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Die Neue Zeit (Stuttgart), 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 105–110.
Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hlbd., S. 212–215.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der jähe Zusammenbruch der großen Aktion der belgischen Arbeiterschaft, auf die gespannte Blicke des gesamten internationalen Proletariats gerichtet waren, ist auch ein schwerer Schlag für die Arbeiterbewegung aller Länder. Zwecklos wäre es, uns mit den üblichen allgemeinen Redewendungen zu trösten, daß der Kampf nur hinausgeschoben, nicht aufgehoben ist, daß unsere Sache trotz alledem vorwärtsmarschiert, daß wir auch in Belgien wie sonst früher oder später siegen werden. Nicht der allgemeine Gang der Geschichte, der in letzter Linie uns in die Hände arbeitet, kommt bei der Beurteilung jeder einzelnen Episode des Klassenkampfes in Betracht. Er ist nur die einmal gegebene objektive Voraussetzung unserer Kämpfe wie unserer Siege. Was einzig in Betracht kommt, sind die subjektiven Momente, das bewußte Verhalten der kämpfenden Arbeiterschaft und ihrer Führer, das den klaren Zweck hat, uns den Sieg auf der kürzesten Linie zu sichern. Von diesem Standpunkt erscheint uns als die erste Aufgabe sofort nach der erlittenen Niederlage, uns möglichst klare Rechenschaft über ihre Ursachen abzulegen.
Was vor allem bei einem Rückblick auf die kurze Kampagne der letzten Wochen in die Augen springt, ist der Mangel einer klaren, konsequenten Taktik auf seiten unserer belgischen Führer.
Erst sehen wir sie den Kampf nur auf die Kammer beschränken. Trotzdem hier von Anfang an so gut wie gar keine Hoffnung auf eine Kapitulation der klerikalen Mehrheit vorlag, machte die sozialistische Fraktion keine Miene, den Generalstreik zu proklamieren. Dieser brach vielmehr aus dem souveränen Entschluß der ungeduldigen proletarischen Masse aus. Am 14. April schrieb der Brüsseler Peuple:
„Die Regierung ist, wie man sagt, entschlossen, auszuharren bis zum Äußersten, die Arbeiterklasse ist nicht minder auf alles gefaßt. Und deshalb gerade wurde soeben der Generalstreik im ganzen Lande proklamiert, nicht von politischen Organen der Partei, sondern von ihren ökonomischen Vertretern, nicht von seinen Abgeordneten, sondern von den Gewerkschaftsdelegierten. Es ist das organisierte Proletariat selbst, das soeben feierlich die Arbeit überall niederzulegen beschlossen hat, da es keine anderen Mittel sieht, um zu siegen.“
Und dasselbe konstatierte der Abgeordnete Demblon in der Kammer am 18. April:
„Wer wagte es, noch heute zu sagen, niemand sei in Agitation außer den Agitatoren selbst, angesichts der donnerartigen Explosion des Generalstreiks, die uns selbst ganz unerwartet kam?“ (Siehe den Parlamentsbericht des Peuple vom 19. April.)
Nachdem nun aber der Generalstreik einmal von selbst losgebrochen war, erklärten die sozialistischen Führer sofort ihre Solidarität mit den Arbeitermassen und die allgemeine Arbeitsruhe als das oberste Mittel des Kampfes. Generalstreik bis zum Siege – das wurde nun die von der sozialistischen Fraktion und dem Parteivorstand ausgegebene Losung. Tag für Tag feuerte der Peuple seit dem 15. April die Streikenden an, in ihrer Position auszuharren.
„Aus der Tiefe ihrer Seele“, schreibt er am 16., „hätten die Sozialisten es gewünscht, nicht dazu (zum Generalstreik) gedrängt zu werden, und der Osterkongreß [1] der Partei hatte auch nichts darüber beschlossen, indem er es den Umständen überließ, das richtige Kampfmittel zu bestimmen.“ Aber, führt das belgische Organ weiter aus, „der Generalstreik ist einzig imstande, uns schließlich und trotz alledem den Sieg zu sichern“.
„Es gibt“, hieß es im Peuple am 17., „in der Arbeiterklasse weder Ermüdung noch Entmutigung, wir schwören es in ihrem Namen. Wir kämpfen bis zum Siege.“
„Der Generalstreik“, ruft der Peuple am 18., „wird so lange dauern, als es nötig ist, um das allgemeine Wahlrecht zu erobern!“
Am gleichen Tage beschloß der Generalrat der Arbeiterpartei, nach der Ablehnung der Revision in der Kammer, den Generalstreik fortzusetzen.
