daß jene Genossen entweder früher oder später die Militärforderungen bewilligen, oder aber, daß sie ihren Standpunkt verlassen und sich auf den Boden unserer Milizforderung stellen. Jetzt allerdings lehnen sie die Militärforderungen noch ab, aber wenn ihre Auffassungen mehr an Boden gewonnen haben, dann werden sie schließlich auch für die Militärvorlagen stimmen. (Unruhe, Widerspruch und Zustimmung.)

Einige Genossen haben gefragt, ja, wo ist der Opportunismus, von dem ihr gesprochen habt? Nun Genossen, in den Äußerungen Schippels, Heines, Vollmars über den Militarismus haben Sie die beste Antwort. Dort ist der Opportunismus in der krassesten Form zum Ausdruck gekommen. Dagegen müssen wir vorgehen. Bitte, nehmen Sie meinen Antrag an, der die Schippelsche Auffassung zurückweist, und antworten Sie dadurch Schippel mit denselben Worten, die er uns zugerufen hat:

„Fort mit dem Brei,
Ich brauch’ ihn nicht!
Aus Bappe schmied’ ich kein Schwert!“
(Beifall, Unruhe)

Anmerkungen

1*. Redaktionelle Überschrift – in den Gesammelten Werken hat die Redaktion dem Stück den Titel Rede Über die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft gegeben.

2*. August Bebel hatte das Referat zum Tagesordnungspunkt die Angriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei gehalten, in dem er die revisionistischen Anschauungen Bernsteins zurückwies und die politische Selbständigkeit der deutschen Sozialdemokratie als Klassenorganisation des Proletariats verteidigte.

3*. Eduard David hatte in der Diskussion die revisionistischen anschauungen Eduard Bernsteins verteidigt und u.a. behauptet, in der Landwirtschaft seien die Kleinbbetriebe rentabler als die Großbetriebe und deshalb gäbe es dort keine Entwicklung vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb.

4*. Der 32. Kongreß der Gewerkschaften Großbritanniens fand anfang September 1899 in Plymouth statt.

5*. Gemeint ist Georg von Vollmars, der in dieser Versammlung Ende September 1899 u.a. die opportunistische Anschauungen Max Schippels und Eduard Bernsteins verteidigt hatte.

6*. Redaktionelle Überschrift – in den Gesammelten Werken hat die Redaktion dem Stück den Titel Rede über die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Militarismus gegeben.

7*. Max Schippel hatte in einer längeren Rede versucht, die antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie zu revidieren, und sich besonders gegen die Milizforderung ausgesprochen.

8*. Isegrim [eigentlich Max Schippel], War Friedrich Engels milizgläubisch?, Sozialistische Monatshefte, November 1898; Max Schippel, Friedrich Engels und das Milizsystem, Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Nr. 19 u. 20.

9*. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 9. Oktober 1897 hatte Ignaz Auer den Vorstoß Max Schippels gegen die antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie unterstützt.

10*. Wolfgang Heine hatte in einer Rede am 10. Februar 1898 im dritten Berliner Reichstagswahlkreis die opportunistische Auffassung vertreten, die Sozialdemokratie könne einer preußisch-junkerlichen Regierung Militärforderungen für „Volksfreiheiten“ bewilligen. Mit diesem Kompromiß wollte heine den antimilitaristischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie revidieren.

11*. Siehe Fußnote 5*.


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019