Rosa Luxemburg


Die „deutsche Wissenschaft“ hinter den Arbeitern

(September 1900)


Die Neue Zeit, 1899/1900, Nr. 51, 12. September 1900 und Nr. 52, 19. September 1900.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Berlin 1982, Bd. 1, 1. Hbd., S. 767–790.
Aus dem Polnischen.
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Ein neuer Prophet ist der deutschen Arbeiterklasse erstanden. Der außerordentliche Professor Werner Sombart in Breslau verkündet dem deutschen Proletariat das Evangelium der Hoffnung und des Glaubens. [1*] Er lehrt euch, „meine Herren Arbeiter“, ganz wie ein Lassalle, „aus der Vogelschau“ einer neuen „richtigen“, „realistischen“, „historischen“ Methode das Gebiet der Arbeiterfrage erforschen, er versichert euch, daß „die deutsche Wissenschaft“ hinter euch stehe und bittet euch, „gemeinsam frohen Mutes weiter zu streben und weiter zu kämpfen, gemeinsam die Sache sozialen Fortschritts zu vertreten und vorauszuschreiten auf der Bahn der Kultur: zum Nutz und Frommen unseres geliebten deutschen Vaterlandes, zum Stolze der Menschheit!“ (Dennoch!, S. 95)

„Weiter“ – „gemeinsam“ – klingt eigentlich etwas seltsam, denn bis jetzt hat die deutsche Arbeiterklasse mit Herrn Sombart ziemlich wenig gemeinsam zu streben und zu kämpfen das Vergnügen gehabt. Sie kämpfte freilich, als Herr Sombart noch in seinen Windeln trocken gelegt wurde, zum Nutz und Frommen des deutschen Vaterlandes und zum Stolze der Menschheit, und sie vertritt die Sache des sozialen Fortschritts durch Streben und Kämpfen seit bald einem halben Jahrhundert, während das Streben und Kämpfen des Herrn Sombart etwas jüngeren Datums ist.

Das sind aber schließlich kleine Ungenauigkeiten, die im feurigen Redestrom wohl unterlaufen können. Schenken wir dem neuen Propheten seine rhetorischen Blüten und hören wir mit Andacht, was die richtige, realistische, historische Methode, was die „deutsche Wissenschaft“ hinter uns über die Aufgaben der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu sagen hat.

I

„Zunächst: eine Steigerung der Anteile der Arbeiter am Nationaleinkommen ist nicht in irgendwelche naturgesetzliche Schranken, deren Erweiterung außer allem Machtbereich der Arbeiter selbst stände, eingeschlossen“ („Dennoch!“ S.70). Die Wissenschaft hat zwar früher die sogenannte Lohnfondstheorie, das eherne Lohngesetz, aufgestellt, die in der Bewegung der Löhne feste ökonomische Gesetze entdecken wollten. Herr Sombart widerlegt aber beide spielend, um so mehr als sie schon vor Jahrzehnten von Marx begraben worden sind. Namentlich verkehrt er aber das Ricardo-Lassallesche Lohngesetz in seinen Schlußfolgerungen in das Gegenteil, und zwar durch eine neue Deutung des Lassalleschen „gewohnheitsmäßigen“ Lebensniveaus der Arbeiter. „Mit der Einführung des Wortes ‚gewohnheitsmäßig‘ war das gefürchtete Gesetz zu einer harmlosen Tautologie geworden“ (ebenda, S. 71). Denn sobald die „Gewohnheit“ die durchschnittliche Höhe des Lohnes bestimmt, so besteht nach Herrn Sombart der einfache Witz nur darin, die höchstmöglichen Ansprüche der Arbeiter (z. B. das Fahren auf Gummirädern) zu „gewohnheitsmäßigen“ zu machen, und die Löhne schnellen wie ein Pfeil in die Höhe. „Zu machen“, wiederholt Herr Sombart: „in diesen Worten soll gegenüber der Auffassung von einer mechanischen Lohnbildung die ... richtige, soziale Betrachtungsweise zum Ausdruck gebracht werden. Jene Betrachtungsweise nämlich, die in der Verteilung des Nationaleinkommens das Ergebnis eines Kampfes zwischen verschiedenen Reflektantengruppen erblickt, eines Kampfes, dessen Ausgang nicht von der äußerlich sichtbaren und ziffermäßig ausdrückbaren Lage des Waren- und Arbeitsmarktes, sondern ebensosehr von den anderen die Machtstellung der Parteien bestimmenden Faktoren abhängig zu denken ist“ (ebenda, S. 71). [2*]

Es geht aber bei diesem Verteilungskampf, wie wir einige Seiten weiter erfahren, eigentlich sehr friedlich zu. Denn die „deutsche Wissenschaft“ bringt es fertig, allen zu geben und niemand zu nehmen, die Arbeiter zu bereichern, ohne die Kapitalisten ärmer zu machen.

Einerseits können nämlich die Arbeiter, wie wir soeben gesehen, ihren Anteil am Nationaleinkommen „jederzeit“ auf Kosten des Mehrwerts im weiteren Sinne steigern. Andererseits aber „braucht in allen Fällen der Profit des Unternehmers trotz gesteigerter Löhne keine Verringerung zu erfahren“ (ebenda, S. 80). Den „genialen Unternehmern und königlichen Kaufleuten“ rät Herr Sombart nämlich, wenn die Löhne in die Höhe gehen, die Produktion zu erweitern oder die Technik des Betriebs zu verbessern, oder aber, was das einfachste: die Warenpreise zu erhöhen und so das den Arbeitern gemachte Zugeständnis auf die Konsumenten abzuwälzen. Aber auch das konsumierende Publikum geht bei der „deutschen Wissenschaft“ nicht leer aus: für das Publikum hat Herr Sombart erstens den Trost, daß ja ein Lohnkampf nicht immer zu gelingen brauche („wenn etwa rechtzeitig Ersatzmänner beschafft werden“! ebenda, S.84), und zweitens, falls durch Lohnkämpfe die Waren teurer werden, „die Genugtuung“, durch Ankauf teurer Waren auf die „vornehmste, weil am wenigsten kränkende Weise“ den Ausgleich sozialer Gegensätze herbeigeführt zu haben. Am meisten rechnet der Herr Professor dabei mit Recht auf „Frauenherzen“, besonders auf verlobte. „Sollte es der glücklichen Braut etwa schwer werden, für ihre Wäscheausstattung statt zehntausend Mark zehntausendfünfhundert zu bezahlen“, um eine Lohnerhöhung der armen Näherinnen zu decken? (ebenda, S.83). Gewiß ist am ehesten ein junges Mädchen im Brautstand für die einzig „richtige“, „realistische“, „historische“ Methode der Nationalökonomie zugänglich, und so sind denn die letzten Schwierigkeiten der Gewerkschaftsbewegung beseitigt.

Da aber selbst die Sonne ihre Flecken und das schönste Gesicht oft ein Leberfleckchen oder eine andere Unvollkommenheit hat so hat auch die kapitalistische Gesellschaft ihre „Unvollkommenheit“: die Krisen. Jedoch Herr Sombart hält auch gegen Krisen ein Mittel bereit: es ist dies wieder – die Gewerkschaftsbewegung. „Während sie nämlich, wie wir sehen, der großen historischen Mission des Kapitalismus: die ökonomischen Produktivkräfte zu entwickeln, keine Hindernisse bereitet, sondern ihr eher förderlich ist, eignet sie sich auf der anderen Seite dazu, Unvollkommenheiten dieses selben kapitalistischen Wirtschaftssystems auszugleichen ... Woran ich zunächst dabei denke, ist die Sicherung gegen Störungen im verkehrswirtschaftlichen Mechanismus, gegen Krisen(ebenda, S.86/87).

Der „geniale Unternehmer“, der seine Konzessionen an die Arbeiter auf das Publikum abgewälzt hat, findet zum Lohne für diese Tugend auch noch vermehrten und gesicherten Absatz.

Und so wickelt sich alles zur allgemeinen Zufriedenheit ab: die Gewerkschaftler haben höhere Löhne, die Unternehmer den alten Profit und größeren Absatz, die Braut ein gutes Gewissen und den Bräutigam, und Herr Professor Sombart die Popularität. Der ganze wissenschaftliche Ballast eines Ricardo, Lassalle und Marx ist über Bord und das flinke Fahrzeug der „realistischen“ Methode „segelt bei günstigem Winde in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Vogue la galère!“ [Es schwimme das Schiff!]

Wenn es nur nicht unter die Walkmühlen gerät, wie weiland die Galeere des anderen tapferen Ritters von der Mancha.

