Rosa Luxemburg


Die zwei Methoden der Gewerkschaftspolitik

(Oktober 1906)


Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/1907, 1. Bd., Nr. 4, 24. Oktober 1906, S. 134–137.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 182–187.
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Die neue Tarifvereinbarung des Buchdruckerverbandes [1*] scheint äußerlich in gar keinem Zusammenhang mit den Verhandlungen des Mannheimer Parteitages [2*] zu stehen, ist ihm aber als ein denkbar drastischer Kommentar auf dem Fuße gefolgt. Die Gewerkschaft der Buchdrucker gilt ja seit langer Zeit in Deutschland als ein Musterbeispiel der Macht und der Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet, die eine proletarische Organisation erreichen könne, wenn sie nur auf dem „positiven Boden“ der ausschließlichen Gegenwartsinteressen der Arbeiter stehe und allen „revolutionsromantischen“ Lockungen sorgfältig das Gehör verschließe. Der deutsche Buchdruckerverband ist auch in seiner ganzen Geschichte – von der Anerkennung jener bewußten Klausel, die ihm unter dem Sozialistengesetz von der Reaktion aufoktroyiert ward [3*], bis zu der jüngsten Tarifabmachung – die klassische Verkörperung jener Methode der Gewerkschaftspolitik, die Ruhe dem Kampf, Abmachung mit dem Kapital dem Konflikt, politische Neutralität einer offenen Bekennung zur sozialdemokratischen Partei vorzieht und voller Verachtung für revolutionäre „Schwärmerei“ ihr Ideal in dem englischen Typus der Trade-Unions erblickt. Es währte lange, bis sich die Früchte einer solchen Politik auch für das blödeste Auge sinnenfällig gezeigt haben. Jahrzehntelang schienen der glänzende Kassenstand, die gesicherten Existenzbedingungen, die verhältnismäßig günstigen Arbeitsbedingungen sowie die lang dauernde Ruhe im Gewerbe der Methode der Buchdrucker das beste Zeugnis zu geben. Heute erscheint, in der neuen Tarifvereinbarung, mit einem Male die ganze Herrlichkeit zertrümmert. Statt außerordentliche wirtschaftliche Erfolge zu erreichen, haben sich die Buchdrucker bei all ihrer Zähigkeit, Ausdauer, Besonnenheit, Mäßigung, bei all dem glänzenden Stande der Organisation und der Kassen schließlich so unwürdige Bedingungen vom Kapital diktieren lassen, daß ein allgemeiner Entrüstungssturm durch die Reihen der sonst so kaltblütigen Gesellenschaft geht. Will man aber das Fiasko der, sagen wir, englischen Methode der Gewerkschafispolitik in seiner wirklichen Tragweite richtig einschätzen, so muß man die neueste Tarifvereinbarung der deutschen Buchdrucker mit den jüngsten Errungenschaften der – russischen Buchdrucker vergleichen, die Früchte der jahrzehntelangen friedlichen Organisationsarbeit mit den Ergebnissen eines einzigen Jahres des Revolutionssturmes.