Am 20. morgens rief noch das Brüsseler Zentralorgan:
„Die Fortsetzung des Generalstreiks, das ist die Rettung des allgemeinen Wahlrechtes!“
Und am gleichen Tage machten die sozialistische Fraktion und der Parteivorstand plötzlich kehrt um! und beschlossen, den Generalstreik einzustellen.
Die gleichen Schwankungen äußerten sich in bezug auf die andere Losung der Kampagne: die Auflösung des Parlamentes. Als am 15. April die Liberalen in der Kammer die Auflösung forderten, enthielten sich die Sozialisten jeder Einmischung, befürworteten also auch nicht die von der Bourgeoisie erwünschte Hinausschiebung des entscheidenden Momentes. Jetzt, direkt vor dem Entschluß, den Generalstreik aufzulösen, nehmen unsere Genossen plötzlich die Losung wieder auf, und der Peuple vom 20. empfiehlt den Arbeitern: „Erhebt überall einen gewaltigen Ruf nach Parlamentsauflösung!“ Und auch noch im Laufe der letzten Tage machte sich in diesem Punkte im Verhalten der Führer ein Sprung bemerkbar. Noch in der angeführten Nummer des Peuple, noch am 20. früh, wird der Generalstreik als das einzige Mittel hingestellt, die Kammerauflösung zu erzwingen. Am gleichen Tage beschloß aber der Parteivorstand, den Generalstreik einzustellen, und nun erscheint als der einzige Weg, die Auflösung des Parlamentes zu erreichen, die Einwirkung auf den König.
So durcheinander in Sprüngen, in Kreuzundquerzügen liefen während der jüngsten belgischen Kampagne die verschiedenen Losungen: die Obstruktion im Parlament, der Generalstreik, die Kammerauflösung, die Intervention des Königs, wobei keine dieser Losungen bis zu Ende durchgeführt und schließlich die ganze Kampagne, ohne jeden ersichtlichen Grund, mit einem Male erstickt und die Arbeitermassen mit verdutzten Gesichtern und leeren Händen nach Hause geschickt wurden.
War von der parlamentarischen Mehrheit die Annahme der Verfassungsrevision nicht zu erwarten, dann ist es unbegreiflich, warum man dem Generalstreik mit solchem Widerstreben und Zögern die Zustimmung gab. Und hatte man im Generalstreik das einzige Kampfmittel erkannt, dann ist es rätselhaft, warum er plötzlich, gerade wo er den richtigen Anlauf nahm, eingestellt wurde.
Konnte man von der Parlamentsauflösung und den Neuwahlen wirklich die Besiegung der Klerikalen erwarten, dann erscheint die Passivität unserer Abgeordneten unerklärlich, als der Antrag auf Parlamentsauflösung von den Liberalen gestellt wurde, und noch unerklärlicher ist die ganze jetzige Kampagne um die Verfassungsrevision, die doch sowieso bei den nächsten Wahlen tatsächlich erreicht werden konnte. Ist aber die Hoffnung auf die Neuwahlen unter dem heutigen Wahlsystem eitel, dann ist wiederum die heutige Begeisterung der Sozialisten für diese Losung unbegreiflich.
Alle diese Widersprüche erscheinen unlösbar, solange man die sozialistische Taktik in der belgischen Kampagne an und für sich analysiert, sie können hingegen sofort mit größter Einfachheit erklärt werden, sobald man das sozialistische Lager in seiner Verbindung mit dem liberalen betrachtet.
Die Liberalen hatten vor allem schon das Programm der Sozialisten im jüngsten Kampfe bestimmt. Auf ihr Geheiß hatte nämlich die Arbeiterpartei auf das Frauenstimmrecht verzichten, dafür die Proportionalwahl als Verfassungsklausel hinnehmen müssen.
Die Liberalen hatten ferner den Sozialisten auch die Mittel des Kampfes diktiert, indem sie gegen den Generalstreik vor dessen Ausbruch eiferten, indem sie ihm, nachdem er ausgebrochen war, die gesetzlichen Schranken aufnötigten, indem sie zuerst die Losung der Kammerauflösung ausgaben, den König als den höchsten Schiedsrichter anriefen, endlich zuerst entgegen dem Beschluß des sozialistischen Parteivorstandes vom 18. April am 19. in ihrer Parteisitzung die Einstellung des Generalstreiks beschlossen. Den sozialistischen Führern fiel nur als Aufgabe zu, jeweilig die von ihren Alliierten ausgegebene Parole der Arbeiterschaft zu übermitteln und zu dem liberalen Texte die nötige agitatorische Musik zu machen. Und schließlich auch den letzten liberalen Beschluß führten die Sozialisten gleich am anderen Tage, am 20., aus, indem sie ihre Truppen nach Hause schickten.