Wenn die klassische Schule der Nationalökonomie die Bewegung des Lohnes auf naturgesetzliche Erscheinungen, auf das Bevölkerungsgesetz und die absolute Größe des Produktionskapitals zurückführte, so verfuhr sie dabei nur konsequent nach ihrer Grundmethode: die Schranken der bürgerlichen Gesellschaft mit gesellschaftlichen Naturschranken zu identifizieren. Und die historisch-dialektische Kritik der klassischen Nationalökonomie – die von Marx gelöste Aufgabe – bestand hier wie meistens in der Rückübersetzung der „Naturgesetze“ in Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft.

Die ganze kapitalistische Wirtschaft, also vor allem auch der Ankauf der Arbeitskraft, hat zum Zwecke: die Produktion von Profit. Die bestimmte Profitrate als Zweck der Produktion geht also der Mietung von Arbeitern als Gegebenes voraus und bildet zugleich im Durchschnitt die oberste Schranke, bis zu der die Löhne steigen können. Dem Profit wohnt aber auch die Tendenz inne, sich auf Kosten des Arbeitslohns schrankenlos auszudehnen, d. h. ihn auf das nackte Existenzminimum zu reduzieren. Zwischen diesen äußersten Punkten bewegt sich der Lohn hinauf oder herunter je nach dem Verhältnis des Angebots zur Nachfrage, d. h. der disponiblen Arbeitskräfte zur Größe des produktionslustigen Kapitals.

Aber in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft stellt sich das Angebot als industrielle Reservearmee, d. h. eine stets vorrätige Menge Arbeitskräfte dar, die durch dasselbe Kapital „frei“ gemacht wurden. Und die Nachfrage ist nichts anderes als diejenige Portion des Kapitals, die bei einer bestimmten Profitrate von der gegebenen Lage auf dem Warenmarkt zur Produktion „ermuntert“ wird.

Man sieht, sowohl die durchschnittliche äußerste Grenze der Lohnsteigerung, wie ihre höhere oder niedrigere Stufe werden von Faktoren bestimmt, die alle in letzter Linie auf dasselbe, auf die Profitinteressen oder, wie Marx sagt, auf das „Verwertungsbedürfnis“ des Kapitals hinauslaufen.

Sind die Gewerkschaften imstande, sich über diese Schranken des Lohngesetzes hinwegzusetzen? „Naturgesetzlich“ sind diese Schranken allerdings nicht, das hat Herr Sombart richtig von Marx gelernt. Allein innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft wirken sie mit der ganzen Fatalität des Naturgesetzes, weil sie die Natur, das Gesetz selbst des Kapitalismus sind.

Könnten die Gewerkschaften zum Beispiel den Unternehmerprofit als äußerste Grenze der Lohnsteigerung durchbrechen, so hieße das den heutigen Zweck der Produktion und damit den Grundstein des kapitalistischen Systems beseitigen.

Könnten sie desgleichen die Reservearmee aus der Welt schaffen oder ihr ständiges Wachstum beschränken, dann brächten sie es damit fertig, den Proletarisierungsprozeß einzudämmen, d. h. sowohl das natürliche Ergebnis wie die gesellschaftliche Voraussetzung der kapitalistischen Produktion zu vernichten.

Dies bezieht sich aber alles auf die Bewegung des Reallohns des Arbeiters. Was seinen Anteil am gesellschaftlichen Einkommen betrifft, den Herr Sombart „jederzeit“ und ins Ungemessene steigern will, so wird er direkt durch die kapitalistische Entwicklung systematisch herabgedrückt, wenngleich der Reallohn gleichzeitig wachsen mag. Und wollten die Gewerkschaften diesen tendenziellen Fall des relativen Lohnes aufhalten, so müßten sie das Lebensprinzip selbst der kapitalistischen Wirtschaft: die Entwicklung der Produktivität der Arbeit, lahmlegen, denn diese ist es, die die im Lebensunterhalt des Arbeiters steckende Arbeit und damit seinen Anteil am Gesamtprodukt in mechanischer Weise hinter dem Rücken der Beteiligten verringert.

Die Gewerkschaften können freilich – darin besteht ja ihre einzige Wirkungsmethode – durch Organisation des Angebots der Arbeitskräfte die Reservearmee und dadurch den sonst schrankenlosen Druck des Kapitals auf den geringsten mit seinen Profitinteressen noch verträglichen Grad beschränken. Behauptet aber Herr Sombart, daß sie bei der Lohnsteigerung überhaupt an keine Schranken gebunden sind, ja, daß sie den Anteil des Arbeiters am Nationaleinkommen grenzenlos steigern können, so redet er den Arbeitern in letzter Linie nicht mehr und nicht minder ein, als daß Sie auf gewerkschaftlichem Wege das kapitalistische Wirtschaftssystem beseitigen können.

Freilich ist die Lohnbestimmung, wie die gesamte Verteilung des Nationalreichtums, für Herrn Sombart, wie er selbst sagt, eine Machtfrage. Und das ist sie unbestreitbar in bestimmten Grenzen, d. h. an der sozialen Oberfläche, wo sich die wirtschaftlichen Gesetze im menschlichen Handeln, im persönlichen Zusammenstoß der Arbeiter und der Unternehmer, im Arbeitskontrakt äußern, Herr Sombart bemerkt aber die unter diesen Machtäußerungen liegenden, sie bedingenden und beschränkenden objektiven Gesetze nicht, er sieht das Verhältnis so, wie es dem Einzelinteressenten, dem einzelnen Arbeiter oder Unternehmer zum Bewußtsein kommt, und so entpuppt sich die nagelneue „richtige“, „realistische“, „historische“ Methode als die alte ehrliche – Vulgärökonomie.

Diese verfährt bekanntlich anders als die dialektische Kritik; sie verwirft die von der klassischen Ökonomie aufgestellten „Naturgesetze“ mit der größten Suffisance als altes Gewäsch, beseitigt aber damit überhaupt jede gesetzmäßige Erklärung der kapitalistischen Wirtschaft und proklamiert das Reich des „freien Willens“, des „bewußten Eingreifens in die sozialen Vorgänge“, der „Macht“ der sozialen Gruppen.

Freilich verschwinden durch diesen „Machtspruch“ der Wissenschaft in Wirklichkeit die objektiven Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft, d. h. die in ihr wirkenden und treibenden Widersprüche nicht im geringsten. Aber diese Widersprüche selbst werden nun als Zufälligkeiten, als kleine Rechenfehler, kleine „Unvollkommenheiten“ hingestellt, die durch ein wenig redlichen Willen und Witz, durch ein gutes Wort hier, eine kleine Nachsicht dort, „ausgeglichen“ werden können. Nachdem Herr Sombart den Arbeitern einmal die herrliche Perspektive einer schrankenlosen Steigerungsfähigkeit der Löhne eröffnet hat, hat er alle Hände voll zu tun, um sein professorales Wort einzulösen und dabei aus der Zwickmühle der kapitalistischen Gegensätze herauszukommen. Die Lohnsteigerung wälzt er, wie wir gesehen, auf den Profit ab, den Profitverlust weiter auf den Konsumenten, dem Konsumenten redet er, da er seine Abwälzungskunst erschöpft hat, ins Gewissen und stellt sich ihn, um sich den Erfolg leichter zu machen, von vornherein als ein junges und bereits verlobtes Mädchen vor. Am Ende kann ihm auf diese Weise noch die Pflicht zufallen, um die gewerkschaftlichen Erfolge nach seinem Rezept zu sichern, für jedes reiche Mädchen einen passenden Bräutigam zu finden.

Doch fürchten wir, wäre selbst das verlorene Mühe. Denn kaum hat Herr Sombart die, um im Stile des Herrn Professors zu sprechen, „In-Beziehung-Setzung“ und das „Sich-tatsächlich-decken“ von Dingen, die sich weder aufeinander beziehen noch sich tatsächlich decken, fertig gebracht, als sein Flickwerk durch „hier nicht näher darzulegende Verumstandungen“ wieder an allen Ecken und Enden aus dem Leime geht.

Der Unternehmer soll die von der gewerkschaftlichen Aktion durchgesetzte Lohnerhöhung mit einem Preisaufschlag auf seine Waren decken. Meint aber der Herr Professor, daß die Warenpreise so mir nichts dir nichts erhöht werden können, so hat er alle „Wesenheiten“ der Preisbildung vergessen. Ist der Preisaufschlag ein allgemeiner, dann hebt er sich in seiner Wirkung selbst auf. Erhöht aber ein einzelner Unternehmer seine Preise, dann wird ihn die Konkurrenz seiner Herren Kollegen in sehr kurzer Zeit Mores lehren. Allerdings können auch einzelne Unternehmergruppen willkürlich die Preise steigern, dies aber nur, wenn sie dem Publikum gegenüber eine Machtstellung einnehmen, d. h. Ringe, Kartelle usw. bilden. Nur ist in diesen die Machtstellung des Kapitals den Arbeitern gegenüber eine noch viel größere, und sie macht unglücklicherweise in der Regel die gewerkschaftlichen Erfolge just dort unmöglich, wo die einzige Voraussetzung der sombartschen „Abwälzungstheorie“ vorhanden. Herr Sombart vergißt überhaupt, wo er von den Machtverhältnissen der Gewerkschaften spricht, die Existenz der Unternehmerverbände gänzlich und erinnert sich ihrer nur, wo er sie als ein angenehmes Supplement zu dem beliebten Einigungsverfahren bei Arbeitskonflikten braucht.