Die Gewerkschhaft der Buchdrucker in Rußland ist ebenso jungen Datums wie die meisten russischen Gewerkschaften. Die denkwürdige Erhebung des Petersburger Proletariats am 22. Januar 1905 und die darauffolgende Serie gewaltiger Massenstreiks, die sämtliche Industriestädte und in jeder Stadt sämtliche Gewerbe ergriffen hatten, gab den Anstoß zu einem fieberhaften gewerkschaftlichen Kampfe auf allen Gebieten und im Zusammenhang damit auch zum gewerkschaftlichen Zusammenschluß, zur Gründung und zum Ausbau der Gewerkschaften. Mitten im politischen Kampfe, mitten unter Straßenschlachten, unter einem unaufhörlichen Platzregen von Verhaftungen, Gefängnisstrafen, Prozessen, Maßregelungen, mitten unter einer furchtbaren Arbeitslosigkeit und bei häufigen Schlächtereien seitens der Soldateska ging und geht der Ausbau der Gewerkschaften vor sich. In Petersburg trat die Gewerkschaft der Buchdrucker am 2. Juli 1905, in Moskau am 31. Oktober, in anderen Städten meistens im Sommer und im Herbst des gleichen Jahres ins Leben. Die Gewerkschaft trug, wie alle anderen in Rußland, den Stempel ihrer revolutionären Herkunft deutlich an der Stirne. In ihrem ganzen Wesen und in ihrer Tätigkeit blieb sie ihrer engen geistigen Verwandtschaft mit der Revolution und ihren politischen Aufgaben, der Sozialdemokratie und dem allgemeinen proletarischen Klassencharakter treu. In Moskau war der Generalstreik der Buchdrucker im Oktober 1905 der Ausgangspunkt jenes allgemeinen gewaltigen Massenstreiks, der von Moskau aus über das ganze Zarenreich ging, die Bulyginsche Dumakomödie [4*] weggeschwemmt und das Zarenmanifest vom 30. Oktober [5*] erzwungen hat. In Petersburg war es die Buchdruckergewerkschaft alsdann, die auf ihren Schultern die eigentlichen Kosten der Durchführung der Preßfreiheit trug, als es nach dem Oktober-Manifest galt, die auf dem Papier zugesagten Verfassungsfreiheiten gewaltsam, auf revolutionärem Wege ins Leben durchzusetzen. Es war eigentlich der Buchdruckerverband, der im Zarenreich die Zensur aus eigener Machtvollkommenheit in der Praxis abgeschafft und sich damit ein unsterbliches Blatt in der Geschichte der Revolution erworben hat. Auch abgesehen davon war und ist die Buchdruckergewerkschaft auf Schritt und Tritt der allgemeinen Aufgaben und Interessen der Revolution und des Proletariats als Klasse eingedenk und stellt sie stets den engeren Interessen ihres Gewerbes voran. So haben die Buchdrucker durch den Boykott reaktionärer Blätter, unter Gefährdung der eigenen materiellen Lage, mehrmals in wirkungsvoller Weise in die politischen Kämpfe eingegriffen. Und jede allgemeine politische Erhebung des Proletariats, jeder revolutionäre und demonstrative Massenstreik wurde von den Buchdruckern in entschlossener Weise durch allgemeine und lokale Generalstreiks unterstützt. Die Buchdrucker in Rußland wurden auch gleich anderen tätigen Proletariern und noch mehr gemaßregelt, eingesperrt, manche fielen als Opfer des Straßenkampfes.