So erscheinen in der ganzen Kampagne die mit den Sozialisten alliierten Liberalen als die eigentlichen Führer, die Sozialisten nur als ihre gehorsamen Willensvollstrecker und die Arbeiterschaft als eine passive Masse, die vermittelst der Sozialisten von der Bourgeoisie an der Leine geschleppt wurde.
Aus ihrer Mittelstellung zwischen der zum Kampfe vorwärtsstürmenden Arbeitermasse und der sie mit allen Mitteln zurückhaltenden liberalen Bourgeoisie erklärt sich die widerspruchsvolle und zaghafte Haltung unserer belgischen Parteiführer.
Aber aus der führenden Stellung der Liberalen erklärt sich nicht nur der schwankende Charakter, sondern auch die schließliche Niederlage der Kampagne.
In dem bisherigen Kampfe um das allgemeine Wahlrecht, seit 1886, bediente sich die belgische Arbeiterklasse des Massenstreiks als des wirksamsten politischen Mittels. Ihm verdankte sie im Jahre 1891 die erste Kapitulation der Regierung und des Parlamentes: die Eröffnung der Verfassungsrevision; ihm verdankte sie im Jahre 1893 die zweite Kapitulation der herrschenden Partei: das allgemeine Wahlrecht mit dem Pluralvotum.
Es ist klar, daß auch diesmal nur der Druck der Arbeitermassen aufs Parlament und die Regierung ein greifbares Resultat erzwingen konnte. Wenn die Verteidigung der Klerikalen schon in den neunziger Jahren, wo es sich erst um den Anfang der Konzessionen handelte, eine verzweifelte war, so mußte sie jetzt, wo es den Rest, die parlamentarische Herrschaft selbst auszuliefern galt, aller Voraussicht nach auf Tod und Leben gehen. Mit donnernden Kammerreden war da offenbar nichts zu erreichen. Nur der höchste Druck der Massen vermochte den höchsten Widerstand der Regierung zu besiegen.
Angesichts dessen erscheint schon von vornherein das Zaudern der Sozialisten in der Proklamierung des Generalstreiks, die offenbar stille Hoffnung, zum mindesten der Wunsch, doch noch ohne den Massenstreik zu siegen, als das erste betrübende Zeichen der auf unsere Genossen abfärbenden liberalen Politik, die bekanntlich seit jeher alle Jerichomauern der Reaktion durch die Trompetenstöße der parlamentarischen Schönrednerei zu Falle zu bringen hofft.
Aber auch die Anwendung der Massenstreiks in Belgien ist in der eigenartigen politischen Lage ein ganz bestimmtes Problem. Der Streik wendet sich nämlich in seiner unmittelbaren ökonomischen Wirkung zunächst gegen die industrielle und kommerzielle Bourgeoisie und nur zum geringeren Teile gegen den eigentlichen Feind, die klerikale Partei. Die politische Wirkung des Massenstreiks im gegenwärtigen Kampfe mit den herrschenden Klerikalen kann also vor allem eine mittelbare sein, und zwar durch den Druck, den die vom Generalstreik bedrückte liberale Bourgeoisie auf die klerikale Regierung und die Parlamentsmehrheit ausübt. Ferner aber übt der Generalstreik auch unmittelbar eine politische Pression auf die Klerikalen aus, indem er ihnen als der Vorbote, als das erste Stadium einer heraufziehenden regelrechten Straßenrevolution erscheint. Die politische Bedeutung der ruhig streikenden Arbeitermassen lag in Belgien seit jeher und liegt heute noch darin, daß sie im Falle der hartnäckigen Weigerung seitens der Parlamentsmehrheit eventuell bereit und fähig sind, durch Unruhen, durch Straßenrevolten die herrschende Partei niederzuzwingen.
Durch ihre Kompromißallianz mit den Liberalen haben unsere belgischen Genossen dem Generalstreik in beiden Punkten die politische Wirkung genommen.
Indem sie von vornherein auf das Drängen der Liberalen dem Kampfe gesetzliche Schranken und Formen aufoktroyiert und jede Manifestation, jede Regung der Masse verboten haben, verpufften sie die latente politische Kraft des Generalstreiks in die Luft. Einen Massenausstand, der auf jeden Fall nichts als ruhiger Ausstand bleiben wollte, brauchten die Klerikalen als solchen nicht zu fürchten. Ein Generalstreik, im voraus in die Fesseln der Legalität geschmiedet, gleicht einer Kriegsdemonstration mit Kanonen, deren Ladung vorher vor dem Angesicht des Feindes ins Wasser geworfen wurde. Vor einem Drohen „mit den Fäusten in der Tasche“, wie der Peuple in allem Ernste den Streikenden riet, erschreckt nicht einmal ein Kind, geschweige eine um den Rest ihrer politischen Herrschaft auf Tod und Leben ringende Klasse. Deshalb gerade genügte 1891, 1893 die bloße ruhige Arbeitsfeier des belgischen Proletariats, um den Widerstand der Klerikalen zu brechen, weil sie den Umschlag der Ruhe in Unruhe, des Streiks in Revolution befürchten konnten. Deshalb hätte es auch diesmal vielleicht des Gebrauchs der Gewalt seitens der Arbeiterschaft gar nicht bedurft, wenn die Führer nur im voraus die Waffe nicht entladen, den Kriegsmarsch nicht zur Sonntagsparade, den Donner des Generalstreiks nicht zum leeren Schreckschuß gemacht hätten.