Oder der Unternehmer soll die Lohnzuschläge, falls Preiserhöhungen nicht angängig, durch Erweiterung der Produktion wettmachen. Aber das üben die Unternehmer schon von selbst, ohne Herrn Sombarts Ratschläge abzuwarten, seit undenklichen Zeiten, wo es nur irgend möglich. Und freilich sind solche Perioden der Produktionserweiterungen, d. h. des industriellen Aufschwunges, die günstigste Gelegenheit für Lohnforderungen. Nur ist hier die Erweiterung der Produktion nicht etwa ein beliebig anwendbares Mittel zur Wettmachung der Lohnerhöhungen, sondern umgekehrt eine Voraussetzung, bei der Lohnerhöhungen möglich sind, und die ihrerseits an die Marktlage, d. h. wiederum an die eigenen Verwertungsinteressen des Kapitals gebunden ist!

Oder die Unternehmer sollen nun gar die Lohnzuschläge durch technische Verbesserungen decken! Ei, Herr Professor, das glaube Ihnen Ihre „glückliche Braut“! Die technischen Verbesserungen werden von den Unternehmern seit jeher angewendet, um die im Lohnkampf stehenden Arbeiter lahmzulegen und nicht um sie zu befriedigen. Lassen Sie sich doch nur die Geschichte der Lohnkämpfe der Hamburger Kohlenjumper vom Ende der 80er Jahre erzählen, die von den Unternehmern durch die Einführung der sogenannten Jumpmaschine und sofortige Arbeitsentlassungen beantwortet wurden.

In seiner heißen Mühe, alle Interessengegensätze den Gewerkschaften zuliebe in Interessenharmonie aufzulösen, muß sich der Herr Professor auch mit den Krisen abfinden. Diese „Unvollkommenheit“ der kapitalistischen Wirtstaft pflegt bekanntlich als eines der schlimmsten „Mittel“ gegen die Gewerkschaften zu dienen. Herr Sombart stellt die Sache auf den Kopf und empfiehlt die Gewerkschaften als ein Mittel gegen Krisen. „Erstens wird das Feuer der Produktion etwas gedämpft. Denn die Forderungen, die die Arbeiter erheben, – bedeuten doch immerhin zunächst eine Erschwerung des Absatzes infolge Erhöhung der Produktionskosten und auch unter Umständen eine unmittelbare Beschränkung des Produktionsumfanges ...“ (ebenda, S.87). Aber soeben hörten wir ja, daß die Arbeiterforderungen zur Erweiterung und technischen Verbesserung, d. h. zur Anfeuerung der Produktion führen, und zwar nicht zur Ausgleichung der „zunächst“ eingetretenen Stagnation, sondern direkt zur Vergrößerung des abgebröckelten Profits, d. h. über den früheren Umfang des Betriebs hinaus!

Das Dauermittel jedoch, das Radikalmittel gegen Krisen darf ein deutscher Professor, will er die heiligsten Traditionen der deutschen Nationalökonomie nicht mit Füßen treten, beileibe nicht mit dem wissenschaftlichen Forscher in den Produktionsverhältnissen, sondern mit dem Krämer in den Verteilungsverhältnissen suchen. „Auch auf die Dauer wirkt die Steigerung des Anteils der Arbeiterklasse am Produktionsertrag, wie sie die Gewerkschaften erstreben, Krisen mindernd, denn sie hebt den Wohlstand der Massen, weitet deren Konsumfähigkeit aus, festigt also den Absatz in den am letzten Ende doch ausschlaggebenden Reihen der großen Menge und damit den ungestörten Verlauf der wirtschaftlichen Produktion (ebenda). Daß dem einzelnen Unternehmer, dessen Gesichtspunkt die Vulgärökonomie stets treu widerspiegelt, die „Wohlhäbigkeit“ der Arbeitermasse, wie der Herr Professor sagt, als ein Mittel gegen die Absatzstockung in seinem Warendepot erscheinen mag, darüber besteht kein Zweifel. Aber für alle Unternehmer zusammen, für die Klasse, läuft das pfiffige Mittel des Herrn Sombart darauf hinaus, daß sie aus eigener Tasche die Kaufkraft der Masse der Konsumenten vergrößern sollen, um ihnen dann mehr Waren verkaufen zu können. Wäre es nicht einfacher, direkt den Unternehmern auseinanderzusetzen, sie sollten durch periodische Verschenkung des überschüssigen Warenvorrats an die Gewerkschaftler „den ungestörten Verlauf der wirtschaftlichen Produktion“ sichern? Wir fürchten nur, daß unsere „königlichen Kaufleute“ und „genialen Unternehmer“, genial wie sie sind, ihm kurz erwidern werden: Herr Professor, Sie haben vergessen, daß die Vulgärökonomie zur Nasführung der Arbeiter und nicht zur Nasführung der Kapitalisten erfunden wurde!

Das Schönste an der Sombartschen Krisenkur liegt übrigens in der Annahme, daß man überhaupt durch Erweiterung des Absatzes „dauernd“ Stockungen vorbeugen könne! Das ist gleichfalls ein altes, ehrwürdiges Möbelstück aus dem Hausgerät der „deutschen Wissenschaft“, siehe Herrn Eugen Dühring. Aber – bemerkt Herr Sombart melancholisch – „es gibt keine Theorie, die so falsch und so oft widerlegt wäre, daß sie nicht doch immer wieder von Zeit zu Zeit zum Leben erwachte und ungeübte Köpfe eine Weile lang zu verwirren vermöchte“ (ebenda, S.68). Schlimmer ist es schon, wenn ein Kopf durch Theorien verwirrt wird, die er eben erst selbst widerlegt hat. Die Annahme, daß die Erweiterung der regelmäßigen Nachfrage die Krisen „mindert“, setzt voraus, daß die Produktion über die nunmehr erweiterten Marktschranken nicht ebenso spielend wieder hinauseilen kann, d. h., daß die Produktionsgrenzen oder, was dasselbe, das Produktionskapital, beschränkten Umfang haben. Damit fällt der Herr Professor glücklich in dieselbe Lohnfondstheorie zurück, die er soeben, als es die unbeschränkte Steigerungsfähigkeit der Löhne darzutun galt, extra aus dem Grabe geholt hat, um sie mit großem Genuß nochmals totzuschlagen.

So spiegeln sich die objektiven kspitalistischen Gegensätze als subjektive Inkohärenzen, die sozialen Widersprüche als logische Widersinnigkeiten der vulgären Theorie wider, die eine aus dem Gegensatz gegen das Kapital hervorgewachsene Erscheinung: die Gewerkschaften, auf den Boden der allgemeinen Interessenharmonie stellen und sie als Machtfaktor von allen „naturgesetzlichen“, d. h. kapitalistischen Schranken unabhängig machen will. Aber es ist das Fatum des Vulgärökonomen, daß er gerade dort, wo er sich in seinem Machtbewußtsein und freien Willen über alle sozialen Gesetze erhaben dünkt, gewöhnlich in Wirklichkeit am meisten zum Spielball blinder gesellschaftlicher Kräfte wird.

Wir haben gesehen, daß die Gewerkschaften in ihrer Wirkung an bestimmte wirtschaftliche Schranken, die sich am allgemeinsten als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals bezeichnen lassen, gebunden sind. Allein auch innerhalb dieser Schranken richten sich die Gewerkschaften in ihrem Tun und Lassen völlig nach den Zuckungen des Kapitals.

Wenn sie in Zeiten guten Geschäftsganges Lohnaufbesserungen erringen, um sie in Zeiten des Niederganges durch Abwehrkämpfe aufrechtzuerhalten, wenn sie bei größerer Absorption der disponiblen Arbeitskräfte durch das Kapital und größerer technischer Stabilität organisatorische Erfolge verzeichnen und bei frischem Zufluß von Reservekräften durch Krisen oder intensive Proletarisierung der Mittelschichten oder bei technischen Umwälzungen wieder durchbrochen und zeitweise erschüttert werden: immer sind ihre Bewegungen „bloße Widerspiegelungen der Bewegung in der Akkumulation des Kapitals“ (Marx).