Die gewerkschaftliche Politik der russischen Buchdrucker stellt also so ziemlich das direkte Gegenteil derjenigen des deutschen Verbandes dar. Jene ist genauso ein klassisches Stück der verwegensten „Revolutionsromantik“, wie diese ein Typus der englischen sozialen Friedensschwärmerei ist. Wie steht es nun um die wirtschaftlichen Interessen, um die rein gewerkschaftlichen Errungenschaften der revolutionsromantischen russischen Buchdrucker? Bereits im Sommer und im Herbste des Jahres 1905, nach einem halben Jahre stürmischer gewerkschaftlicher Kämpfe, errangen die Buchdrucker einen allgemeinen neunstündigen Arbeitstag – an Stelle des früher üblichen zwölf-, ja dreizehnstündigen Arbeitstages. Allein damit nicht zufrieden, setzten sie den Kampf unter der sozialdemokratischen Programmparole fort und kämpften um den Achtstundentag. Bereits in mehreren Fällen ist ihnen voller Sieg geworden. Und zwar nicht bloß ohne materielle Verluste an Lohnbedingungen, sondern umgekehrt, unter gleichzeitigen starken Lohnerhöhungen. Greifen wir nur einige Beispiele heraus. In der Stadt Samara haben die Buchdrucker in sämtlichen Privatdruckereien den Achtstundentag durchgesetzt, zugleich damit die Abschaffung der Geldstrafen, eine bedeutende Erhöhung der Stücklöhne, Verbesserung der Arbeitsräume, regelmäßige Lohnauszahlung, Zusicherung der Hälfte des üblichen Lohnes im Krankheitsfall bis zur Dauer von vier Monaten, endlich volle Lohnauszahlung für die Streiktage, die zu dieser Abmachung geführt hatten. In der Stadt Orel errangen die Buchdrucker den Achtstundentag, einen Lohnzuschlag von 20 Prozent, Erhöhung der Akkordlöhne um 100 Prozent und die Schaffung eines paritätischen Einigungsamtes. In Odessa im Mai/Juni 1906 setzten die Buchdrucker nach einem Generalstreik den Achtstundentag durch, daneben Lohnerhöhungen von 10 bis 40 Prozent und Abschaffung der Überstunden. In Jekaterinoslaw beschloß die Gewerkschaft der Buchdrucker außer dem Achtstundentag als die nächste Aufgabe der Lohnkämpfe die völlige Neuorganisierung der ärztlichen Hilfe für die Gesellen, und zwar so, daß die Verwaltung der Krankenkassen ausschließlich den Arbeitern zugesichert, die Kosten aber ausschließlich dem Unternehmertum auf erlegt werden. Im Sommer des laufenden Jahres war in den meisten Städten des Zarenreiches von dem Buchdruckerverband ein neuer kräftiger Vorstoß gemacht worden, um auf dem Wege der Generalstreiks den Achtstundentag und daneben speziell die Sonntagsruhe auch in den Zeitungsdruckereien durchzusetzen. Die meisten dieser Generalstreiks verliefen ganz oder teilweise siegreich, so daß heute die Sonntagsruhe im Gewerbe so ziemlich vorherrschend und der Achtstundentag zweifellos auf seinem Triumphzug begriffen ist.

Nicht genug damit. Eines der Hauptziele der gewerkschaftlichen Kämpfe im Buchdruckergewerbe wie auf allen anderen Gebieten in Rußland ist die Anerkennung der Arbeitervertretung in jeder Werkstatt, der Fabrikausschüsse, durch die der Hausherrnstandpunkt des Unternehmertums gebrochen wird. Die hartnäckigsten und opferreichsten Kämpfe sind – außer um den Achtstundentag – um die Anerkennung dieser Arbeiterdelegierten geführt worden. Und auch darin sind die russischen Buchdrucker in den meisten Fällen siegreich geblieben. Um nur eine Probe anzuführen, wollen wir einige Auszüge aus der Tarifvereinbarung der Moskauer Buchdrucker mit dem Unternehmertum zitieren:

„1. Die Frage darüber, wie die Fabrik zur Wahl der Arbeitervertreter eingeteilt werden soll, wird in der allgemeinen Fabrikversammlung der Arbeiter entschieden. Die allgemeine Versammlung zu diesem Zweck wird auf Wunsch eines Zehntels der beschäftigten Arbeiter einberufen und in Abwesenheit der Fabrikleitung unter einem frei gewählten Vorsitzenden abgehalten.

3. Jede Fabrikabteilung wählt ihre Vertreter, einen für 50 Arbeiter (oder einen Bruchteil davon).

4. Zur aktiven und passiven Teilnahme an den Delegiertenwahlen sind berechtigt alle Arbeiter ohne Unterschied des Geschlechts und der Beschäftigungsdauer vom achtzehnten Lebensjahr an.

8. Die Fabrikleitung hat kein Recht, die gewählten Arbeitervertreter vor dem Ablauf ihrer Amtsdauer (ein Jahr) zu entlassen. Im Falle die Fabrikleitung die Absicht hat, einen Delegierten gleich nach Ablauf seiner Amtsdauer zu entlassen, ist sie verpflichtet, darüber einen Monat vorher der Gesamtheit der Arbeiter Mitteilung zu machen.

9. Die Arbeitervertreter müssen gegen Lohn beschäftigt werden; es steht ihnen frei, von der allgemeinen Arbeitsordnung abzugehen, falls ihre Amtstätigkeit dies erforderlich macht, wofür die Fabrikleitung keine Lohnabzüge machen darf.