Zweitens aber hat die liberale Allianz auch die andere, die mittelbare Wirkung des Massenstreiks vernichtet. Der Druck des Arbeitsausstandes auf die Bourgeoisie hat nur dann politische Bedeutung, wenn sie gezwungen ist, ihn weiter auf ihre politischen Vordermänner, auf die herrschenden Klerikalen abzuwälzen. Dies ist jedoch nur der Fall, wenn sie das Proletariat wie eine ungestüme Jagd im Rücken fühlt, deren Verfolgungen sie sich nicht zu entwinden vermag.
Die bezeichnete Wirkung geht hingegen sofort verloren, wenn die Bourgeoisie in der bequemen Lage ist, statt den empfangenen Druck weiter auf die klerikalen Vordermänner zu leiten, vielmehr auf ihre proletarischen Hintermänner zurückzugreifen und sich des lästigen Druckes durch ein Achselzucken zu entledigen. In dieser Lage war aber gerade die belgische Bourgeoisie in der jüngsten Kampagne, da sie dank der Allianz die Bewegungen der Arbeiterkolonnen bestimmen und nötigenfalls den Generalstreik abkommandieren konnte. So geschah denn auch, und sobald der Streik anfing, der Bourgeoisie im Ernste beschwerlich zu werden, erging das Kommando: Die Arbeit wird wiederaufgenommen! und mit allem „Drucke“ des Generalstreiks war es aus.
So erscheint die schließliche Niederlage als eine unausbleibliche Folge der eigenen Taktik unserer belgischen Genossen. Ihre parlamentarische Aktion blieb wirkungslos, weil hinter ihr der Druck des Generalstreiks ausblieb. Und der Generalstreik blieb wirkungslos, weil hinter ihm die freie Entfaltung der Volksbewegung, das Gespenst der Revolution nicht drohte.
Mit einem Worte: Die außerparlamentarische Aktion wurde der parlamentarischen aufgeopfert, aber dadurch gerade wurden beide zur Unfruchtbarkeit und der ganze Kampf zum Fiasko verurteilt.
Die soeben abgeschlossene Episode des Kampfes um das allgemeine Wahlrecht ist ein Wendepunkt in der belgischen Arbeiterbewegung. Zum ersten Male in Belgien trat hier die sozialistische Partei, durch einen formellen Kompromiß an die liberale Partei gebunden, in den Kampf, und sie erwies sich, ganz wie die ministerialistische Fraktion des französischen Sozialismus durch ihre Allianz mit dem Radikalismus, in der Lage des gefesselten Prometheus. Wir stehen nicht an zu sagen: Die Zukunft des allgemeinen Wahl- rechts in Belgien wie der Arbeiterbewegung überhaupt hängt davon ab, ob sich unsere Genossen von den erstickenden Umarmungen des Liberalismus zu befreien verstehen. Aber auch für das internationale Proletariat ist das jüngste Experiment der belgischen Sozialisten ernster Lehren voll. Ist es doch wieder nichts anderes als eine Wirkung desselben lauen, entnervenden Samums des Opportunismus, der seit einigen Jahren über die Lande weht, was sich in der verhängnisvollen Allianz unserer belgischen Freunde mit der liberalen Bourgeoisie äußert.
Gerade die soeben in Belgien erlebte Enttäuschung sollte allerorts als eine Warnung dienen vor einer Politik, die in einem Lande nach dem anderen zu schweren Niederlagen und schließlich zur Lockerung jener Disziplin und jenes unbegrenzten Vertrauens der Arbeitermassen zu uns Sozialisten führen würde, ohne die wir nichts sind, die wir aber durch parlamentarische Illusionen und opportunistische Experimente eines Tages doch noch verlieren können.
1. Der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei, der am 30. und 31. März 1902 durchgeführt worden war, hatte gefordert, das allgemeine und gleiche Stimmrecht nach dem Grundsatz, ein Mann, eine Stimme, einzuführen und den Grundsatz ds Proportionalwahlsystems in die Verfassung aufzunehmen. Das Frauenwahlrecht war verworfen worden.
Zuletzt aktualisiert am 12.1.2012