Ja, gerade darin liegt die eigentliche wirtschaftliche Funktion der Gewerkschaften für die Arbeiterklasse, daß sie, indem sie den Bewegungen des Kapitals folgen, ihre Wirkung beschränken und sich zugleich zunutze machen.

Erinnern wir uns, welches Bild uns die Arbeiterverhältnisse vor dem Beginn der gewerkschaftlichen Bewegung darbieten. Mehr noch als absolutes Elend charakterisiert diese Zustände erstens die große Unsicherheit, d. h. Ungleichmäßigkeit in der Lage des Arbeiters in verschiedenen Zeiten, und zweitens die große Ungleichmäßigkeit zu jeder Zeit in der Lage verschiedener Schichten der Arbeiterschaft. Das Kapital reißt hier in seinem Aufschwung die Arbeitskraft jäh empor und schleudert sie in seinem Niedergang ganz schrankenlos zu Boden. Und während einzelne, gelernte Berufe ein dem kleinbürgerlichen ähnliches Dasein führen, werden ganze Schichten unter das physische Existenzminimum herabgedrückt und direkt zum Aussterben verurteilt.

Hier schaffen die Gewerkschaften, wenn sie die allgemeinen Interessen der Arbeiter als Klasse im Auge behalten, gründlichen Wandel. Indem sie in den Perioden des Aufschwunges das durch den Profit zulässige Maximum an Löhnen erringen, um aus ihnen die Abwehrkämpfe in den Perioden des Niederganges zu speisen, indem sie das unterste Niveau der Lebenshaltung der Masse heben und zugleich die bestsituierten Berufe zur allgemeinen Organisation herbeiziehen, indem sie endlich sowohl in jedem Beruf, wie für die ganze Klasse allgemeine Regeln (Arbeitszeit usw.) schaffen, führen sie eine Ausgleichung der Lebenslage des Proletariats in verschiedenen Phasen der Produktion wie zwischen seinen verschiedenen Schichten und eine gewisse Stabilität dieser Lebenslage herbei. Dadurch, also dank den Gewerkschaften, ergibt sich erst als gesellschaftliche Realität, als Wirklichkeit jenes „gewohnheitsmäßige Lebensniveau“ der Arbeiter, das vor dem Beginn des Gewerkschaftskampfes ein bloßer ideeller Durchschnitt zwischen verschiedensten Lebenslagen innerhalb der Arbeiterklasse, ein bloßer mathematischer Begriff war.

Es handelt sich also nicht bloß darum, wie Herr Sombart in einer theoretischen Jugendfrische vorschlägt, die Lebensgewohneiten der Arbeiter möglichst zu erhöhen, um dadurch das Kapital immer mehr in die Schranken zu weisen. Umgekehrt sind es die „Gewohnheiten“ des Kapitals, d. h. seine vornehmste Gewohnheit, einen „gewohnten“, örtlich und zeitlich durch die Produktivität der Arbeit bestimmten Profit zu produzieren, die jeweilig die Schranke weisen, bis zu der die Gewohnheiten der Arbeiter durch die gewerkschaftliche Aktion gehoben werden können.

Für die Gewerkschaften, wie für jeden sozialen Machtfaktor besteht also der wahre und historisch einzig mögliche Eingriff des Bewußtseins und der Macht in den gesellschaftlichen Prozeß nicht darin, daß man sich über seine Gesetze hinwegsetzt, sondern daß man sie erkennt und sich eben dadurch dienstbar macht.

Für Herrn Sombart liegt darin freilich eine unerhörte Degradation der Gewerkschaften. Er seinerseits ist in der Lage, ihnen viel schmeichelhaftere Aussichten zu bieten. Aber ebensowenig wie die glattesten Höflinge die besten Ratgeber ihrer Fürsten, sind die freigebigsten Schmeichler die besten Freunde der Arbeiterbewegung. Und wenn Herr Sombart die Gewerkschaften über alle sozialen Schranken emporhebt und ihnen den kapitalistischen Himmel voller Geigen zeigt, so ist das gewiß sehr nobel von ihm; schade nur, daß er dies alles nicht anders als durch lauter alte und längst überwundene Irrungen und Wirrungen der Vulgärökonomie bekräftigen kann.

Übrigens gebührt Herrn Sombart auch die Ehre einer neuen nationalökonomischen Entdeckung, die seine Herren Kollegen zwar meistens aus der Praxis, aber nicht in dieser allgemeinen wissenschaftlichen Gültigkeit kannten, der Entdeckung nämlich, daß der Brautstand auch ein preisbildender Faktor ist.

 

 

II

Während Herr Sombart einerseits die wirtschaftliche Allmacht der Gewerkschaftsbewegung nachweist, stellt er andererseits als Bedingung dieser Allmacht: die Emanzipierung der Gewerkschaften von der „Vormundschaft“ der Sozialdemokratie.

Zwar hat die Sozialdemokratie die Gewerkschaften selbst ins Leben gerufen und sie stets gepflegt, unterstützt und geschirmt. Allein Herr Sombart weiß trotz alledem, daß sie zu der Sache der Gewerkschaften stets nur mit einem halben Herzen stand und sogar die Entwicklung der Gewerkschaften direkt „aufgehalten hat“. Denn „eine politische Partei, die ihre Aufgabe nur darin erblickte, alle Vorbereitungen zu treffen, damit im großen Moment des Zusammenbruchs der bürgerlichen Welt die sozialdemokratischen Jungfrauen das Öl auf ihren Lampen hätten: eine solche konnte auch in jeder gewerkschaftlichen Organisation günstigsten Falles immer nur eine Art von Drillschule der Arbeiterbataillone für die bevorstehende Schlacht erblicken. Günstigsten Falles, während sie sehr häufig die Gewerkvereinsbewegung als Feindin ihrer Sache betrachten mußte“ (Dennoch! S.60). Eine solche Partei kann einfach „die innere Ruhe“ nicht haben, die zum Ausbau der Gewerkschaften erforderlich ist (ebenda, S.64). Und wenn Marx schon in der Internationale die Sache der Gewerkschaftsbewegung systematisch förderte, so weiß Herr Sombart dies nicht aus der Einsicht Marx’ in ihren Nutzen für die Arbeiterklasse, sondern aus anderen Motiven zu erklären. Marx konnte nämlich nicht „in gleicher prinzipieller Gegnerschaft gegen die Gewerkschaftsbewegung verharren, wie Lassalle und sein Anhang“. Denn erstens hatten Marx und seine Londoner „Sendboten“ doch der Welt der englischen Trade-Unions zu nahegestanden, um „die gesamten Organisationsbestrebungen der Arbeiter auf gewerkschaftlichem Gebiet (wie der hier gänzlich unwissende Lassalle – R.L.) kurzerhand beiseite zu schieben“. Zweitens und vor allem aber „wußten Marx und sein Anhang auch, daß in der von ihnen geträumten internationalen Gemeinschaftsbewegung der Proletarier aller Länder die englischen Gewerkvereinler nicht gut entbehrt werden konnten, ohne sich dem Anschein der Lächerlichkeit preiszugeben, weshalb denn gleich bei der Gründung der IAA auf die gewerkschaftlichen Interessen entsprechende Rücksicht genommen wurde“ [Hervorhebungen – R.L.] (ebenda, S.59). Mit anderen Worten: Marx und sein Anhang hätten am liebsten der gesamten Gewerkschaftsbewegung einen herzhaften Fußtritt gegeben, leider ging das aber nicht gut bei der Macht der englischen Gewerkstaftler und ihrer Unentbehrlichkeit in dem großen Tiergarten der Internationale, wo doch jede proletarische Gattung der Vollständigkeit halber vertreten sein mußte, und so sahen sie sich gezwungen, um sich nicht lächerlich zu machen, mit sauersüßer Miene in den gewerkschaftlichen Apfel zu beißen.

Das ist alles sehr einleuchtend. Zum Unglück wird die „historische Methode“ hier von der Geschichte auf frischer Tat ertappt.