10. Die Arbeitervertreter besorgen alle Beziehungen zwischen den Arbeitern und der Fabrikleitung außer in denjenigen Fällen, wo die Vertreter es der Fabrikleitung gestatten, direkt mit der Arbeiterschaft zu verkehren.

11. Die Arbeitervertreter in ihrer Gesamtheit entscheiden die Frage über die Anstellung und Entlassung jedes Arbeiters, nachdem die Fabrikleitung ihnen den Sachverhalt vorgelegt hat. Wenn die Unternehmer mit dem Entscheid der Vertreterkommission unzufrieden sind, können sie an die Generalversammlung der Fabrikarbeiter appellieren.

12. Die Arbeitervertreter bestimmen die Höchstzahl der zulässigen Lehrlinge für jede Abteilung und für die ganze Fabrik.

13. Die Arbeitervertreter überwachen die strikte beiderseitige Einhaltung der letzten Vereinbarung zwischen Arbeitern und der Fabrikleitung.

16. Die Arbeiter sind verpflichtet, ihre Vertreter mit aller Macht zu unterstützen. Im Falle einer Maßregelung müssen sie für dieselben durch Geldunterstützung, Streik, Boykott usw. eintreten.

19. Die Arbeiterdelegierten funktionieren als Vertreter der Fabrik in Beziehung zu anderen Arbeiterorganisationen, sind verpflichtet, mit diesen in engster Fühlung zu bleiben und die Gesamtheit der Arbeiter ihrer Fabrik über den Stand des Arbeiterkampfes in den übrigen Unternehmungen zu informieren.“

Dieses Dokument trägt die Unterschrift der „Moskauer Gewerkschaft der Buchdrucker“. Und nachdem man einen Blick auf dieses Dokument geworfen hat und dann die früher erwähnten Errungenschaften der russischen Buchdrucker in Betracht zieht, ist vielleicht die Frage erlaubt: Wer hat eine größere „wirtschaftliche Macht“ erreicht: die Sturmkolonne der russischen „Revolutionsromantiker“ oder der deutsche Heerbann der Rexhäuserschen Fahne des sozialen Friedens [6*]?

Revolutionen und Revolutionskämpfe lassen sich freilich nicht durch „guten Willen“ künstlich in ein Land verpflanzen. Aber die Beispiele und Lehren eines revolutionären Nachbarlandes können doch wenigstens den Glauben an die alleinseligmachende Methode der Leisetreterei erschüttern. Und das sollen sie!

Anmerkungen

1*. Der Tarifausschuß im Buchdruckergewerbe hatte in Verhandlungen vom 24. September bis 2. Oktober 1906 einen neuen Tarifvertrag vereinbart, der nur eine Lohnerhöhung von 10 Prozent vorsah, die der allgemeinen Preissteigerung der Lebenshaltungskosten nicht entsprach, und durch den die Arbeitszeit nur um eine halbe Stunde pro Woche verkürzt wurde. Gleichzeitig war zwischen dem Buchdrucker-Verein der Unternehmer und dem Verband der Deutschen Buchdrucker ein Organisationsvertrag abgeschlossen worden, in dem u. a. im Interesse der Unternehmer eine Kündigungsfrist zur „Vermeidung plötzlicher Arbeitsniederlegungen“ vorgesehen war.

2*. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Mannheim fand vom 23. bis 29. September statt.

3*. Um den Fortbestand des deutschen Buchdruckerverbandes während des Sozialistengesetzes zu sichern, wurde der Verband in einen Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker verwandelt und weitgehend auf eine konsequente Klassenpolitik verzichtet.

4*. Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister A.G. Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden.

5*. Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

6*. Der Redakteur Ludwig Rexhäuser vertrat im Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer, dem Organ des Verbandes der Deutschen Buchdrucker, die opportunistische Politik der Versöhnung mit dem kapitalistischen System und des Verzichts auf den Massenkampf.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juli 2019