Im Jahre 1847, also zu einer Zeit, wo die Internationale, mithin auch die Rücksichten auf ihre Vollzähligkeit nicht im Traume existierten, zu einer Zeit, wo Marx noch nicht in London sich niedergelassen hatte, den Trade-Unions also weder nahe noch fern stehen konnte, zu einer Zeit, wo selbige Trade-Unions erst um ihre Existenz kämpften und von der politischen Bewegung, dem Chartismus, noch ganz in den Hintergrund gestellt waren, schrieb Marx in seinem Elend der Philosophie:

Die ersten Versuche der Arbeiter, sich untereinander zu assoziieren, nehmen stets die Form von Koalitionen an. Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Orte zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes – Koalition ... Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maße, als die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger für sie als die des Lohnes. (Das Elend der Philosophie, S.161.) [1]

Ja, noch besser! Marx begründet nicht nur die Gewerkschaftsbewegung aus der ökonomischen Notwendigkeit und erklärt ihre Funktionen. Er polemisiert direkt gegen die ablehnende Haltung der damaligen „Sozialisten“, d. h. der Fourieristen und Owenisten gegenüber den Gewerkschaften mit größter Schärfe. Er stellt sie als Gegner der Gewerkschaften auf gleiche Stufe mit bürgerlichen Nationalökonomen:

Die Ökonomen wollen, daß die Arbeiter in der Gesellschaft bleiben, wie dieselbe sich gestaltet hat und wie sie sie in ihren Handbüchern gezeichnet und besiegelt haben. Die Sozialisten wollen, daß sie die alte Gesellschaft beiseite lassen, um desto besser in die neue Gesellschaft eintreten zu können, die sie ihnen mit so vieler Vorsorge ausgearbeitet haben (ebenda, S.161). [Hervorhebung – R.L.]

Und er schließt: „Trotz beider, trotz Handbücher und Utopien, haben die Arbeiterkoalitionen keinen Augenblick aufgehört, mit der Entwicklung und der Zunahme der modernen Industrie sich zu entwickeln und zu wachsen. Das ist heute so sehr der Fall, daß der Entwicklungsgrad der Koalitionen in einem Lande genau den Rang bezeichnet, den dasselbe in der Hierarchie des Weltmarktes einnimmt(ebenda, S.161). [Hervorhebung – R.L.]

d. h.: Marx verspottet und verhöhnt schon im Jahre 1847 bei Owenisten und Fourieristen genau dieselbe Auffassung, die Herr Sombart heute als Marx’ und der Marxisten Auffassung hinstellt. Und die „richtige“, „realistische“, „historische“ Methode erweist sich, diesmal als eine Methode, die die reale Geschichte erst verfälscht, um sie dann auf Grund der eigenen Fälschung zu verurteilen.

Sie bringt aber noch mehr fertig: sie führt auch noch logische Gründe für diese „korrigierte“ Geschichte an.

Die Sozialdemokratie, erklärt Herr Sombart, war nicht bloß tatsächlich seit jeher der Gewerkschaftsbewegung im Grunde ihres Herzens abhold, sondern sie konnte und kann es gar nicht anders, so daß das Gedeihen der Gewerkschaften sich direkt an dem Grade ihrer Befreiung von der hemmenden „Vormundschaft“ der Sozialdemokratie messen läßt.

Die Frage der sogenannten Neutralität der Gewerkschaften wird auch in unseren eigenen Reihen seit einiger Zeit erörtert. Zum Ausgangspunkt bei den Befürwortern der Neutralität dienen aber bei uns nur taktische Rücksichten, nämlich der Wunsch, Arbeiter, die verschiedenen politischen Parteien angehören, zum einheitlichen wirtschaftlichen Kampfe zu sammeln. Diese gewerkschaftliche „Sammlungspolitik“ ist ein ganz analoger Gedanke zu der gleichfalls in den letzten Jahren der Sozialdemokratie von verschiedenen Seiten empfohlenen Politik der Sammlung. Wie hier durch Verschleierung der Endziele die Werbekraft der Sozialdemokratie und damit ihre unmittelbaren politischen Erfolge vergrößert werden sollten, so sollen dort durch Abstreifung des sozialistischen Charakters die Werbekraft und die ökonomische Macht der Gewerkschaft potenziert werden.

Freilich formulieren die deutschen Gewerkschaften auch jetzt ihren sozialistischen Charakter nicht offiziell und machen ihn den Mitgliedern nicht zur Pflicht, aber ihre ganze Gegenwartsarbeit bewegt sich in sozialistischer Richtung.

Die Sozialdemokratie vertritt aber auch gegenüber einzelnen Gruppen des kämpfenden Proletariats die Interessen der gesamten Klasse und gegenüber einzelnen Augenblicksinteressen die Interessen der ganzen Bewegung. Ersteres äußert sich sowohl in dem politischen Kampfe der Sozialdemokratie um gesetzliche, d. h. das ganze Proletariat in jedem Lande umfassende Maßnahmen zur Hebung seiner Lage, wie in dem internationalen Charakter ihrer Politik, letzteres in der Übereinstimmung der Bestrebungen der Sozialdemokratie mit dem Gange der gesellschaftlichen Entwicklung, das sozialistische Endziel als Richtschnur nehmend.

Die Gewerkschaften vertreten von vornherein – dies der Unterschied von der politischen Partei des Proletariats – nur unmittelbare Gegenwartsinteressen der Arbeiter. Aber in ihrer Entwicklung werden sie durch diese selben Interessen dahin gedrängt, erstens ihren Errungenschaften in jedem Lande durch gesetzliche Normen immer mehr eine allgemeine Gültigkeit zu geben und zugleich eine internationale Zusammenfassung ihrer Kräfte herbeizuführen, zweitens in ihrer gesamten Politik, wie: der Stellung zu den Streiks, zur Frage des Minimallohns, der gleitenden Listen [2] und der Tarifgemeinschaften, des Maximalarbeitstags, der Arbeitslosenunterstützung, der Frauenarbeit, der Ungelernten, der ausländischen Einwanderung, der Einmischung in die Technik der Produktion, des Rechtes auf angemessene Arbeit, der Zoll- und Steuerpolitik usw. – sich immer mehr auf die allgemeinen sozialen Zusammenhänge zu stützen und mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu rechnen.

Sie werden somit durch eigene Interessen mit elementarer Kraft in dieselbe Bahn gedrängt, in der die Sozialdemokratie bewußt voranschreitet.

Nicht deshalb also besteht in Deutschland ein so inniger Zusammenhang zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften weil vielfach persönliche Bande sie liieren oder weil die Gewerkschaften „unter der Vormundschaft der Sozialdemokratie“ stehen, sondern weil die deutschen Gewerkschaften ihre Politik, ihren Kampf von Anfang an auf den richtigen Boden der sozialen Entwicklung gestellt haben, weil hier durch glückliche Fügung der Geschichte, die der historischen Methode des Herrn Sombart so mißfällt, dem Kampfe um Gruppen- und Augenblicksinteressen die Einsicht der Arbeiterklasse in ihre allgemeinen und dauernden Interessen vorausgegangen war.

Und wie die sozialdemokratische Sammlungspolitik zur Preisgabe des Endziels, so müßte die gewerkschaftliche Sammlungspolitik zur Preisgabe des gegenwärtigen fortschrittlichen Charakters der deutschen Gewerkschaftsbewegung führen. Sobald das einigende Band der sozialistischen Einsicht, der weiteren Perspektiven der sozialen Entwicklung abgestreift ist, treten wieder einzelne Gruppen- und Berufsinteressen, engherzige nationale Interessen in den Vordergrund, was wir z. B. in England sehen wie denn nirgends die nationale Abgeschlossenheit nach Außen und die Zersplitterung im Innern so groß ist, wie in dem Paradies der Neutralität, in der englischen Gewerkschaftsbewegung.

So verwandelt sich die gewerkschaftliche Sammlungspolitik bei näherem Zusehen in Zersplitterungspolitik, und die „Neutralitätsidee“ hält, wenn sie nur aus taktischen Rücksichten empfohlen wird, keiner ernsten Kritik gegenüber Stand.

Bei Herrn Sombart spielt aber auch der Gesichtspunkt der Sammlungspolitik nur eine sehr untergeordnete Rolle. Er leitet die Notwendigkeit, die Gewerkschaften von der Sozialdemokratie zu „emanzipieren“, nicht aus taktischen Gründen, sondern aus einem in ihrem Wesen liegenden Gegensatz ab.

Worin besteht nun dieser Gegensatz? Darin, daß die Sozialdemokratie nach Herrn Sombart die Gewerkschaften stets als „Mittel zum Zweck“ betrachtete, während sie nur als „Selbstzweck“ gedeihen können. Aber wenn die Gewerkschaften, wie bis jetzt in Deutschland der Fall, auf demselben Boden der allgemeinen sozialen Entwicklung stehen, deren Schlußergebnisse die Sozialdemokratie in ihrem Endziel formuliert, so kann, sogar vorausgesetzt, daß die Darstellung des Herrn Professors der Wahrheit entspricht, zwischen „Mittel“ und „Zweck“, zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie keinerlei Gegensatz bestehen. Im Gegenteil, am eifrigsten müßte dann die Sozialdemokratie, selbst wenn ihr die unmittelbare Hebung der Arbeiterschaft an sich nicht teuer, sondern bloß Mittel zur Beschleunigung der sozialistischen Umwälzung wäre, am Ausbau der Gewerkschaften arbeiten. Und sie müßte dazu „die innere Ruhe“ gerade so gut finden, wie sie zur Teilnahme an dem bürgerlichen Parlamentarismus, zum Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung, kurz zu der ganzen Gegenwartsarbeit seit dreißig Jahren „die innere Ruhe“ hat. Zwischen der Sozialdemokratie, wie sie ist, und den Gewerkschaften, wie sie sind, kann also unmöglich ein Gegensatz, sondern muß vielmehr der innigste Zusammenhang bestellen.

Der Gegensatz ist nur in einem Falle denkbar. Wenn die Gewerkschaften etwa auf einem anderen Boden, wie gegenwärtig in Deutschland, ständen, wenn sie sich z. B. wie die englischen alten Trade-Unions statt auf den Boden des Klassenkampfes auf den der Harmonie der Interessen in der heutigen Gesellschaft stellen und an eine Möglichkeit der ausreichenden Wahrung der Arbeiterinteressen innerhalb dieser Gesellschaft glauben würden, mit einem Worte, wenn sie sich auf den Boden der „richtigen“, „realistischen“, „historischen“ Methode des Herrn Sombart stellen würden, wie wir sie im I. Teile kennengelernt haben. Dann würde allerdings zwischen der Sozialdemokratie und diesen Gewerkschaften ein schroffer Gegensatz bestehen. Denn den Glauben an die Harmonie der Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft, an die Möglichkeit einer unbeschränkten Steigerung des Anteils der Arbeit an dem Nationaleinkommen, alle die Illusionen der Vulgärökonomie zerstört die Sozialdemokratie allerdings unbarmherzig. Das Nebeneinanderbestehen solcher Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie könnte auch nur zu der Alternative führen: entweder daß die Arbeiter, der Sozialdemokratie folgend, den Harmonie- und Glückseligkeitsduseleien der „realistischen“ Methode Valet sagen, oder aber daß sie, um den Illusionen dieser Methode treu zu bleiben, der Sozialdemokratie den Rücken kehren.

Und das ist des Pudels Kern, darin liegt die politische Bedeutung des Sombartschen Prophetentums in Gewerkschaftsfragen. Die „realistische“, „historische“ Methode fängt damit an, den Gewerkschaften unumschränkte Perspektiven wirtschaftlichen Aufstiegs zu eröffnen, um ihnen zum Schlusse die Sozialdemokratie als das wahre Hindernis dieses Aufstiegs zu denunzieren.

Aber verwahrt sich Herr Sombart nicht mehrmals gegen die Annahme, als hetze er die Gewerkschaften gegen die Sozialdemokratie? Schreibt er nicht ausdrücklich, sein Ideal eines Gewerkschaftlers könne „nebenbei auch überzeugter Sozialist, ehrlicher Sozialdemokrat sein“ (ebenda, S.64), und konstatiert er nicht selbst ausdrücklich und wiederholt, die Sozialdemokratie sei in Deutschland nun und in Zukunft die einzige mögliche Arbeiterpartei?

Allerdings! Denn der Herr außerordentliche Professor ist ein außerordentlich vorsichtiger Mann. Er hat aus seiner „Vogelschau“ mancherlei Beobachtungen gemacht und er weiß Verschiedenes. Er weiß, „daß das Prestige jener Partei (der Sozialdemokratie – R.L.) in den Kreisen der deutschen Arbeiterschaft ein so großes ist, daß Wunder geschehen oder Jahrzehnte vergehen müssen, ehe ihm von irgendeiner anderen Seite her die Spitze geboten werden könnte“ (ebenda, S.57), er weiß, daß es „einfach unklarer Utopismus ist, wenn jemand glaubt, durch die Stärkung der Gewerkvereine die Sozialdemokratie beseitigen zu können“, daß „jede Politik, die sich dieses Ziel setzt, von vornherein zur Unfruchtbarkeit verdammt ist“ und daß „jeder Sturmlauf auf die Sozialdemokratie ... deren Position stärken wird“. Er weiß mit einem Worte, um es aus dem Professoralwelsch in ehrliches Deutsch zu übersetzen, daß, wollte sich der außerordentliche Professor vor die Arbeiter hinstellen und sie in der täppischen Weise eines Wenckstern gegen die Sozialdemokratie aufhetzen, sein „gemeinsames Streben“ mit der Arbeiterklasse ein gar jähes Ende nehmen könnte. Er erlaubt also seinem „gläubigen Gewerkschaftler“ ruhig „nebenbei“ auch ein guter Sozialdemokrat zu sein. Er will nur eins: „Die Sozialdemokratie zivilisieren“ (ebenda, S.79), d. h. – wenn man die Sombartschen Sätze aus dem Gewinde von Komplimenten an die Sozialdemokratie herauswickelt und anders ordnet – in einen Sozialismus verwandeln, der in der Überzeugung besteht: daß der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Ordnung keine grundsätzlichere Neuerung umfaßt als die „Verstadtlichung einer Straßenbahn“ (ebenda, S.65), daß, „intensiv wie extensiv ... das kapitalistische Wirtschaftssystem noch auf Jahrhunderte hinaus im Vordringen begriffen ist“ und „der Schwerpunkt des Wirtschaftslebens auf absehbare Zeit sicherlich in den kapitalistischen Unternehmungen liegen“ wird [Hervorhebung – R.L.], „daß Kapitalismus und Sozialismus keine sich ausschließenden Gegensätze sind, daß ihre Ideale vielmehr bis zu einem gewissen Grade sehr wohl in einer und derselben Gesellschaft verwirklicht sein können(ebenda, S.92), daß es endlich „eine Zweckmäßigkeitsfrage ist, ob er (der Arbeiter – R.L.) seine Interessen besser durch eine selbständige Arbeiterpartei oder durch Beeinflussung anderer, schon bestehender Parteien glaubt wahrnehmen zu können“ (ebenda, S.78), d. h., daß es eine reine Zweckmäßigkeitsfrage ist, wem die Realisierung des obigen Sozialismus zu übertragen wäre, ob der Sozialdemokratie oder dem Freisinn, den Nationalliberalen, dem Zentrum oder den Konservativen.

Wir unsererseits erklären uns entschieden für die Nationalliberalen.

Hier haben wir das ganze Geheimnis der „richtigen“, „realistischen“, „historischen“ Methode auf flacher Hand. Die Sozialdemokratie direkt bekämpfen, ihre Lehre widerlegen? – Pfui, wie unmodern, wie unrealistisch, wie „unhistorisch“! Nein! sich gerade auf den Boden der Arbeiterbewegung stellen, die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, den Klassenkampf und das Endziel alles hinnehmen, alles akzeptieren! Nur – den Gewerkschaften in ihrem eigenen Interesse eine Grundlage geben, bei der sie notwendig in Gegensatz zur Sozialdemokratie geraten, die Sozialdemokratie in ihrem eigenen Interesse zu einer nationalsozialen Partei zivilisieren und den Sozialismus im Interesse seiner eigenen Verwirklichung mit dem Kapitalismus in eins verwandeln, mit einem Worte, dem Klassenkampf im Interesse des Klassenkampfes das Genick brechen – das ist der Witz!

„Und nur wer bis zu dieser Tiefe der Auffassung gedrungen ist“, sagt Herr Professor Sombart, „hat begriffen, um was es sich bei der sogenannten Arbeiterfrage am letzten Ende handelt“ (ebenda, S.89).

 

 

III

Die „deutsche Wissenschaft“ der Nationalökonomie hat seit jeher als eine Ergänzung der Polizei funktioniert. Während diese gegen die Sozialdemokratie mit dem Knüttel, sollte jene mit „geistigen Waffen“ vorgehen.

Und dies tat sie: erst durch Verdummung der öffentlichen Meinung, durch Erzeugung einer ganzen dickbändigen Professoralweisheit, die die Harmonie der Interessen und die Verkehrtheit des Klassenkampfes predigte. Dann, als diese Lehren von Marx in Stücke geschlagen worden, durch „Widerlegungen“, mehr noch durch Verleumdungen Marx’ und seiner Schüler. Später durch Herstellung einer bürgerlich-sozialistischen Mixtur: des Kathedersozialismus. [3] Endlich, als die professorale Mixtur ihren Erfindern zum Eigengebrauch überlassen, die Marxsche Lehre aber in der Sozialdemokratie zur drohenden Macht wurde, durch direkte Unterstützung der Polizei – des Sozialistengesetzes.

Als aber das Sozialistengesetz fiel und die Sozialdemokratie mit einem Achselzucken zugleich die Polizei wie die „deutsche Wissenschaft“, Puttkamer wie Schäffle und Schmoller abgeschüttelt hatte, da verkroch sich die „deutsche Wissenschaft“ in ihre Studierstuben, auf ihre Lehrkanzeln und begnügte sich fortab damit, die bürgerliche Jugend gegen festes Gehalt für den preußisch-deutschen Staatsdienst entsprechend gescheit zu machen.

Und ein Jahrzehnt lang hatte die Arbeiterbewegung von der „deutschen Wissenschaft“ wenig zu hören.

Die bürgerliche Klasse hatte endgültig die Hoffnung aufgegeben, mit der Sozialdemokratie fertig zu werden, sie hatte den Glauben an ihre beiden Knechte, an den Arm des Büttels, noch mehr aber an den Kopf des Professors verloren.

Nun tritt aber die Periode des wirtschaftlichen Aufschwunges und in ihrem Gefolge die Ära der Weltpolitik ein. Neue Horizonte eröffnen sich vor der Bourgeoisie. Die mehrjährige Dauer der Prosperität, der aus den Rüstungen der Weltpolitik und ihren Eroberungen winkende neue Goldregen von Profiten lassen das Herz der bereits in Mißmut versunkenen bürgerlichen Welt höher schlagen.

Zur Weltpolitik, zur „nationalen“ Politik braucht sie aber die Mitwirkung der Volksmassen. Andererseits glaubt sie in den Verheißungen des industriellen Aufschwunges einen neuen Köder für die Arbeiterklasse zu besitzen. So will sie noch einmal frischen Mutes die Eroberung des Arbeitervolkes versuchen. Und wieder ertönt das Kommando: Gelehrte, an die Arbeit! Die in ihren Kabinetten eingetrockneten professoralen Mumien kommen eine nach der anderen ans Tageslicht, eilen in die Volksversammlungen und singen gehorsamst das Versuchungslied der Delilah-bürgerlicher Weltpolitik vor dem Simson-Proletariat.

Aber allen voraus tänzelt mit leichtem Schritte und feiner Gebärde der jugendfrische, hoffnungsvolle, vom Scheitel bis zur Zehe moderne Herr außerordentliche Professor Werner Sombart. Er weiß sich im Besitz der „richtigen“, „realistischen“, „historischen“ Methode, mit der er an dem starrköpfigen Proletariat Wunder wirken wird, und im Besitz eines Talismans, der ihn zum berufensten „weltpolitischen“ Professor macht: der „Wandlungsfähigkeit“. Herr Werner Sombart hat sich diese von ihm so hochgeschätzte Fähigkeit durch systematische Übung angeeignet. Erst war er ein gelehriger Schüler Marx’, und der alte, so wenig durch das deutsche Professorentum verwöhnte Engels hat ihm sogar einige ermunternde Worte des Lobes gespendet. „Das macht“ schließt Herr Sombart seinen Engels-Nachruf – „er war ein guter Mensch.“

Damals überließ Professor Sombart die Widerlegung der Marxschen Lehre „dem politischen Streber“. Die weltpolitische Ära knickte aber nebst mancher zarten Knospe auch die wissenschaftliche Vorurteilslosigkeit des Breslauer Professors. Franz Mehring der seinen Professor gleich bei dessen ersten Schritten durchschaute und ihm frühzeitig auf die Finger klopfte, sollte wieder einmal Recht behalten. Herr Sombart warf sich neben seinen Kollegen in den Strom politischer „Strebungen“ und endete, wo die anderen Professoren beginnen: mit der Bekämpfung des Marxismus.

Die Wandlung vollzog sich ebenso rasch wie gründlich. Früher bewies Herr Sombart zwar zum Schrecken seiner liberalen Kollegen, Deutschland entwickle sich nicht vom Importstaat zum Exportstaat, sondern umgekehrt, womit er nebenbei die erwünschte Argumentation für Schutzzöllner lieferte. Nun ficht er in Reih’ und Glied mit den Kollegen für die große deutsche Flotte, die „zum Schutze des deutschen Exports“ erfunden wurde.

Früher versicherte er die „soziale Bewegung“ der Arbeiterklasse gegen Reaktion und Ausbeutung seiner wärmsten Sympathie, nun vertritt er Arm in Arm mit den Herren Wenckstern und Levy die weltpolitische Reaktion und weltpolitische Schröpfung der Arbeiter.

Früher wollte er die europäischen Kulturinteressen gegen asiatische Barbarei schützen, nun verteidigt er die Barbarei des weltpolitischen Chauvinismus gegen die europäische und asiatische Kultur.

Früher nahm er die Marxsche Lehre gegen ihre alte Feindin, die offizielle „deutsche Wissenschaft“, in Schutz, nun tritt er im Namen dieser „deutschen Wissenschaft“ gegen den Marxismus auf.

In seinem Sozialismus und soziale Bewegung erklärt Herr Sombart den Eintritt Lassalles in die Arbeiterbewegung damit, daß sein „titanischer“, „dämonischer“ Ehrgeiz durchaus seinen Weg „in die Gefilde der Politik“ hatte finden müssen, „dorthin, wohin alle ehrgeizigen Menschen, wenn sie nicht Feldherren oder Künstler sein können, in unserer Zeit notwendig gelangen müssen“.

Was Herrn Sombart selbst betrifft, so hätte er unseres Erachtens ebensogut Künstler, z. B. Seiltänzer, oder, nach seinem Marineenthusiasmus zu urteilen, auch ein Flottenadmiral werden können. Allein sein Ehrgeiz war offenbar noch titanischer und dämonischer als derjenige von Lassalle. Er hat es vorgezogen, sowohl die Seiltänzerei wie den Flottenenthusiasmus „in die Gefilde der Politik“ zu tragen.

Er tritt in die Schranken selbstbewußt, sicher, ausgerüstet mit dem ganzen Wissen und allen Finessen des Jahrhunderts: er hat die sozialen Harmonien von Schultze-Delitzsch, Schultze-Gävernitz und anderen vulgären Schultzen, die historische Methode von Roscher, die englische Borniertheit von den Webbs, die großen Gebärden von Lassalle, die Selbstüberhebung von Julian Schmidt, einen Zitatensack aus allen Sprachen, Dichtern und Zeitaltern, einen Stil, geflochten aus urgroßväterlichen Archaismen, professoralen Grandiloquenzen, Ulrich von Huttenschen Kraftsprüchen und selbstgefertigten orakelhaften Abgeschmacktheiten, endlich als untrügliche psychologische Wirkungsmittel: Beschimpfung und Schmeichelei.

Lassalle, derselbe Lassalle, dessen große Gesten der zwerghafte Professor mit seinen kleinen Händchen nachmacht, ist ihm ein riesenhafter Streber, der sich an die Arbeiterklasse klammerte, weil ihn die bürgerlichen Parteien abgewiesen hatten. [3*]

Liebknecht – das ist ihm „Hipp-Hipp-Hurra-Geist“.

Bebel, den Bebel des Hannoverschen Parteitages, der die Losung ausgegeben hat: es bleibt bei der Expropriation! macht er zuerst in seinen Breslauer Vorträgen in einem auf ihn nur zu deutlich gemünzten Konterfei zum Typus „politischer Kinder, die an das bevorstehende Ende der bürgerlichen Welt glauben“, die „alle Augenblicke davonlaufen, um einmal um die Ecke zu schauen, ob das neue Reich, in dem Milch und Honig fließt, nicht vor der Tür steht“, zum Typus „einer absterbenden Generation sozialer Phantasten“, in deren Kopfe „der Gedanke an eine nahe bevorstehende Ordnung des Wirtschaftslebens ohne kapitalistische Unternehmer“ fortspukt, die das „Ende der Welt“ immer wieder für einen bestimmten Tag prophezeien.

Auf denselben Bebel aber, nachdem Herr Sombart dessen Rede über die Gewerkschaften und Politik für seine „realistische Methode“ ausnutzen zu können glaubt, läßt er im Anhang zu seinen Vorträgen bei deren Drucklegung noch in letzter Stunde folgende Tracht von Lobsprüchen niederrasseln:

Er gehöre zu den „großen Führern, die ihr Ansehen keineswegs nur der Schärfe ihrer Logik, sondern in höherem Maße der Feinfühligkeit verdanken, mit der sie die intimsten Regungen der Volksseele ... zu belauschen verstehen“, die „ihre Ansichten wandeln“, wie sich die „Strebungen der Masse“ (sogar den proletarischen Klassenkampf kann sich der Herr Professor nicht anders als ein riesiges Massen-Strebertum vorstellen!) verändern, und in deren „Wandlungsfähigkeit“ ihre Volkstümlichkeit im besten Sinne zum Ausdruck kommt; er, Bebel, habe in „jedem Augenblick mit feinem Instinkt herausgefühlt“, welche „Wünsche und Gedanken“ die Masse hatte, er sei „die Diagonale zwischen den verschiedenen Strömungen und Richtungen in der Sozialdemokratie“ usw. Und nachdem er so Bebel als eine politische Wetterfahne gezeichnet hat, erdrückt er ihn noch direkt unter einem Platzregen von persönlichen Schmeicheleien: „mystische Verehrung“, „grenzenloses Vertrauen“ der Masse, „warmes Herz“, „lauterster Charakter“, „persönliche Liebenswürdigkeit“, „Frische und Lebendigkeit“, „Feuergeist“, „Ehrlichkeit“, ganz ähnlich dem alten Engels in der – „Wandlungsfähigkeit“ und zugleich ganz ähnlich ... dem alten Bismarck in der Fähigkeit – die Hoffnungen und Strebungen der Masse zu verkörpern! Herr Sombart hat nur vergessen, daß er gerade bei Bebel mit seinem grandiosen Aufwand von Schmeicheleien Gefahr läuft, eine ganz unerwartete Aufnahme zu finden, denn es war doch kein anderer als Bebel, der den Grundsatz aufgestellt hat: Wenn mich die Gegner loben, so muß ich mich sofort fragen, ob ich nicht eine Dummheit gemacht habe.

Nach den Führern kommen aber auch kleinere Leute an die Reihe, um abwechselnd beschimpft und geliebkost zu werden. Da sind zuerst „Männer wie von Elm, Legien, Segitz, Millarg, Timm, Döblin, Poersch und andere“, die „neue Generation der Offiziere unserer Gewerkschaften“, denen sich eine entsprechende Schar „gleichstrebender“ (oh, dieses „Streben“! Überall das „Streben“, Herr Professor!) Unteroffiziere anreiht. „Diese Männer“ sind ein „neuer Typus“ von „berufsmäßigen Gewerkschaftlern“, bei denen „die eigentümlichen Fähigkeiten und Kenntnisse“ „zu voller Reife“ entwickelt sind, in ihnen regt sich „ein neuer Geist“, eine „eigene Seele“, diese „tüchtigen Männer“ schaffen „einen neuen Glauben“ etc. etc.

Anders aber als diese „Offiziere“, die Herr Sombart zu Geerkschaftlern nach seinem Ideal umgewandelt hat, werden unsere politischen Agitatoren aus Arbeiterkreisen behandelt. Von ihnen will der Herr Professor nichts wissen: „Von den seichten, hirnlosen Schwätzern, die jetzt noch in der Presse, in Volksversammlungen und Vereinen vielfach den Ton angeben, von jenen faulen Kerls, die zu nichts gut sind, als ein paar auswendig gelernte, unverstandene Phrasen aus der Parteiliteratur papageienmäßig nachzuplappern oder stiermäßig in die Menge hineinzubrüllen, die zu jeder Arbeit außer der ‚Parteiagitation‘ verdorben sind von diesen Zerrbildern politischer Agitatoren“ will Herr Professor Sombart die deutsche Arbeiterklasse befreien (ebenda, S. 91). [Hervorhebungen – R.L.]

In dem Sozialismus und soziale Bewegung wehklagte Herr Sombart bitter über den Verfall der guten Sitten und feinen Manieren in unserem Klassenkampf. „Schon ganz äußerlich die Tonart der Meinungsäußerung, wie abstoßend, wie versetzend, wie roh ist sie nur allzu oft! Und muß das sein?“ (ebenda, S. 99)

Diese Worte waren uns, als wir sie lasen, direkt aus dem Herzen gesprochen. Lange schon schmerzte uns die Verrohung des Tones und der Sprache in unserer Partei, und wir waren herzlich froh, daß endlich jemand eine ernste Mahnung an die Partei gerichtet hat. Professor Sombart zeigt selbst am besten, wie man seine Gegner widerlegen und doch in feinster, salonmäßiger Weise behandeln kann. Wir wollen deshalb, um ja nicht etwa selbst in abstoßende, verletzende und rohe Tonart zu verfallen, der Sicherheit halber uns genau die Sprache des Herrn Professors aneignen.

Also, Sie wollen die Arbeiterklasse von den „Zerrbildern politischer Agitatorena befreien, Herr außerordentlicher Professor? Ja, wen meinen Sie eigentlich damit? Sind etwa jene zahllosen Agitatoren der Sozialdemokratie, die unter dem Sozialistengesetz ein Jahrtausend hinter den Gefängnismauern verbracht haben, die faulen Kerls, Sie nationalökonomischer Belletrist, der Sie sich Ihr Lebtag auf dem sicheren Boden der akademischen Hörsäle und bürgerlichen Salons bewegt haben!

Sind etwa unsere bescheidenen Redakteure der kleinen Provinzblätter und unsere Versammlungsredner, die sich mit unsäglicher Mühe aus ihrem proletarischen Dasein emporgearbeitet, sich jedes Körnchen Bildung in zähem Ringen angeeignet und sich durch eigene Arbeit zu Aposteln der großen Befreiungslehre gemacht haben, sind das jene „seichten, hirnlosen Schwätzer“, von denen Sie sprechen? Sie seichter Schwätzer, dem man von der Jugend an die abgestandenen Platitüden und Selbstverständlichkeiten der deutschen Nationalökonomie eintrichterte, um aus Ihnen, wenn Gott und die Weltpolitik hilft, einen ordentlichen Professor zu machen!

Sind unsere zahllosen und namenlosen Agitatoren, die, jeden Augenblick ihre und ihrer Familien Existenz aufs Spiel setzend, sich nicht die saure Arbeit verleiden lassen, immer und immer wieder in Versammlungen und Vereinen die Masse aufzurütteln und ihr hundert-, tausendmal das alte und ewig neue Wort des sozialistischen Evangeliums zu wiederholen, jene „Zerrbilder politischer Agitatoren“, die „papageienmäßig“ Phrasen aus der Parteiliteratur „nachplappern“ oder stiermäßig in die Menge hineinbrüllen, sind es diese? Sie lächerliches Zerrbild eines Lassalle, der Sie papageienmäßig die alte Litanei von Brentano nachplappern und die uralten Lehren von der Verderblichkeit der Sozialdemokratie in die Menge zwar nicht hineinbrüllen, aber, auf ihre Naivität und Gutmütigkeit bauend, hineinlispeln, hineinschmeicheln, hineinverleumden?

Nachdem der Herr Professor die Arbeiterschaft in ihren großen und kleinen Führern durch Tadel und Lob beschimpft hat, nimmt er von seinem Auditorium Abschied mit der Versicherung, es liege für die Arbeiterklasse kein Grund zur Mutlosigkeit vor, denn „auch die deutsche Wissenschaft“ stehe hinter ihr und ihren Bestrebungen.

Nun, die „deutsche Wissenschaft“, die gegen Marx und Engels Gift und Galle spritzte, gegen die Sozialdemokratie das Sozialistengesetz unterstützte, später die Arbeiterschaft für den Wassermilitarismus und die Weltpolitik einfangen wollte und sich dafür mit Orden dekorieren ließ, und zuletzt durch plumpe Demagogie das organisierte Proletariat von der Sozialdemokratie loszureißen versucht, diese „deutsche Wissenschaft“, Herr Professor Sombart, der Sie die Sozialdemokratie „zivilisieren“ wollen, steht nicht hinter der deutschen Arbeiterklasse, sie steht – hinter den deutschen Seebataillonen, die in diesem Augenblick in China landen [4], um die zivilisatorische Mission der Hunnen zu erfüllen.

Und steht sie „hinter“ der Arbeiterklasse, so höchstens in dem Sinne, daß die deutsche Arbeiterklasse dieser ordengeschmückten, apportdiensteleistenden, aufgeblasenen, wandlungsfähigen „deutschen Wissenschaft“ allerdings heute wie seit jeher mit gebührender Verachtung – den Rücken zuwendet.

Fußnote

1*. Werner Sombart, Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, Jena 1900.

2*. Die meisten Unterstreichungen in den Zitaten rühren von uns her.

3*. Siehe Sozialismus und soziale Bewegung, 3. Auflage, S. 46.


Anmerkungen

1. Karl Marx, Das Elend der Philosophie, in K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S. 180 u. 179/180.

2. Grundlage dieses Systems war die zwischen Unternehmern und Arbeitern getroffene Vereinbarung, daß die Höhe des Lohns von einem bestimmten Verhältnis zu den Veränderungen des Marktpreises der Produkte abhängig sei. Es ließ die Möglichkeit für Manipulationen gegen die Arbeiter offen und wurde deshalb von diesen abgelehnt.

3. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand an deutschen Universitäten eine bürgerlich-liberale Richtung in der Sozialpolitik, die versuchte, die Arbeiterklasse durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom revolutionären Klassenkampf abzuhalten. Der Kathedersozialismus bildete mit seinen sozialreformerischen und staatskapitalistischen Forderungen eine theoretische Grundlage des Revisionismus.

4. 1899 war in Nordchina der antiimperialistische Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. In einem Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Milliarden Mark Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.


Zuletzt aktualisiert am 29. Juni 2019